Musik

Computermusik am Rand der Metropolregion: Ein Portrait des Elektroakustik-Komponisten aus dem Wendland.

„Die Technik hilft, im Augenblick zu verharren – und das ist ja eines der Kernthemen der Romantik.“ Der Romantik eines Franz Schubert etwa, dessen B-Dur Klaviersonate (D 960) für Clemens von Reusner in den vergangenen Monaten ein permanenter Begleiter war. Der Komponist elektroakustischer Musik aus dem Landkreis Lüchow-Dannenberg arbeitet an einer Auftragskomposition, die sich an dieses Klavierstück „anlehnt“, wie es von Reusner formuliert.

 

Die Uraufführung soll im August sein. Schubert, sagt der Komponist, Schubert habe Musik geschaffen, die regelmäßig „eine Tür aufmacht. Schubert geht immer wieder neue Wege, nicht alle geht er zu Ende.“

Doch Romantik ist nicht unbedingt das Erste, das jemandem in den Sinn kommt, wenn es um elektroakustische Musik geht. Ihre Welt ist die Musik per Computer, ganz grob gesagt. Sie ist Musik, die am Rechner entsteht, die geprägt ist von einem tendenziell unendlichen Potenzial der Differenzierung des Klanges und aller seiner Parameter. Ein Klangpotenzial, das wohl viel größer ist als das, was traditionelle Instrumente möglich machen. Aber trotz der neuen Technik ist die neue Welt der elektroakustischen eng verwandt mit derjenigen der alten, der traditionellen Musikkunst.

 

Clemens von Reusner 04 HO COVERClemens von Reusner ist in der neuen Welt zu Hause. Mit ihren Mitteln möchte der Komponist „eine Art unbedingter und autonomer akustischer Gegenwelt“ schaffen, wie er es in einem programmatischen Referat formuliert hat. Alle Kunst öffne, wie er es im Gespräch ausdrückt, „eine Gegenwelt im Sinne von: Das ist auch möglich“. Technik, sagt er in diesem Kontext, sei also „kein Selbstzweck, sondern steht im Dienst von ästhetischen Objekten, die es ohne diese Technik nicht gebe.“ Ein Gedanke, eine Idee, die schon in der Romantik zentral ist: „Man sucht mit der Poesie, die gleichsam nur das mechanische Instrument dazu ist, innere Stimmungen, und Gemälde oder Anschauungen hervorzubringen“ (Novalis).

 

Seine Musik solle dabei „keine andere Geschichte außer ihrer eigenen erzählen“. Im Fall seiner Komposition „KRENE“ (2021) nach Schuberts Sonate ist für Clemens von Reusner nicht zuletzt die in diesem Klavierwerk angelegte Vielschichtigkeit Bezugspunkt. Die sich schon darin zeigt, dass die Dauer von Interpretationen von 38 bis zu 60 Minuten reicht: „Da beginnt die Frage: Wo ist das Werk?“ Durch das häufige Hören habe sich Schuberts Musik für ihn verändert, sei unschärfer geworden, wie entfernte Gegenstände in heißer Sommerluft zu flimmern beginnen. Ein ähnliche Unschärfe, beschreibt von Reusner, finde sich auch am Beginn seines Stücks.

 

„Die Toleranzen können Teil des Kompositionsprozesses sein. Du hörst nur das was du hörst und nicht unbedingt die Strategie dahinter.“ Unschärfe sei generell etwas, das in seiner Musik eine wichtige Rolle spiele, nicht nur klanglich, sondern auch, was Zeit angeht: Ein Maler habe in seinen Linien Unschärfe, und die machten das Kunstwerk aus. „Und so ist es in der Musik mit der Zeit. Techno ist die einzige Musik, die ich kenne, in der das anders ist, sie rechnet die Zeit ganz präzise am Computer, vom Beat her.“ Er gehe grundlegend anders vor, in seiner Musik „folgen die Einsätze meinem eigenen Zeitempfinden, letztlich meinem Atem.“

 

