Film

Selten zeigten sich Kritiker so unverhohlen berührt wie bei dem Spielfilm-Debüt „Past Lives“ der in Südkorea geborenen Regisseurin und Drehbuchautorin Celine Song. Das autobiographisch geprägte Drama erzählt von Abschied, Liebe, Schicksal, Vorsehung, von Entscheidungen, eigenen und denen anderer, es erzählt von jener Sehnsucht, die weder Zeit noch Distanz zerstören können.

 

Ein Opus der leisen sensiblen Töne, bestechend unaufdringlich fern der sentimental stereotypen Gesten Hollywoods aber auch ohne die Abgründe der Eifersucht wie im französischen Kino François Truffauts. „Past Lives“ verändert etwas in uns. Der Film besitzt eine Wahrhaftigkeit, eine schlichte Schönheit, die wir in dieser Form auf der Leinwand vielleicht noch nie erlebten.

 

New York, drei Uhr morgens. Eine Frau und zwei Männer am Tresen einer überfüllten Bar, sie unterhält sich mit dem einem, der andere schweigt, sitzt daneben, fast als wäre er ein Fremder. Der Lärm des Lokals verschluckt die Worte, wir sehen nur die Bewegung der Münder. Stimmen aus dem Off beginnen zu spekulieren, welche Beziehung zwischen den Dreien bestehen mag. Der scheinbar ausgeschlossene Dritte ist ein Weißer, die beiden anderen Asiaten, ihre Vertrautheit spürbar, vielleicht Geschwister, oder sind sie ein Paar? Oder… Was dieses Trio hier im East Village zusammengebracht hat, davon handelt „Past Lives“. 

 

Schnitt. Südkorea, Seoul, 24 Jahre zuvor. Die zwölfjährige Na Young (Moon Seung-ah) und ihr Mitschüler Hae Sung (Yim Seung-min) sind unzertrennlich, an diesem Tag weint Na auf dem gemeinsamen Heimweg von der Schule. Zum ersten Mal hat nicht sie die beste Zensur erhalten sondern ihr Freund. Wie so oft muss Hae Sung das Mädchen trösten, er, der sich nie beschwert, immer nur Zweitbester zu sein. Der Junge wirkt erwachsener, ruhiger als die ehrgeizige Kleine mit den großen Schriftsteller-Ambitionen. Ihre Freundschaft bricht abrupt ab, als Na Youngs Eltern beschließen mit ihren Töchtern nach Kanada auszuwandern: Eine neue Sprache und sogar ein neuer Name: Nora. Eigentlich ist die Zwölfjährige in Hae Sung verliebt, ernsthaft verliebt, will ihn später heiraten, wie sie der Mutter anvertraut. Das verlockendste Ziel aber bleibt der Nobelpreis für Literatur, und wer kriegt den schon in Korea. Zum letzten Mal der gemeinsame Heimweg von der Schule. Kein Wort des Abschieds, keine Tränen, kein: "Ich werde Dich vermissen". Nur ein Blick, ein lapidares: „Bis dann". Die Wege trennen sich. Bei dem Jungen spüren wir die Trauer, bei ihr weniger. Oder lassen wir uns wieder täuschen vom äußeren Eindruck.

 

