Kultur, Geschichte & Management

Rudolf Eucken war einmal ein sehr berühmter Autor, der 1908 sogar mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wurde – und das als Philosophieprofessor! Ein deutscher Literaturnobelpreisträger, den heute niemand mehr kennt?

Seine Popularität hatte Eucken (1846–1926) den eher weltanschaulichen Schriften seiner zweiten Lebenshälfte zu verdanken, die zur Ablehnung durch seine Fachkollegen führten.

 

Aber zu Beginn seiner Laufbahn schrieb er noch streng akademische Abhandlungen. Ein Beispiel für diese Arbeiten ist seine zuerst 1879 veröffentlichte „Geschichte der philosophischen Terminologie“, die bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein etliche Neuauflagen erlebte und in der er sich trotz seiner Jugend als enorm belesener Autor präsentiert. Jetzt ist sie in einer sorgfältigen Edition neu aufgelegt worden.

 

Bei der Lektüre dieses mit Zitaten und Wortbelegen aus mehr als zweitausend Jahren und verschiedenen, besonders auch alten Sprachen gespickten Buches sollten wir uns vor Augen führen, wie viel schwieriger und aufwendiger das Schreiben wissenschaftlicher Texte vor der Erfindung von Schreibmaschine und Computer war. Wir verfügen heute über Datenbanken, Textsammlungen auf CD und meistens über eine sehr gut bestückte Bibliothek in der Nähe, und auf das alles – nun, vielleicht nicht auf die Bibliothek – musste ein Rudolf Eucken verzichten, als er als dreiunddreißigjähriger Professor in Jena dieses Buch schrieb.

 

Eucken konnte nicht Zitate von Platon oder Aristoteles in griechischer Schrift in seinen Text hineinkopieren, sondern musste sie zunächst selbst schreiben und später auf einen sehr gut geschulten Setzer hoffen. Er konnte auch nicht im Nachhinein seinen Text so korrigieren, Teile hinzufügen oder streichen oder ganze Absätze verschieben, wie wir das heute auf dem Bildschirm tun. Und endlich konnte er auch nicht mit der Hilfe einer Suchfunktion nachschauen, ob er einen Beleg schon zitiert hatte. Das Schreiben einer akademischen Abhandlung war viel, viel anspruchsvoller und zeitaufwendiger als heute, und unter diesen Umständen ist bei der Mehrzahl der Schriften dieser Zeit das gute Deutsch ebenso zu bewundern wie der umfangreiche wissenschaftliche Apparat. Eben dies gilt auch für die „Geschichte der philosophischen Terminologie“.

Wer die Absichten Rudolf Euckens in diesem Buch verstehen will, der muss den Unterschied zwischen „Begriffen“ und „Begriffswörtern“ akzeptieren. Auch andere wichtige Autoren der Zeit – etwa Fritz Mauthner in seinem etwas später erschienenen „Wörterbuch der Philosophie“ – unterscheiden zwischen einer „Geschichte der Worte und der Kritik der Begriffe“. Eucken geht es nicht um eine Geschichte der philosophischen Begriffe und damit der Fragestellungen, Gedanken und Argumente, sondern zunächst nur um eine der Terminologie. Es ist für seine Argumentation wichtig, dass ein Begriff nicht mit seiner Lautgestalt identisch und deshalb „die Existenz eines Begriffes keineswegs von dem Terminus abhängig sei.“ So stellt sein Buch (leider…) erst die Vorstufe einer Begriffsgeschichte dar, noch nicht diese selbst. So jedenfalls stellt er das selbst dar: Die „innere Geschichte der einzelnen Termini“, schreibt er einschränkend in seinen Vorbemerkungen, „kommt dabei nicht zur Geltung, die Bedeutung, welche sie für die Begriffe haben, bleibt im Hintergrunde.“

 

So erwarten wir eher eine philologische denn eine philosophische Arbeit, eher eine Materialsammlung für eine Geschichte als diese selbst. Aber Eucken wusste durchaus, worüber er schrieb, und er verfügte über die bemerkenswerte Fähigkeit, in ebenso kurzen wie klaren Worten den Gedankengang großer Denker nachzuzeichnen, so dass das Buch in manchen Teilen doch als Philosophiegeschichte dienen kann. Als ein Beispiel können die Absätze über Plotin dienen, dessen Terminologie (und in groben Zügen auch seine Philosophie) Eucken in seinem ersten Kapitel über das „Griechentum“ in souveräner Weise nachzeichnet; ein anderes, ebenso gutes oder noch besseres sind die Passagen über Leibniz.