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Sein neues Werk werde „keine direkten Bezüge zu der Sonate Schuberts haben, das verbiete schon die „ungeheure Entfernung von 200 Jahren, „die Arbeit war für mich eine Frage der Distanz“. Ihm gehe es um „die Idee, die hinter dem Werk steht“, um „organisierende Prinzipien“. Dabei ist es die Herausforderung, „in meiner Tonsprache zu bleiben.“ Ähnlich ließe sich die Art beschreiben, wie Clemens von Reusner auch außermusikalische Werke in Musik transformiert, etwa Literatur von Gottfried Benn oder Jean Paul oder sein Werk „Ideale Landschaft Nr. 6“, das 2020 mit dem ersten Preis der Jury und dem Preis des Publikums bei dem Internationalen Kompositionswettbewerb der „Weimarer Frühjahrstage für zeitgenössische Musik“ ausgezeichnet wurde. Dieses Werk ist inspiriert von einer Radierung aus der von der Musik Bachs inspirierten Serie „Variationen in G“ des Künstlers Ernst von Hopffgarten, in dessen Atelier im nahe gelegenen Trebel der Komponist akusmatische Konzerte veranstaltet – Elektroakustische Musik in einem komplett abgedunkeltem Raum. „Allein mit sich und dem Klang, das ist für Viele eine Herausforderung“, sagt von Reusner. Der im zeitgenössischen Musikleben häufige Tendenz, den „Klang in einer bestimmten Weise zu inszenieren“, stehe er skeptisch gegenüber: „Wenn das Auge fasziniert ist, hat das Ohr schon verloren.“

 

Im Fall des von Schubert angeregten Werks gehe es „mir natürlich auch darum, mich auseinanderzusetzen mit der Sonatenform, mit ihrer Architektur“, und zwar „in der speziellen Art und Weise, wie Schubert mit ihr umgeht, mit den Brüchen, den abrupten Wechseln in den Stimmungen, mit einer gewissen Art von Langsamkeit - das sind für mich Anknüpfungspunkte.“ Dieter Schnebel spricht mit Blick auf das Werk Schuberts von „Klangprozessen, Klangentwicklung“ gesprochen, und das sei „ein Urthema der elektroakustischen Musik“, beschreibt Clemens von Reusner diesen Anknüpfungspunkt.

 

Bei der Ausarbeitung gehe es ihm auch darum, dass beim Hören „Formenerkenntnis möglich ist“ - ein Anspruch, den von Reusner an alle seine Werke stellt. Basismaterial für KRENE seien zum Teil Klavierklänge, Material aus dem Obertonspektrum des Flügels, die er nicht anders behandelt als synthetisch generierte, die Basismaterial für andere Kompositionen sind. „Es gibt zum Beispiel in der Elektroakustik Verfahren, aus kurzen Ausschnitten im Millisekundenbereich Großes zu machen. Oder ich habe mir angeguckt was an einer bestimmten Stelle, die am stärksten hervortretenden Teiltöne sind – wenn ich die dann in die Länge ziehe, dann gibt es einen statischen, aber in sich bewegten Klang, den wir ohne solche Bearbeitung mithören, aber normalerweise sofort wieder vergessen würden.“ An dieser Stelle kann ich die Technik dazu nutzen, im Augenblick zu bleiben.“ Klänge extrem beschleunigen oder sie verlangsamen oder in seltsame Bereiche zu transponieren, das biete Gelegenheit zu Entdeckungen. Immer aber gilt, was Clemens von Reusner später so formuliert: „Elektronik verführt, Musikalität zeigt sich auf andere Weise.“

 

Elektroakustische Musik, das ist Musik, die dem Komponisten erstmals in der Musikgeschichte völlige Kontrolle über seine künstlerische Idee und deren Realisierung gibt. Erstmals jedenfalls seitdem mit der Notation die Trennung zwischen Komposition und Interpretation in die Welt kam und die Improvisation des Spielers mehr und mehr verdrängt wurde - die bis in die Gegenwart immer detaillierter gewordenen Partituren legen Zeugnis von dieser Entwicklung ab. Mit der Elektroakustik fallen komponieren und interpretieren, die beiden Pole des Musikmachens, nun wieder in eins, und damit liegt die bis dato geteilte Kontrolle über die Realisation der Musik wieder in einer Hand. Nur dass, anders als vor der Notation, nicht das Interpretierte, sondern das Komponierte dominiert.

 

Nicht immer allerdings, es gebe in bestimmten Richtungen der elektroakustischen Musik durchaus das Moment der Interpretation, sagt Clemens von Reusner. Etwa in sogenannten Lautsprecher-Orchestern, da sitzt jemand am Mischpult, der zwar fertiges Material spielt, wobei aber der Klangregisseur Parameter wie die zum Beispiel die Dynamik oder die Räumlichkeit der Klänge live verändert.

