Kultur, Geschichte & Management

Wodurch wird Kultur geprägt, und woran lässt sich ihre Eigenart am besten ablesen? Ist es die Sprache, sind es Wortschatz und Grammatik?

In den letzten Jahrzehnten wurde in Philosophie wie in Kulturgeschichte in einer ziemlich einseitigen Weise auf die Analyse der Sprache gesetzt – es war der von Wittgenstein und der Analytischen Philosophie inspirierte „linguistic turn“, der an den Universitäten, aber auch in der Literatur Triumphe feierte.

 

Aber war das nicht eine etwas einseitige Methode? War es klug, sich ganz und gar auf die Analyse der Sprache und deren Rationalität zu konzentrieren? Gibt es nicht auch eine Rationalität der Bilder – eine Rationalität, die sich im Lauf der Zeiten und von Kultur zu Kultur ändert? Es schien vielen plausibel, als der Kunsthistoriker Gottfried Boehm bereits vor einiger Zeit eine Gegenbewegung initiierte, den „iconic turn“, in dem die Bedeutung der Bilder – Bilder aller Art, also keinesfalls nur künstlerische Arbeiten – untersucht werden sollte. Ganz gewiss war es viel mehr als eine akademische Frage der Methode, denn es ging darum, dass Bilder – die in unserem Inneren wie jene realen, mit deren Hilfe wir kommunizieren, uns selbst darstellen oder in der Welt orientieren – für den Menschen nicht weniger wichtig sind als seine Fähigkeit des Sprechens. Es handelt sich hier nicht etwa um etwas Irrationales, sondern um eine andere Weise, sich in der Welt einzurichten.

 

Das Buch des in Frankreich hoch angesehenen Ethnologen Philippe Descola ist ein grundsätzlicher und enorm ambitionierter Versuch, die Funktion von Bildern in den verschiedenen Kulturen der Menschheit zu beschreiben und zu analysieren. Dabei geht es dem Autor um Bilder teils abbildender, teils schmückender und sowohl profaner als auch religiöser Art, die in ihrer großen Mehrheit in der jüngsten Vergangenheit hergestellt wurden oder noch heute hergestellt werden, um deren geistesgeschichtliche und soziale Einbettung wir also wissen.

Vor zwölf Jahren machte ein anderes, ganz ähnlich ausgerichtetes Werk desselben Autors mit dem Titel „Jenseits von Natur und Kultur“ Furore. Sein Klappentext (das spricht zunächst nur gegen den Klappentext, aber weder gegen das frühere noch gegen das spätere Werk…) könnte genauso gut das aktuelle Buch beschreiben: „Philippe Descola erstellt mit seiner bahnbrechenden Studie erstmals eine umfassende Typologie der Weltbilder, die den unterschiedlichen Kulturen dieses Planeten zugrunde liegen. Hier lassen sich neben unserem westlichen dualistischen Naturalismus totemistische, animistische und analogistische Kosmologien entdecken.“

 

Wenn wir davon absehen, dass es jetzt um Bilder geht, scheint der Autor seinem Thema treu geblieben zu sein. Schon in dem damaligen Buch offenbarte dieser in Frankreich sehr prominente und vielfach ausgezeichnete Autor eine außergewöhnlich breite Belesenheit und vielseitige Bildung, und jetzt präsentiert er erneut einen sensationell umfassenden Überblick. Allerdings, die Terminologie hat sich geändert – beispielsweise spricht er nicht mehr von „Kosmologien“, sondern von „Ontologien“ (der Begriff soll ansprechen, „wie ein figuratives System die Ausstattung der Welt anordnet“), und heute scheint es auch geraten, von „Amerindianern“ zu reden (aber wie wird dieses Wort ausgesprochen??), nicht etwa von „Indianern“.