 

Die wesentlichen Linien von Leibniz‘ Problemstellung wie seines Gedankenganges werden von dem nicht allein gelehrten, sondern auch sprachbegabten Eucken sehr schön dargestellt: „Überall“, so fasst er Leibniz‘ „Weltbegreifung“ zusammen, „bekundet sich das Streben, Lücken und Gegensätze aus dem Begriffssystem wie aus der Welt zu entfernen und in unterbrochenem Zusammenhang das Eine, was durchgeht, bis ins Unendliche zu verfolgen.“ Eucken stellt fest, dass das der „unmittelbaren Auffassung sich Bietende […] an jedem Punkt zugunsten des durchgehenden Weltbegriffes zurücktreten“ muss. Tatsächlich ist die Behauptung einer durchgehenden Kontinuität das wesentliche Kennzeichen der Leibniz‘schen Philosophie, die mit diesem Grundsatz, den der Philosoph selbst in einem berühmten Brief an den Mathematiker Pierre de Varignon als „Satz der Kontinuität“ bezeichnete, die Wissenschaften der folgenden Jahrhunderte beeinflussen sollte. Für Leibniz wie, zum Beispiel, auch für die Biologen unserer Tage ist „die Auflösung des Spezifischen Vorbedingung der Verknüpfung des Vielen zu einer einheitlichen Weltbegreifung“.

Rudolf Eucken 01 F gemeinfrei

 

Buchumschlag, Rudolf Eucken im Alter. Foto: gemeinfrei

 

Die Edition zeichnet sich durch große Sorgfalt aus: Zunächst bietet sie ein informatives Vorwort der Herausgeberin, und im Anschluss an den Text finden sich umfangreiche Kommentare dreier qualifizierter Autoren, in denen auch der Werdegang des Altphilologen Eucken und seine Vorliebe für die deutsche Mystik zur Sprache kommen, die von ihm benutzten Wörterbücher und Hilfsmittel aufgezählt werden und in denen schließlich die Korrektheit seiner Bewertungen beurteilt wird. Dazu kommen noch sehr nützliche Verweise auf neuere Literatur. Besonders wertvoll sind im Anhang die verschiedenen, nach Sprachen gegliederten Begriffsregister, die das Arbeiten mit dem Text sehr erleichtern. Dank dieser Register wie der Kommentare gibt uns das Buch die Gelegenheit, einen halbvergessenen Gelehrten von Rang neu zu entdecken.

 

Allerdings ist es etwas schade, dass die Herausgeberin dem Vorschlag folgte, „Euckens Text behutsam zu modernisieren und den Text dadurch lesbarer zu machen“. „Behutsam“ soll hier die Angleichung an die reformierte Rechtschreibung bedeuten. Bei einem Buch von 1879 scheint das eher gewaltsam, denn es zerstört das Bewusstsein des Zeitenabstandes, das die Lektüre sonst immer begleitet und auch wirklich begleiten sollte. Die Orthographie des 19. Jahrhunderts mag uns manchmal fremdartig anmuten, aber sie macht doch keinen Text schwerer verständlich! Und diesen schon einmal überhaupt nicht. Denn was ist mit der Fülle der griechischen Termini in griechischer Schrift im ersten größeren Kapitel, die nicht übersetzt wurden: stellen sie kein Hindernis dar? Oder später die vielen lateinischen Zitate?

