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Seinem letztjährigen Buch über das Verhältnis von Charles Darwin zu Alfred Russel Wallace lässt Heribert Illig jetzt eine Arbeit folgen, in der er nicht weniger versucht als ein Resümee der Leistungen der Evolutionstheorie.

 

Anders als noch vor hundert Jahren, als sich nicht wenige Wissenschaftler gegen die Evolutionstheorie wandten, scheint diese heute völlig unumstritten – sie ist Teil der Lehrpläne an Universitäten und Schulen, immer wieder wird Darwins Reise mit der „Beagle“ in Spielfilmen oder Dokumentationen vorgestellt, und Einwände findet man so gut wie nie.

 

Und wenn sich doch jemand skeptisch äußert, dann steht er sofort im Verdacht, ein Bibelfundamentalist zu sein, der an die Schaffung unserer Welt in nur sieben Tagen glaubt. Und das ist ja nun wirklich eine etwas alberne Position, die vielleicht gewisse Sektierer einnehmen, aber keine ernsthaften Kritiker Darwins. Und der Autor unseres Buches schon einmal überhaupt nicht.

Weder geht es Heribert Illig um eine Verdammung von Darwins Theorie noch um ihre kritiklose Feier, sondern das sehr materialreiche Buch zeigt anhand einiger zentraler Themen ihre Verdienste ebenso auf wie ihre Schwächen.

 

Bevor er Weiterentwicklungen und Erweiterungen der Theorie anspricht, stellt Illig die Beobachtungen und skeptischen Einwände des französischen Autors Jean Henri Fabre (1823 – 1925) vor. Dabei geht es vor allem um die Entstehung der Instinkte. Fabre, der für eine Weile mit Darwin kollegial korrespondierte, bezweifelte die Möglichkeit einer allmählichen Entstehung der Instinkte.

 

Seit langem lehnen es viele Biologen ab, überhaupt noch von Instinkten zu sprechen – zu rätselhaft sind sie, und zwar in nahezu jeder Hinsicht. Dabei sind wir Menschenkinder von allen Lebewesen auf dieser Erde weniger von Instinkten bestimmt als alle anderen Geschöpfe, weshalb Arnold Gehlen uns als „instinktreduziert“ bezeichnen konnte. Dagegen gibt es einen Tierstamm, der ganz und gar von ihnen beherrscht wird, so sehr, dass Fabre bestritt, einer seiner Vertreter könne auch nur einen Funken Intelligenz besitzen. Es sind die Insekten.

 

Illig COVERWas sind überhaupt Instinkte? Es sind komplizierte Verhaltensmuster, nach einem Wort Arnold Gehlens „prägnante Bewegungsfiguren“, die immer angeboren sind, also nicht erlernt. Sie kennzeichnen eine Art und ändern sich niemals, denn das Wesen des Instinkts liegt in seiner Starrheit. Dazu kommt: Instinkte betreffen keine Nebendinge, sondern entweder die Arterhaltung, also die Vermehrung, oder aber die Ernährung eines Tieres, und dazu müssen sie nach einem festen, unveränderlichen Rhythmus ablaufen. Auf den festen Rhythmus komme es an, schreibt Max Scheler, „nicht etwa auf die Organe, die zu diesem Verhalten benutzt werden […]. Die amechanische Natur des Instinktes, die Unmöglichkeit, ihn auf kombinierte Einzel- oder Kettenreflexe […] zurückzuführen, ist dadurch gesichert.“ Scheler liefert damit einen Grund, warum sich Instinkthandlungen nicht allmählich entwickelt haben können.

 

Es ist ja eine Art Generalannahme des Darwinismus, dass sich die Entstehung von Tier- und Pflanzenarten unbeobachtbar langsam vollzog. Schon bei der Entstehung der Arten ist diese Vermutung problematisch, aber noch viel problematischer muss es sein, dass sich die Instinkte ähnlich langsam entwickelten. Jean Henri Fabre wandte dagegen ein, dass die Fortpflanzung vieler Insekten ein vielgliedriger Vorgang ist, dessen Beginn völlig sinnlos wäre, wenn ihm nicht eine Reihe anderer Schritte folgte. Deshalb mussten sämtliche Schritte schon beim ersten Mal gelingen, um anschließend en bloque vererbt zu werden. Hier schließt sich die nächste Frage an: Haben wir nicht alle in der Schule gelernt, dass erlerntes Wissen oder eingeübtes Verhalten nicht vererbt werden kann?