 

Im Vorwort zu „Jenseits von Natur und Kultur“ nennt Descola sein Projekt „ein maßloses Vorhaben“, und in dem aktuellen Werk spricht er sogar von einem „einem komparativen Unternehmen im planetarischen Maßstab“. Das scheint etwas überheblich, ist aber in Wahrheit nicht übertrieben, denn Breite wie Tiefe seiner Forschungen sind außergewöhnlich. Dabei möchte er, wie er in dem ersten Buch sagt, zeigen, dass unser eigenes Weltbild – das der Europäer seit der Renaissance – nicht das einzig mögliche ist. Die Europäer ließen „ihren eigenen Ethnozentrismus hinter einer rationalen Suche nach Erkenntnis verschwinden“, aber wie seine Formulierung verrät, hält der Autor auch unseren eigenen Zugang zur Welt für zeitbedingt, nämlich für nicht mehr als den Ausdruck eines bestimmten Selbst- und Weltverständnisses, das anderen Kosmologien keineswegs überlegen ist.

 

In einer zunächst konventionellen Aufteilung werden vier „Ontologien“, also gesellschaftliche und kulturelle Konzepte, unterschieden, sogenannte „Identifikationsmodi“, die mit verschiedenen Glaubensvorstellungen verknüpft sind, ohne dass der Autor in diesem Werk explizit über Religion schreiben würde – ja, obwohl es immer auch um Religion geht, verliert er eigentlich kein einziges Wort über sie, wenn wir von zwei, drei Seiten ganz am Ende des Buches absehen. Die vier Typen von Konzepten nennt er Animismus, Totemismus, Analogismus und Naturalismus.

 

Codex Florentinus als Beispiel für den Analogismus 1576

Historia general de las cosas de Nueva España, 1576-77. Biblioteca Medicea Laurenziana

 

In seinem Werk zeigt Descola die für die jeweiligen Kosmologien typischen Bildstrukturen und -konzepte auf und illustriert seine Überlegungen mit einer Vielzahl von oft farbigen Abbildungen, die er allesamt sorgfältig analysiert. Ästhetische Gesichtspunkte aller Art spielen natürlich keine Rolle – sie dürfen es nicht, denn es geht allein um die Bilder als Ausdruck von Denkweisen.

 

Animismus – der Glaube an die Beseeltheit auch der unbelebten Natur – bezeichnet in aller Regel sehr primitive Menschen („primitiv“ im Sinne von „früh“ oder „zuerst“). Für sie haben die meisten Lebewesen eine Seele; meist spricht Descola aber statt von Seele von „Interiorität“, und das ist vielleicht kein sehr passender Ausdruck, ähnlich wie „Physikalität“ für Leib oder Natur. Der Autor stellt den Animismus ohne jede Wertung neben die anderen „Ontologien“ und gebraucht ganz unbefangen diesen Begriff, der seit langem von vielen Ethnologen abgelehnt wird.

Anders steht es um den allseits akzeptierten, aber für uns Europäer wohl viel fremderen Totemismus, dem sich zunächst und vor allem die indigenen Australier, die Aborigines, zugehörig fühlen dürfen; in Deutschland hatte Hans Peter Duerr 1978 mit „Traumzeit“ einen Bestseller zum Thema geliefert, der insbesondere von Studenten konsumiert wurde. In Descolas Darstellung (offenbar weicht er hier von der Mehrheitsmeinung ab) macht den Totemismus die Vorstellung aus, dass die Mitglieder eines Totems einander nicht etwa ähnlich sind, sondern lediglich gemeinsame Eigenschaften teilen.

 

Alsdann der Analogismus, worunter ich vor der Lektüre eigentlich allein das mittelalterliche, alles mit allem verknüpfende europäische Denken verstand. Descola rechnet aber noch ganz andere Kulturen zum Analogismus, so die indische oder auch mesoamerikanische. Das ist einer von mehreren Gründen, warum die Lektüre dieses dicken Buches so extrem interessant ist: die überraschenden Parallelen zwischen den verschiedensten, sowohl historisch als auch räumlich weit voneinander entfernten Kulturen. Im Analogismus verweist alles auf alles, oft in einer sehr assoziativen Weise, so dass er sein Weltbild nicht selten in komplizierten Wimmelbildern präsentiert, wie Descola an einigen instruktiven Beispielen verdeutlichen kann. Diese Beispiele sind, wie wir nicht vergessen wollen, immer nur Bilder, nicht etwa Mythen, „Narrative“ oder Begriffe, und so wird das Buch seinem Untertitel jederzeit gerecht: Es ist „eine Anthropologie der Bilder“.

