Musik

So ist das, wenn plötzlich die Wirklichkeit der Regie auf der Opernbühne diktieren darf, was noch geht und was grundlegend anders gemacht werden muss. Corona grätschte im Februar brutal mitten in die Vorbereitungen zur „Carmen“-Fassung der Hamburger Kammeroper, die vergangenen Freitag nun endlich Premiere feiern durfte.

Wie groß der Schnitt war, den der spanische Regisseur Alfonso Romero Mora am anderen Ende der Skype-Leitung in Madrid zusammen mit dem musikalischen Leiter und Bearbeiter Ettore Prandi, mit Intendant Marius Adam und dem Team der Hamburger Kammeroper am Allee Theater stemmen mussten, verdeutlichen schon wenige Zahlen: Statt der geplanten acht durften nur noch vier Sängerinnen und Sänger mitmachen.

 

Im Orchestergraben hatten vor dem Dirigenten gerade mal drei Musiker Platz (Flöte, Bratsche, Harfe); der kleine Musikanteil, den das Kammeroper-Ensemble via Tonaufnahme beisteuerte, war geringfügig ausgeweitet im Vergleich zu anderen Produktionen. Dennoch erlebt jeder Besucher eine vollständige „Carmen“ – was in den Ohren fehlt, steuert bei Bizets Welt-Hits die eigene Erinnerung mühelos bei.

 

Nun vertritt jede Kammeroper ja gattungsimmanent einen selbstbewussten Minimalismus. Dass aber auf der Bühne zunächst ein Abstand von sechs Metern zum benachbarten Mitspieler gefordert wird, auf einer Bühne, die 5,90 Meter Portalbreite hat… Nun sind es dank einer genialen Lüftungsanlage nur noch drei Meter Sicherheitsabstand, dazu ein ironischer Anklang an Nasen- und Gesichtsmaskenball gleich am Anfang. Trauriger anzusehen sind die herausgenommenen Sitzreihen bei den rotgoldenen Stühlen – ganze 44 Zuschauer pro Vorstellung dürfen derzeit noch dabei sein, ein doch etwas zu intimes Theatererlebnis. Doch das allabendliche Wunder einer gut inszenierten Kammeroper zerbricht auch daran nicht: Nur wenige Minuten dauert es, dann haben Bizets Musik und die engagierten Leistungen auf der Bühne den Leer- zum Spielraum gemacht für eine „Carmen“, die inhaltlich mit erheblichen Akzentverschiebungen daherkommt und gerade damit mehrfach faszinieren kann. 32 Aufführungen unter diesen Bedingungen zu absolvieren – für dieses kühne Vorhaben haben sich alle Beteiligten einen satten Extra-Applaus verdient und auch bekommen.

So ist Oper in den Zeiten von Corona, und unter dem, was Hamburgs Bühnen bisher präsentiert haben, macht die Kammeroper ein sehr attraktives Angebot.

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Was ist anders? Sagen wir einfach: Fast alles, wenn die Wirklichkeit so direkt die Klischees von Zigeunerin, Torero und spanischer Folklore rammt. Carmen ist eine deutsche Auslandsstudentin in Sevilla, nicht wirklich zielstrebig bisher, aber konsequent in ihren Träumen von Freiheit und Selbstverwirklichung, Leben, Liebe, Lust und Leidenschaft. Eine Getriebene, die mit wilden Volten, darunter auch Rauschgiftschmuggel, die immer neue Fluchtwege zur Freiheit sucht. Als blonde Zigeunerin mit großer Stimme und packendem Spiel nach einem Jahr Pause wieder vorn dabei: die tragende Kammeropern-Säule Feline Knabe. Soll man ihre glasklare Höhe zuerst loben oder ihre finstere Tiefe? Am Premierenabend war sie diejenige, bei der man manchmal den Atem anhielt.

Ihr armer Don José, verunsicherte Maus in der Liebesfalle, hatte die Tenor-Rolle als Bariton erst vor zwei Wochen übernommen und spielte die Vorzüge seines warmen lyrischen Timbres großartig aus. Dass dabei einige wenige Anfangs-Töne etwas angeraut daherkamen, muss man verzeihen. Seine Verkörperung des José als syrischen Immigranten war dafür umso glaubwürdiger. Natascha Dwulecki als muslimische Micaela behauptete sich gut neben Knabes Power-Carmen. Bleibt Titus Witt, der dem Toreador Escamillo so ganz und gar alles Übermännliche nimmt und ihn als Playboy, als sorglosen Frauenhelden durch die Handlung steuert, die dadurch allerdings einen Teil ihres kraftvollen Ernsts verliert.

 

Ob Moras „Carmen“ damit gleich den bedeutungsschwangeren Untertitel „Eine neue Passion“ verdient hat? Einerseits ja, sie wehrt auch unter Schmerzen und Todesdrohung alle Übergriffe auf ihre Selbstbestimmung ab, bleibt aber sogar mit ihrer Lust allein. Andererseits nein: Sie tut, was sie tut, nicht nur unter dem Einfluss übelwollender Männer. Sie agiert mit einer erheblichen Portion Gerissenheit und Naivität. Ob es richtig ist, dass sie am Ende inmitten eines leuchtenden Kreuzes überhöht als Opfer dasteht? Nach dem ersten Sehen und Hören darf man bezweifeln, dass das die Geschichte so ohne weiteres hergibt. Dafür hat sie aber Stoff genug für lange Debatten nach der Vorstellung im Foyer. Denn ganz bestimmt ist diese bilderpralle Kammer-„Carmen“ (Bühne und Kostüme: Lisa Überbacher) an der Max-Brauer-Allee in Hamburg ein spannendes Theaterangebot, für das man mit Gewinn einen Abend Corona-Nachrichten im deutschen Fernsehen aufgeben darf.


Carmen – eine neue Passion

Oper von Georges Bizet
Zu erleben bis 21. November 2020
Im Allee Theater – Hamburger Kammeroper, Max-Brauer-Allee 76, in 22765 Hamburg
Buchbar auch mit 4-Gänge-Opernmenü (bitte mindestens drei Tage im Voraus buchen).

Weitere Informationen und Tickets

 

Musikalische Leitung und Bearbeitung: Ettore Prandi
Regie: Alfonso Romero Mora
Bühne und Kostüme: Lisa Überbacher
Textfassung: Barbara Hass
Besetzung:
Carmen: Feline Knabe / Iva Krušić
Don José: Ljuban Živanović /
Robert Elibay-Hartog
Escamillo: Titus Witt
Micaela: Natascha Dwulecki / Luminita Andrei
und das ALLEE THEATER ENSEMBLE (in alternierender Besetzung)
Dirigat: Ettore Prandi/Bruno Merse
Flöte: Teruyo Takada, Angelika Schmidt
Bratsche: Lucas Schwengebecher, Florian Huber
Harfe: Konstanze Kuß, Luisa Gabrisch

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