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Vittorio Hoesle: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart

Ein Buch über die tiefe Spaltung der westlichen Gesellschaft und das mögliche Scheitern der liberalen Demokratie hat der in den USA lebende Philosoph Vittorio Hösle vorgelegt.

Nein, es geht nicht um Trump, aber ein Symptom ist er dann doch, und so drehen sich die Überlegungen Vittorio Hösles auch um diesen Herrn wie um seine Geistesverwandten in Brasilien, auf den Philippinen und noch woanders.
Wie konnten alle diese Leute gewählt werden? Wie konnte es dazu kommen, dass zwei Lager einander unversöhnlich gegenüberstehen? Warum ist es möglich, dass die Demokratie aus ihrem Inneren heraus gefährdet wird?

Hösle, der vor Jahrzehnten als die große Hoffnung der deutschen Philosophie gehandelt wurde, ist seit langen Jahren Professor an einer katholischen Universität in der Nähe Chicagos. Als Europäer in den USA und dazu als ein vielsprachiger, hochgebildeter Hochschullehrer mit dem Schwerpunkt Philosophie der Politik ist er zweifellos der richtige Mann, die Vorgänge der letzten dreißig Jahre (also seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem Ende des Kalten Krieges) nachzuzeichnen und auszudeuten. Schließlich sieht er selbst ein 1300 Seiten starkes Buch namens „Moral und Politik“ als sein Hauptwerk an.

Vittorio Hoesle: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart COVERBereits im Titel des jetzigen, mit seinen 224 Seiten vergleichsweise schmalen Buches betont er den Vorgang der Spaltung, der nicht allein die amerikanische Gesellschaft auszeichne, und erhebt im Untertitel – „eine geschichtsphilosophische Kartierung“ – einen Anspruch, über dessen Berechtigung diskutiert werden sollte. Argumentiert Hösle tatsächlich als ein Philosoph, oder ist er nur ein besonders gebildeter und außergewöhnlich gut informierter Beobachter? Und: Lässt sich mit Philosophie wirklich die heutige Situation verstehen?

Eigentlich ist die erste Hälfte des Buches ein einziger großer Leitartikel mit Fußnoten, der sich in seinen Aussagen nicht wesentlich von Meinungsartikeln in den großen liberalen Tages- oder Wochenzeitungen unterscheidet. Allerdings argumentiert Hösle viel klarer und geordneter als die meisten Journalisten und belegt zusätzlich jedes Argument mit Zahlen und Quellen. Aber trotzdem handelt es sich keineswegs um Philosophie, sondern um einen politischen Kommentar, dessen Autor nur einen viel größeren Horizont hat als der Durchschnittskolumnist und so auch schon einmal auf den griechischen Historiker Thukydikes anspielt. Auch ist seine Prosa angenehm zu lesen.

Erst im zweiten Teil spürt man zumindest an einigen Stellen, dass sich ein Philosoph zu Wort meldet, der grundsätzliche Unterscheidungen trifft und sich gelegentlich auch mit Geschichtsphilosophien auseinandersetzt. Einer, dessen sonst fast überall bekrittelten Werk er Gerechtigkeit widerfahren lässt, ist Oswald Spengler. Den „Untergang des Abendlandes“ stellt Hösle keineswegs unkritisch, aber doch viel differenzierter dar, als es sonst geschieht. Es geht dabei um die Frage, ob es historische Zyklen gibt, ob man ganze Epochen und Kulturen biologistisch ausdeuten und sie mit dem Leben eines Organismus vergleichen darf – eines Organismus, der ja irgendwann unweigerlich zu Grunde gehen wird. Hösle findet diesen Vergleich abwegig, aber verwirft Spengler nicht total:

„Und dennoch sind einzelne Parallelen, die Spengler in der Entwicklung der Hochkulturen aufdeckt, durchaus verblüffend; und seine Analyse der allgemeinen Züge der Verfallsepochen von Kulturen ist dann überzeugend, wenn man sie abkoppelt von der These der unausweichlichen Notwendigkeit dieses Verfalls.“ Besonders wichtig findet Hösle den Hinweis auf den „Cäsarismus“ (natürlich in Bezug auf Hitler – Spengler hatte die beiden Bände seines Werkes 1918 und 1922 veröffentlicht). Mit Blick auf die heutige Situation weist Hösle auf die Bedeutung hin, die Spengler der Zeitung zugesprochen hat. Hösle spricht in einem heutigen Vokabular lieber von „Medien“ (ein grundsätzlich unpassender Begriff, finde ich), die dadurch, dass sie das Publikum mit ihren Banalitäten bombardieren, dessen Aufmerksamkeitsspanne zerstören und es verhindern, dass es sich den wirklichen Problemen zuwendet.

Ein Thema, das der Autor nicht einmal andeutet, ist die Rolle der katastrophalen Wirtschaftskrisen der letzten zehn, fünfzehn Jahre. Schon der Zusammenbruch des Bretton-Woods-Systems 1973, also die Aufgabe der festen Wechselkurse und in der Folge die Herrschaft des Monetarismus im Zeichen eines gewissen Milton Friedman, spielt keine Rolle. Die Wirtschaftskrisen der letzten zehn, fünfzehn Jahre werden von Hösle nicht einmal angedeutet – es ist, als hätte es sie nicht gegeben. Haben sie wirklich nicht zur Radikalisierung der Wählerschaft beigetragen?