Zwölf Jahre später. Nora (gespielt von Greta Lee), eine aufstrebende Theaterautorin, ist grade von Toronto nach New York umgezogen, fühlt sich noch etwas verloren. Da entdeckt sie auf Facebook, dass der Freund aus Kindertagen, Hae Sung (Teo Yoo) nach ihr sucht, vergeblich bisher, denn er kannte nicht ihren neuen Vornamen, erfährt ihn nur zufällig über die Facebook Seite ihres Vaters. Wie magisch kehrt in den Video-Chats die Vertrautheit von einst zurück. Celine Song und Kameramann Shabier Kirchner inszenieren diese Begegnungen mit unglaublichem Gespür für emotionale Nuancen, ästhetisch virtuos und authentisch. Die Technik stört, versagt oft, ist zugleich der neutrale sichere Boden für ihre ungewohnten Begegnungen. Trotz Zeitverschiebung werden die Gespräche bald fester Bestandteil des Tagesablaufs, nehmen erschreckend viel Raum ein, alles dreht sich plötzlich nur noch darum. Die Chance auf ein reales Wiedersehen in den nächsten Jahren aber ist gleich Null.  Nora wird sich der Aussichtslosigkeit ihrer Beziehung bewusst, schlägt eine längere Pause vor. Hae Sung begreift, die Trennung kommt für ihn unerwartet und schmerzhaft wie damals vor zwölf Jahren. Unmittelbar danach lernt Nora in der Künstler-Residenz Montauk ihren späteren Ehemann Arthur (John Magaro), einen jüdischen Autor kennen.

 

Weitere zwölf Jahre sind vergangen, Nora und Arthur seit sieben Jahren verheiratet, als sich Hae Sung entschließt nach einer Beziehungskrise, die Freundin aus Kindertagen in New York wiederzusehen. Und dann stehen die beiden sich gegenüber. „Wow“, sagt sie leise, er, etwas verlegen, weiß nicht recht wie reagieren, lächeln oder nicht. Die lange intensive Umarmung lässt ahnen, wie nahe sie sich waren und noch sind. Und genau darüber wollen sie eigentlich nicht sprechen, wir spüren ihre Scheu und diese Liebe, die vollkommen losgelöst von räumlicher und zeitlicher Distanz weiter existierte. In einer amerikanischen Romanze würden nach den Wirren des Schicksals die beiden Protagonisten nun zum hochsentimentalen Finale vereint. In „Past Lives" wagen sie nie mehr als ein Lächeln, und wir versuchen ihre Gedanken zu entschlüsseln ob beim Spaziergang durch den Brooklyn Bridge Park oder der Fahrt mit der Circle Line. Die Kamera signalisiert Nähe und Fremdheit, Seelenverwandtschaft in Cinemascope. Ihre Gespräche kreisen um ein Leben in der Möglichkeitsform. Was wäre aus ihnen beiden geworden, hätten Noras Eltern nicht den Entschluss gefasst auszuwandern.

 

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Die Straßen, Plätze, die die beiden durchqueren, sind Nora vertraut, stehen für ihr Leben mit Arthur. Wo sie das Offensichtliche ignoriert, der Ehemann macht ihr unmissverständlich klar, dass der Jugendfreund nicht nur zum Sightseeing nach New York gekommen ist. In den nächtlichen humorvollen und doch sehr ernsten Gesprächen daheim im Bett offenbart sich, was das Paar verbindet. Seine Frage, ob sie in ihrer Jugend sich erträumt hatte, mit einen jüdischen nicht besonders erfolgreichen Autor in dieser wenig glamourösen Wohnung ihr Dasein zu teilen. Sie kann ihn und uns überzeugen, genau das will sie. Und doch, was Arthur bisher nie erwähnte, im Traum spricht Nora nur koreanisch, auch wenn der Ehemann Versuche macht, die Sprache zu erlernen, ein Teil von ihr, die Vergangenheit, wird immer ein Geheimnis bleiben. Und dieses Geheimnis verbindet sie mit Hae Sung.

 