 

Fabre schloss daraus, dass sich diese komplizierten Instinkte gar nicht anders als auf einen Schlag entwickelt haben konnten, keinesfalls so allmählich, wie es Darwin annahm und wie es in seiner Nachfolge viele Biologen noch heute glauben. Illig hält es mit Fabre: „Wie lässt es sich vorstellen, dass sich ein solcher Entwicklungsgang über Äonen in kleinsten Schritten, über etliche gravierende Entwicklungsniveaus zum guten Ende mit der abgestimmten Fortpflanzungsfähigkeit von Männchen und Weibchen seinen Abschluss findet? Hier gibt es kein behutsames, Schritt für Schritt Vorwärtstasten. Entweder bilden sich beim ersten Versuch Nachkommen oder der Versuch der Artbildung ist nach der ersten Generation für immer gescheitert. […] Unwahrscheinlich ist dafür ein verharmlosendes Wort.“

 

Als Verhaltensforscher gelangen Fabre, der ursprünglich Lehrer gewesen ist, eine ganze Reihe wichtiger, gelegentlich sogar grundstürzender Entdeckungen. Die vielleicht wichtigste bestand darin, dass Wespen ihre Opfer, die sie zur Speise ihrer Nachkommen auserkoren haben, eben nicht töten, sondern nur lähmen, so dass ihr Fleisch nicht fault, sondern frisch von den Larven verzehrt werden kann. Unfassbar ist es zunächst, dass das Opfer nicht getötet wird – das kann unmöglich auf eine Einsicht der Wespe zurückgehen –, aber auch das Wie, also der geradezu wunderbare Umstand, dass die Wespe ihre Stiche mit größtmöglicher Exaktheit in die entscheidenden Nervenknoten setzt. Und woher weiß später die sich durch ihr Opfer fressende Larve, welche Organe sie nicht verletzen darf, weil deren Verzehr Tod und anschließende Verwesung ihrer Mahlzeit zur Folge hätte? Wenn es kein Wissen ist, das die Wespe leitet – und Wissen ist es gewiss nicht –: Was ist es dann? Wie konnte es dazu kommen?

 

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Es ist das Buch eines großen Insektenfreundes, das eine ganze Anzahl relativ kurzer Kapitel enthält, in denen die unerklärlichen Künste verschiedener Insekten geschildert werden. Was Fabre als der Held des ersten Teiles seines Buches nicht behandelt hat, rückt in der zweiten Hälfte des Buches in den Mittelpunkt: Zunächst sind es Insektenstaaten mit ihrer erstaunlichen Organisation, im Anschluss dann die Korrelationen zwischen den verschiedenen Lebensformen. Hier schließt sich Heribert Illig an Friedrich Georg Jünger an, der in seinem leider vergriffenen Buch „Vollkommene Schöpfung“ (1969) Symbiosen, Parasitismen und Konvergenzen aller Art behandelt, nicht ohne zu bemerken, dass es für einen Biologen schwierig oder sogar unmöglich ist, sie ohne eine systematische Einordnung der Lebensformen und Lebensgemeinschaften zu verstehen. Denn diese sind es, welche die Arten übergreifen und die Mehrzahl der Organismen erst lebensfähig werden lassen.

 

Es gibt Gemeinschaften nicht nur von Pflanzen mit Pflanzen oder Tieren mit Tieren, sondern ebenso von Tieren und Pflanzen. Und auch der Mensch, besiedelt und bewohnt von Milliarden von Bakterien und anderen Kleinstlebewesen, ist auf diese Symbiosen angewiesen – ohne sie wäre er nicht eine Sekunde lebensfähig.

 

Wenn sich die Entwicklung von Arten oder Instinkten nicht allmählich, nicht in unmerklichen Übergängen vollzog, dann muss sie sich in Sprüngen vollzogen haben, aus denen die verschiedenen Lebensformen und Arten resultierten. Bis heute wird aber das ideologische Konstrukt einer unbedingten Kontinuität hochgehalten, und so provoziert ein Buchtitel wie „Die Stufen des Organischen“ von Helmuth Plessner überzeugte Darwinisten bis auf das Blut.