 

Im Analogismus, so umschreibt Descola dieses Weltbild, „ergibt alles einen Sinn, alles verweist auf alles, keine Absonderlichkeit entgeht auf Dauer den Pfaden der Interpretation, die dafür sorgen, dass sich eine Farbe mit einer moralischen Qualität, ein Tag im Jahr mit einem Sternbild oder ein Temperament mit einer sozialen Funktion verkoppeln lässt.“ Ich konnte gar nicht anders, sondern ich musste daran denken, dass im vergangenen Jahr der amerikanische Künstler Matt Mullican in Lübeck einen Preis entgegennahm und als Dank vor dem Lübecker Dom einen „Five Color Garden“ errichten ließ – ein hübsch bepflanztes Blumenbeet, dessen fünf Farben seinem „kosmologischen“, seiner eigenen Darstellung zufolge in langen Jahren entwickelten Konzept für je andere Bereiche stehen sollten. Es handelte sich aber um ganz willkürliche Verknüpfungen, und dass der eine dies darunter verstand, der andere jenes, das schien so ziemlich egal und hat nicht einmal die lustig schwadronierenden Festredner irritieren können. Insofern war diese Kosmologie doch eher die Parodie einer Kosmologie. Denn die Verbindungen im Analogismus – ob im europäischen Mittelalter, ob in der mexikanischen oder indischen Mythologie – sind oder waren natürlich frei von derlei privaten Assoziationen, sondern innerhalb einer Kultur verbindlich und für jeden verständlich.

 

Schließlich nennt Descola das moderne europäische Denken, in dem (oder nach dem) sich der Mensch vor allem durch seinen Geist von allen anderen Lebewesen wie natürlich von der unbelebten Natur unterscheidet, Naturalismus. Er nimmt Descartes und dessen schroffe Unterscheidung von res extensa und res cogitans, von Leib und ortlosem Geist, zum Ausgangspunkt. „Im Vergleich zum Animismus geht der Naturalismus also umgekehrt vor: Die Menschen unterscheiden sich nicht durch ihren Körper, sondern durch ihren Geist von den Mitmenschen, insbesondere durch jenes reflexive Selbstverständnis, das seit Descartes cogito genannt wird“.

 

In den Kapiteln zum Analogismus und Naturalismus überrascht der Ethnologe mit außergewöhnlich fundierten kunstgeschichtlichen Kenntnissen. Vor allem geht es ihm um die Perspektive, die von Europäern am Ende des Mittelalters entwickelt wurde – ein, wie Descola wiederholt betont, weltgeschichtlich einzigartiges Konzept. Anders als eigentlich alle anderen Darstellungsweisen nimmt der Perspektivismus nur einen einzigen Standpunkt ein, so dass die Welt zu einem Gegenüber wird. Aber ist es wirklich so, dass die Welt allein für die Europäer zu einem Gegenüber wird? War oder ist sie es für einen Vertreter der drei anderen Weltbilder nicht?

 

In Europa, so Descola, wird seit der Renaissance nicht mehr ein ontologischer Pluralismus vertreten – wie in Animismus, Totemismus oder Analogismus –, sondern die „Perspektive erlaubt ein völlig neues Erleben der phänomenalen Welt, die als eine von einem menschlichen Akteur geschaffene und seither von der Subjekt-Objekt-Unterscheidung durchdrungene Realität auf einen Schlag zur modernen Natur wird.“ Wahrscheinlich sind wir uns nicht ausreichend darüber im Klaren, wie ungewöhnlich dieser Versuch ist, die Welt abzubilden. Ein Kapitel im ersten Teil des Buches heißt entsprechend „Die Standpunkte vervielfachen“. Diesem Imperativ (das Ausrufezeichen muss man sich eben denken…) folgen alle anderen „Figurationsmodi“ mit Ausnahme des Animismus, wenn dieser den Raum darstellt. Sie alle kennen eine Vielfalt der Standpunkte.