 

In dem ersten und deutlich größeren Teil seiner Arbeit präsentiert Eucken in vier Abschnitten die „Gesamtgeschichte der philosophischen Terminologie“, als da sind griechische, römische bzw. mittelalterliche Philosophie, Neuzeit und „Deutsche Terminologie“. Diese kommt allerdings kaum deutschtümelnd daher, wie vermutet werden könnte, sondern dieses Kapitel beginnt mit Notker und führt über Eckard bis hin zu Kant und dem deutschen Idealismus. Die Kommentatorin macht auf einige, allerdings angesichts der schwierigen Quellenlage (viele alt- und mittelhochdeutsche Texte waren noch nicht ediert) verzeihliche Fehler aufmerksam. Dazu kommt, dass Eucken die Bedeutung der Mystikerinnen unterschlägt. Aber der erst jüngst in der „Deutschen Zeitschrift für Philosophie“ nicht ganz zu Unrecht beklagte Chauvinismus, der Eucken während des 1. Weltkrieges zu stramm-nationalistischen Schriften verführte, findet sich hier entgegen den Behauptungen des Aufsatzes noch nicht einmal angedeutet. Euckens „Hurrapatriotismus“ sei bereits in seinen frühen „philosophischen und philosophiehistorischen Schriften […] vorgezeichnet“, denn „zivilisationskritische Gegenwartsdiagnose und Philosophiegeschichtsschreibung sind bei Eucken von vornherein eng verzahnt.“ Das kann ich für dieses Buch nicht bestätigen.

 

Der Überblick über die griechische Philosophie stellt wenig überraschend besonders Aristoteles in den Mittelpunkt, reicht aber bis zur Stoa. In den Worten des Kommentators Michael Erler wird Aristoteles für Eucken, der ja über ihn promoviert worden war und der sich einem der berühmtesten Aristoteliker des 19. Jahrhunderts, Adolf Trendelenburg, eng verbunden fühlte, „zu einer Art Messlatte für andere antike Philosophen“. Das zweite Kapitel ist schon knapper, wenn wir bedenken, wie groß der behandelte Zeitraum ist, aber besonders durch die Scholastik schreitet Eucken trotz offensichtlich beträchtlicher Textkenntnisse mit Siebenmeilenstiefeln. An das Mittelalter schließt sich die Neuzeit an, in der Descartes, Spinoza und Leibniz herausgehoben werden, wogegen die Engländer sich eher nebenbei behandelt sehen.

Den Abschluss und zweiten Teil des Buches bilden die „Erörterungen zur Geschichte der einzelnen Termini“. Dabei handelt es sich um eine mit Beispielen gesättigte Reflexion über die methodischen Probleme einer Begriffsgeschichte. „Was bringt die Sprache nach Form und Inhalt dem Denken entgegen? Welche Ausdrücke zogen das Denken an? Was konnten sie ihm bieten, und wie vollzog sich an ihnen die Veränderung? Solche Fragen gewinnen an Bedeutung, sobald sie sich über ganze Gruppen ausdehnen und hier den Zusammenhängen von Lebens- und Gedankenkreisen nachgehen.“ In ihrer Einleitung spricht die Herausgeberin dann auch die spätere Forschung an, die 1955 in eine von Erich Rothacker gegründete, bis heute wichtige Zeitschrift mündete, in das „Archiv für Begriffsgeschichte“.

 

Rudolf Eucken war ein sowohl weniger origineller als auch weniger strenger Denker als seine Zeitgenossen Wilhelm Windelband oder Hermann Cohen, aber er war ein sehr gelehrter Kopf und griffig formulierender Autor. Die Neuedition dieses Buches ist sehr zu begrüßen.


Rudolf Eucken: Geschichte der philosophischen Terminologie im Umriss dargestellt

Unter Mitarbeit von Hanns Christof Brennecke, Michael Erler und Katharina Zeppezauer-Wachauer herausgegeben von Gisela Schlüter.

Felix Meiner Verlag 2023

432 Seiten

ISBN: 978-378732730

Weitere Informationen (Verlag)

Leseprobe

Kommentar verfassen
(Ich bin damit einverstanden, dass mein Beitrag veröffentlicht wird. Mein Name und Text werden mit Datum/Uhrzeit für jeden lesbar. Mehr Infos: Datenschutz)

Kommentare powered by CComment


Wir benutzen Cookies

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.