 

Wer sich gegen das Kontinuitätsdogma wehrt, kann sich seit einiger Zeit auf die amerikanische Biologin Lynn Margulis (1938–2011) berufen, auf deren Arbeiten Illig in seinem Buch aufmerksam macht. Margulis hat schon frühzeitig den von Jünger angesprochenen Gedanken auf hohem wissenschaftlichem Niveau verfolgt, worüber sie in ihrem autobiografisch geprägten Buch berichtet. „Am Anfang der mannigfaltigen Fähigkeiten aller großen, vertrauten Lebensformen steht die Symbiose, die Neues schafft. Sie führt unterschiedliche Lebensformen zusammen, und immer aus gutem Grund.“ Das Buch erklärt diese Zusammenhänge in einfacher Form für ein breites Publikum. Margulis‘ Grundgedanke besteht darin, dass sich die Evolution aus der Zusammenführung verschiedener Lebensformen ergeben hat. Sie bezeichnet diesen Vorgang als „Symbiogenese“ und sagt von ihm, dass er „verschiedenartige Individuen zu großen, komplexeren Gebilden“ vereinigt. Eben aus dieser Vereinigung resultieren die Sprünge, die wahrzunehmen sich manche bis heute weigern.

 

Lynn Margulis COVER F J Pedreira

Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief. Portraitforo: J. Pedreira

 

Margulis kennt also nicht nur den sich verzweigenden Baum der Evolution, sondern auch eine Vereinigung von Zweigen, die sie „Anastomose“ nach einem medizinischen Ausdruck nennt, der die Verbindung zweier Blutgefäße meint. „Der Baum des Lebens“, schreibt Margulis, „ist ein verwickeltes, verwobenes, pulsierendes Gebilde mit Wurzeln und Ästen, die sich unter der Erde und in der Luft treffen, um sonderbare neue Früchte und Kreuzungen hervorzubringen“. Ein solches zusammengesetztes Lebewesen ist auch der Mensch, und Margulis sagt deshalb von uns, wir seien „von unserem Wesen her ein Mosaik.“ – Ihre Bildlichkeit ist schon ziemlich schief, denn ein Mosaik ist niemals lebendig, und die erste Beschreibung – „pulsierendes Gewebe“ – sollte nicht die eines Baumes sein, sondern eines unterirdischen Geflechts, das gewisse Ähnlichkeiten teils mit einer durch das Meer treibenden, pulsierenden Qualle, teils mit einem Pilz besitzt.

 

Die (unter ihren Fachgenossen nicht unumstrittenen) Überlegungen von Margulis stellen den vorläufigen Endpunkt einer Entwicklung dar, deren Beginn unter anderem von den Schriften des Fürsten Pjotr Kropotkin (1842–1921) bestimmt wurde, dem berühmten und sehr menschenfreundlichen Anarchisten, der quasi nebenbei auch ein bedeutender wissenschaftlicher Autor war – und dabei von denselben Motiven bestimmt wie als Theoretiker des Politischen. Zunächst verfasste er geographische Studien über die Entstehung Sibiriens, später aber, als er in England lebte, wandte er sich mit einem eigenen Buch gegen den Sozialdarwinismus (Deutsche Übersetzung: „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“, 1904). Auch seine Überlegungen werden von Illig angesprochen und in ihren Grundzügen vorgestellt.

 

Etwas fragwürdig finde ich es wegen der Wortwahl, wenn im Anschluss an Kropotkin von Kooperation die Rede ist, denn eine solche scheint es mir nur vom Tier aufwärtszugeben. Können Pflanzen kooperieren? Oder Bakterien? Gehört nicht Intelligenz dazu? Vielleicht auch eine Entscheidung, wirklich eine Gemeinschaft einzugehen? Als Antwort auf die Konzepte des Sozialdarwinismus mit seiner vulgären Betonung des „struggle for life“ mag das angehen, aber insgesamt würde mir eine andere Terminologie passender erscheinen, eine, die das Bewusstlose solcher Symbiogenesen betont. Ansonsten scheint dieser Gedanke sehr überzeugend, und wir sollten dem Autor dankbar sein für ein akribisch recherchiertes, immer sachlich und enorm faktenreich argumentierendes Buch, das auf diese Überlegungen hinweist und sie kritisch kommentiert und einordnet. Die Lektüre ist sehr anregend.


Heribert Illig: Evolution nach Fabre und Darwin. Instinkte, Insekten, Symbiosen.

Mantis Verlag 2023

234 Seiten, 77 Abb.
ISBN 978-3928852593

Weitere Informationen (Verlag) 

 

Lynn Margulis: Der symbiotische Planet oder wie die Evolution wirklich verlief.

Aus dem Englischen übersetzt von Sebastian Vogel,

Westend verlag, Frankfurt 2018

208 Seiten

ISBN 978-3864899072

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