Hösle ist ein entschiedener Demokrat, und einer wie er muss seine Probleme damit haben, dass Trump in den USA, Bolsonaro in Brasilien oder Duterte auf den Philippinen gewählte Politiker sind, nicht etwa Usurpatoren und Putschisten; und wenn sie nicht von einer Mehrheit getragen werden, dann steht doch zumindest eine sehr starke Minderheit hinter ihnen. Was also in Frage steht – in den genannten Ländern, aber auch in Europa, nicht zuletzt in Deutschland –, ist die Demokratie. Hat man Grund, am Konzept der Demokratie zu zweifeln? Hösle selbst schreibt, dass „illiberale Demokratien viel gefährlicher sind als nicht-demokratische liberale Staaten.“ Unter Liberalismus versteht Hösle, dass jedem Staatsbürger, oft sogar jedem Menschen gewisse unveräußerliche Rechte zugesprochen werden. Eben dies ist heute leider keineswegs mehr selbstverständlich, auch nicht in Demokratien.

Die Person des amerikanischen Präsidenten, schreibt Hösle, „ist nicht wichtig. Das, was allein das Studium dieses Phänomens rechtfertigt, ist, daß es symptomatisch ist und daß sich die westlichen Demokratien besser auf den Aufstieg weiterer Politiker einstellen, die in Desorientierung und Haß ihren Nährboden haben und gleichzeitig viel gewaltbereiter sein werden als Trump.“

Was kommt noch auf uns zu? Wenn in Russland oder China die Menschenrechte mit Füßen getreten werden, ohne dass die Bevölkerung sich dagegen auflehnt, kann man darauf verweisen, dass die Menschen dort noch keine Gelegenheit hatten, sich zu Demokraten zu bilden – aber, das ist die Hoffnung, wenn erst einige Zeit vergeht, wenn es auch dort eine kritische Presse gibt und vernünftigen Geschichtsunterricht, dann wird (oder muss…) es zu einer Bevölkerung aus mündigen Bürgern kommen.

Aber was macht man mit alten Demokratien, die sich gegen den Liberalismus wenden (um die Terminologie Hösles zu gebrauchen)? Warum finden sich in ihnen diese illiberalen Tendenzen? Kann politische Bildung allein wirklich helfen? Das Schlimme ist ja, dass sehr oft gebildete, nicht selten sogar hochgebildete Menschen sich gegen Demokratie und Menschenrechte wenden – die deutsche Geschichte kennt abschreckende Beispiele genug. Und wenn man sich heute umhört, wenn man Kommentare im Internet liest – und ich meine damit die Kommentarspalten in den Onlineauftritten unserer großen Zeitungen, die sich an das Bildungsbürgertum wenden – dann kann einem nicht nur gelegentlich das Blut in den Adern gefrieren. Was also soll man tun, um sich davor zu schützen?

Philosophisch in einem engeren Sinne argumentiert Hösle kaum. Zum Beispiel diskutiert er die Möglichkeiten, mit der ungeheuerlichen Zahl der Flüchtlinge und dem tausendfachen Tod auf hoher See umzugehen, und schlägt eine dreigliedrige Strategie vor, die mit Entwicklungshilfe beginnt, mit einer europäischen Einwanderungspolitik fortgesetzt wird und schließlich in der Forderung gipfelt, jenen Menschen zu helfen, die vor Lebensgefahr fliehen. Alles vernünftige Forderungen – aber was ist daran philosophisch? Hösle als ein umfassend gebildeter und auch völkerrechtlich nicht ganz unbeschlagener Autor weist dann auf verschiedene Abkommen wie die Genfer Flüchtlingskonvention hin, und überhaupt argumentiert er zurückhaltend, sachlich und nachvollziehbar. Schräge Thesen sind hier wie auch sonst nicht seine Sache, aber erstens macht das die Lektüre nicht eben spannender, und zweitens kennt man seine Überlegungen aus anderen Zusammenhängen und von anderen Leuten. Eigentlich ist Hösles Buch nichts anderes als Journalismus auf hohem Niveau und noch mit Fußnoten dazu.

Mit der Unterscheidung von liberaler und illiberaler Demokratie vermeidet Hösle es, grundsätzlich über das demokratische Konzept nachzudenken, also über die Gefahren, die in der Demokratie selbst lauern. Ganz offensichtlich bedarf sie einer Beschränkung, wie sie auch das Grundgesetz kennt (manche Artikel dürfen mit keiner noch so großen Mehrheit geändert werden), aber dass die Gefahr an der Demokratie diese selbst ist, zu dieser Konsequenz mag sich Hösle nicht durchzuringen.

Es ist kein schlechtes Buch, aber so richtig glücklich geworden bin ich nicht mit ihm.

Vittorio Hösle: Globale Fliehkräfte. Eine geschichtsphilosophische Kartierung der Gegenwart.

Mit einem Geleitwort von Horst Köhler.
Alber Verlag 2019
ISBN: 978-3495491119

Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Header: Skyline – Foto: Mystic Art Design
Buchumschlag

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