Meinung

„Die Heiterkeit (ist das) Prinzip und bleibendes Moment aller Kunst, auch der tragischen…“ (Aus dem Brief Arnold Ruges an Robert E. Prutz vom 1. Dezember 1839)

Es gibt diese Momente im Leben, in denen der Mensch des Trostes auf das Äußerste bedürftig ist. Weil Ereignisse über ihn gekommen sind, denen standzuhalten auch unter größter Kraftanstrengung kaum möglich zu sein scheint. Da wünscht sich manch einer Beistand, woher und von wem auch immer; und findet keinen. Weil die Nähe eines mitfühlenden Menschen gegen die Niedergeschlagenheit keine Abhilfe zu geben vermag.

 

Der Misere, und sei es für noch so kurze Zeit, zu entkommen, sie verschwinden, bzw. in den kaum noch erahnbaren Hintergrund treten zu lassen, bevor sie als Last sich wieder auf die Seele legt, ist zweifelsohne die Musik zu leisten in der Lage. Ich rede allerdings von der ernst-heiteren, schwer-leichten Tonsprache delikat ausgeklügelter Musik in all ihren – historischen – Variationen, die, das macht ihre Qualität aus, dem Durchgeklügelten und womöglich subtil Konstruierten zum Trotz wie eine schwerlose Selbstverständlichkeit ans Ohr des Aufnahmebereiten dringt.

 

Dabei denke ich noch nicht einmal an die für Scherzi typische tanzende Ausgelassenheit und das in der Regel spielerisch Frohgemute dieser sozusagen spaßigen Satzform, die ja aus dem Menuett hervorgegangen ist, sondern insgesamt an die Musiksprache als solche, die, über die Zeiten und Stile hinweg, ihre ungeheure und nicht zuletzt und vor allem auch emotionale Kraft daraus bezieht, dass sie aus sehr oft unbedeutenden musikalischen Grundideen – Beethoven ist hierin der wohl bis heute nicht übertroffene Meister gewesen – ganze, reich differenzierte Klangwelten äußerster Intensität zu kreieren vermag. Die mitreißen auch dann, wenn der musikalische Laie, der natürlich aufnahmebereit sein muss, von der Tiefenstruktur des ihn Bestürmenden im Grunde gar keine Ahnung hat. Was nicht zuletzt damit zu tun hat, dass das artifizielle Konstrukt genau das nicht zu sein scheint: ein Konstrukt eben, sondern sich so präsentiert, als sei es bar jeglichen intellektuellen Aufwandes – eine creatio ex nihilo – eben aus dem Nichts, das Alles ist, entstanden.

In diesem Fall jedoch handelt es sich nicht um ein Scherzo, sondern um das Finale der Rokoko-Variationen A-Dur op. 33 von Peter Tschaikowsky unter der musikalischen Leitung von Anja Bihlmaier mit der russischen Solistin Anastasia Kobekina am Violoncello.

 

Die siebte und letzte Variation inklusive der Coda mit der Tempobezeichnung Allegro vivo ist fürwahr eine beschwingte Gaudi mit einer zum Lachen aufreizenden, spielerischen „Geschwindheit“ und Unbeschwertheit. Die auch in die Augen springende Ekstase ist in die „Frohgemutheit“ des frisch-fromm-fröhlichen „Durchgängertums“ abgemildert und gerade darin umso mitreißender, da die auch immer bedrückende Intensität der Ekstase, übertragen gesprochen, in das Augenzwinkernde eines sich seines Lebens quietschfidel erfreuenden Springinsfelds verharmlost ist.

 

Ein harmloser Scherz also? Ja. Und nein. Denn, und das ist entscheidend, über Scherze lacht man und vergisst sie, kaum dass sie geäußert worden sind. Über diesen Scherz aber mag man zwar auch und nicht zuletzt – nicht lachen, sondern selbstvergessen lächeln, und zwar deswegen, weil er das Herz berührt auf Grund seiner schwebenden Anmut, die zu sagen scheint, dass auch dem Bedrückenden, und sei es nur momentweise, sein Bedrückendes zu nehmen ist. Den man genau darum – aus Dankbarkeit nämlich – nicht vergisst.

 

Und so lächelt nicht allein der dem selbstlosen (Hin-) Hören geneigte Rezipient, sondern es lächeln alle an diesem Konzert aktiv Beteiligten selig-selbstverloren, weil die Komposition in ihrem innersten Kern dem seligen Selbstvergessen im und übers schwerelose Schweben über eine freilich kurze Zeitspanne zum Ausdruck verholfen hat.

 

Zum Schluss noch ein Wort zu diesem exzeptionellen Orchester. Weil es immer wieder aufs Neue frappiert, wie diese von Mal zu Mal auch in unterschiedlicher personeller Zusammensetzung Musizierenden in das musikalische Zentrum des jeweils Dargebotenen so eindringen, als ob die Mühe, derer es zweifelsohne bedarf, um des nach Möglichkeit adäquaten Zugangs sich zu vergewissern, überhaupt gar keine Mühe ist. Das Schwere und Schwerste leicht erscheinen zu lassen ist wohl das Größte nicht allein in der Kunst, was menschliche Schöpfer- und Geisteskraft zu leisten in der Lage ist. Dieses Orchester beherrscht diese Kunst wie kaum ein anderes.


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Tschaikowsky: Rokoko-Variationen ∙ hr-Sinfonieorchester ∙ Anastasia Kobekina ∙ Anja Bihlmaier (20:33 Min)

 

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