 

Er höre solche Musik gerne, sagt Clemens von Reusner, aber „für mich war das nie ein Weg“. Einerseits, weil es nur wenige solche Orchester und damit wenig Aufführungsmöglichkeiten gebe. Und generell „finde ich es gut, im Studio zu arbeiten, ich arbeite langsam.“ Dennoch gibt es auch in von Reusners Oeuvre immer wieder Live-Projekte, in denen er selbst als Ausführender im Kontext mit anderen Musikern unmittelbar im Konzert Einfluss auf die Klänge nimmt. Für ein neues solches Werk mit dem Titel “KIH“ hat er sich mit der Vokalistin Gabriele Hasler zusammengetan, deren CD „Herden und andere Büschel“ jüngst mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde. Die Uraufführung soll noch in der ersten Jahreshälfte sein. Aber: Corona.

 

Dass für die Live-Musik am Regler ein „Körpergedächtnis, ein Muskelgedächtnis“ braucht, das durchaus dem vergleichbar ist, das für das Spiel auf einem Instrument notwendig ist, zeigt sich am Rande des Gesprächs mit dem Komponisten bei einem kleinen Selbstversuch in seinem Studio. Mittendrin auch eine „Tekno-Maschine“, ein „performance sampler“ – schwer zu spielen, zeigt ein kurzer Selbstversuch, meine Finger verheddern sich rasant. Drumrum Bildschirme, Regler – und Noten von Errol Garner und Chick Corea und zwei Saxophone. Clemens von Reusner kommt vom Jazz. Auch heute spielt er manchmal in einem Trio – ganz privat.

 

Studiert hat der 1957 geborene Komponist Schlagzeug bei Abbey Rader und Peter Giger, in dieser Zeit auch Pauke im Orchester gespielt – „da gab es prägende Erlebnisse, etwa die ,Psalmen-Symphonie' von Strawinsky“ – und viele Jahre in Tanzkapellen: „Das war eine harte Schule.“ Und eine lukrative. Von den Gagen hat Clemens von Reusner unter anderem 1978 seinen ersten Synthesizer gekauft, einen “ARP Odyssey“. Danach kam ein Atari-Computer. Noch früher habe ihn ein Gedicht von Friedrich Dürrenmatt zu seiner ersten Komposition angeregt, erinnert sich Clemens von Reusner, der „Psalm Salomos, den Weltraumfahrern zu singen“. „Sprache und kosmische Klänge“ – Zischen, Rauschen, Fauchen aus alten Radios. „Ich fand Komponieren immer gut.“ Auch grafische Partituren der Musik von Stockhausen oder György Ligeti faszinierten ihn früh: „Das waren neue Welten, in denen ich mich bewegen wollte.“ Dieser Impuls führte ihn dann zur Entwicklung der Musiksoftware „Kandinsky Music Painter“ Ende der 1980er Jahre.

 

Aus dem Zimmer neben dem Studio schweift der Blick über die Weite einer Aue. Clemens von Reusners Zuhause in der alltäglichen Welt ist der letzte Zipfel der Metropolregion Hamburg an der Elbe. Auch Berlin ist nicht mehr so, so weit weg. Er schätze an der nordostniedersächsischen Provinz, wo der Komponist seit 2016 lebt, „zwei großartige Dinge“, sagt Clemens von Reusner: „Eine immer noch große Stille, die atmende Natur“, und „den weiten Himmel“. Dennoch „finde ich die Stadt klasse“. In New York, um den vielleicht radikalsten Gegenpol zur Welt des Wendlandes zu nennen, habe ihn bei seinem ersten Besuch vor einigen Jahren, das Tempo und die Lautstärke fast erschlagen. Aber: „Ich fand es gut“, fährt er fort und berichtet davon, wie er die Stadt mit der Subway erfahren haben. Er komme aber immer wieder gerne nach Lüchow-Dannenberg zurück.

 

Nach New York geführt haben ihn Aufführungen seine Werke beim NYCEMF, dem New York City Electroacoustic Music Festival, in dem er auch als Juror aktiv ist. Auch sonst wird die Musik von Reusners international wahrgenommen, etwa bei den Weltmusiktagen für Neue Musik 2011 in Zagreb, 2017 in Vancouver und 2019 in Tallin. Zahlreichen weiteren internationalen Aufführungen in Asien, Europa, Nord- und Südamerika stehen vergleichsweise wenige Aufführungen in Deutschland gegenüber. Eine davon war bei den Sommerlichen Musiktagen Hitzacker 2019, zu hören war „draught“, eine akustische Transformation der Flusslandschaft Elbe. In Hitzacker soll im August 2021 auch die neue Komposition über Schuberts B-Dur Klaviersonate im 8-Kanal-Raumklang zu hören sein.


Clemens von Reusner

Weitere Informationen

 

YouTube-Videos/Hörproben:

- Draught (22:14)

- Play Sequence (12:44)

- Aus dem Album HO: BRNK (4:47)

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