 

Mondrian Gray Tree 1911Piet Mondrian: Der graue Baum, 1911, Öl auf Leinwand, 79,7x109cm. Kunstmuseum Den Haag

 

Die Entstehung der abstrakten Kunst sieht Descola, wie er am Beispiel Piet Mondrians und einigen seiner Landschaftsbilder zeigt, ebenfalls in diesem Zusammenhang, denn es ging den Künstlern vor allem darum, wie sie „dem naturalistischen Gegenüber von Subjekt und Welt entgehen“ konnten. Noch einmal: Geht er hier nicht zu weit, wenn er die Unterscheidung von Subjekt und Objekt zu einem kulturgeschichtlichen und damit wandelbaren Vorgang erklärt? Ist diese Unterscheidung den anderen Weltbildern wirklich unbekannt? Kann sie es überhaupt sein, ist sie nicht der Erkenntnis – jeder Erkenntnis, selbst derjenigen animalischer Lebewesen – wesentlich? Kennen diese wirklich keine Spaltung in Subjekt und Objekt? Der Philosoph Nicolai Hartmann spricht von ihrer „Urgeschiedenheit“ und nennt diese Trennung ein „Wesensmoment des Gegenstandbewußtseins“, das also ausnahmslos jede Erkenntnis auszeichnet.

 

In der Darstellung Descolas zielte die abstrakte Kunst auch (oder sogar vorrangig) auf die Leugnung der räumlichen Tiefe und die Reduktion der Darstellung auf eine zweidimensionale Fläche. Wäre es dann nicht konsequent, im Zusammenhang mit der abstrakten Kunst von einer Überwindung des Naturalismus zu sprechen, von einer neuen Ontologie oder Kosmologie, die sich schon in der künstlerischen oder wissenschaftlichen Avantgarde zeigt, aber bis heute noch nicht richtig greifbar ist? Der Schweizer Kulturphilosoph Jean Gebser hat genau das in seinem Werk „Ursprung und Gegenwart“ zu zeigen versucht, aber seine Überlegungen werden schon seit langem nicht mehr diskutiert. Und in mancher Hinsicht argumentierte Gebser sogar gegensätzlich, denn er glaubte in den polyperspektivischen Darstellungen des Kubismus eine Überwindung des neuzeitlichen Perspektivismus zu sehen, nicht etwa in der abstrakten Kunst.

 

Der großformatige, nicht eben schmale und trotz seines Umfangs auffallend sorgfältig gemachte Band bietet in einem fehlerfreien, sauber lektorierten Text eine enorme Fülle von Material: Eine Fundgrube für jeden, der sich für empirische oder philosophische Anthropologie interessiert. Handhaben lässt sich das dicke Buch sehr gut dank einer ausführlichen Bibliographie (32 Seiten!), zahlreichen Tabellen sowie gleich zwei Registern, eines der Namen und noch dazu eines der Orte und Völker. Endlich wollen noch 158 größtenteils farbige, hochwertige Abbildungen erwähnt werden. Die Lektüre ist ein Vergnügen und selbst dort anregend, wo man widersprechen möchte.


Philippe Descola: Die Formen des Sichtbaren

Eine Anthropologie der Bilder. Aus dem Französischen von Christine Pries. Suhrkamp 2023, 783 Seiten

ISBN: 978-3518587997

Weitere Informationen (Verlag)

 

Philippe Descola: Jenseits von Natur und Kultur

Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Mit einem Nachwort von Michael Kauppert.

Suhrkamp, zweite Auflage 2018, 638 Seiten

ISBN: 978-3518296769

Weitere Informationen (Verlag)

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