„Past Lives“ ist zum Teil die Geschichte von Celine Song. Auch ihre Künstler-Eltern verließen Südkorea und wanderten nach Kanada aus, als sie zwölf Jahre alt war. Und genau wie die Protagonistin saß sie eines Nachts im East Village an der Bar zwischen ihrem weißen amerikanischen Ehemann, dem Drehbuchautor Justin Kuritzkes, und ihrem besten Freund aus Korea. Um sie herum spekulierten die Gäste über die Art der Beziehung. Damit war die Idee für den Film geboren. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Celine Song Theaterstücke und Serien geschrieben, am Off-Broadway inszeniert, ihr Stück „Endlings“ wurde in New York von der Presse nicht unbedingt wohlwollend aufgenommen, das scheint nun nach den Erfolgen für „Past Lives“ beim Sundance Festival und der Berlinale eher unwichtig. Mit Superlativen knausern Filmkritiker für gewöhnlich, aber der schönste Spielfilm dieses Jahres, vielleicht überhaupt. Der wahrhaftigste, der ehrlichste… Eigentlich fehlen uns die Worte für die Magie der Bilder, diese verhaltenen Emotionen in Echtzeit. Das Drama in seiner Schlichtheit ist überwältigend, selbst beim Schreiben lassen Tränen sich nur schwer unterdrücken „Es ist so ungerecht, dass wir Menschen nur ein Leben haben“, sagt Greta Lee, die Darstellerin der Nora. Diese simple Wahrheit ist aber auch die treibende Kraft des Films. „Ich denke, dass man einen Teil von sich selbst zurücklässt an dem Ort, den man verlässt“- so Celine Song. Eine universelle Erfahrung. „In einem anderen Leben“ lautet der Untertitel des Films „Past Lives“ reflektiert die Wege, die wir nicht einschlagen konnten, wollten: verpasst, verworfen, verdrängt. Der Zuschauer begreift, vergangenes Glück verliert nicht an Wert, nur weil es vergangen ist, es dauert an, lebt in uns weiter.

 

Die eleganten bewusst einfachen Kompositionen tragen oft das Gewicht der gesamten Geschichte, abgebildet in einer einzigen Szene. Sie wiederholen sich in einer Art Spieglung wie der Abschied der Kinder an der Weggabelung in Seoul. Damals ahnten die beiden noch nicht, welcher Eingriff diese Trennung für ihr Leben bedeutete, anders der Abschied in New York. Nora bringt Hae Sung zum Uber Taxi, ein paar hundert Meter nächtliches New York, sie gehen nebeneinanderher, grandios inszeniert, schmerzhaft schön, unendlich schmerzhaft. Bei der Ausarbeitung der Figur von Hae Sung war es der Autorenfilmerin wichtig, ihn so normal wie möglich wirken zu lassen, was ihn heraushebt, das Heroische, ist seine Fähigkeit, Nora zu lieben, ohne irgendetwas von ihr zu fordern, zu erwarten. Die stärksten Augenblicke des Films sind die der Stille. Oft wagen sich Hae Sung und Nora nicht anzusehen, so überwältigend sind die Gefühle.

 

„Past Lives“ kreist um in-yeon, jene Vorstellung, dass sich die Beziehung zwischen zwei Menschen über zahllose Leben hinweg entwickelt und immer weiter. Wie sie sich gestaltet, Hass, Liebe, Freundschaft, das hängt vom vorhergehenden Leben ab und wird im nächsten wieder anders sein. Schicksalsstränge, die sich in tausend von Schichten überlagern. Scheitern also kein Grund zur Verzweiflung, es sind nur die Grenzen in diesem in-yeon. An ihrem ersten Abend mit Arthur erklärt Nora ihm das Konzept des in-yeon, auf seine Frage, ob sie daran glaube, antwortet sie: „Das sagen Koreaner nur, um jemanden rumzukriegen.“ Unweigerlich folgt der erste Kuss. Hae Sung und Nora überlegen, wie sie in ihrem vorigen Leben miteinander verbunden waren. Als Prinzessin und Stallknecht? Oder als Vogel und Ast, auf dem er jeden Morgen sitzt.

 

Im letzten Drittel kehrt die Kamera zurück in die Bar, Noras Welten kollidieren. Sie sitzt buchstäblich zwischen Hae Sung, einem Geist aus ihrer Vergangenheit, der sein ganzes Leben damit gerungen hat, sie endlich loszulassen, und ihrem Ehemann Arthur der sich an den Rand gedrängt fühlt, zusehen muss, wie die beiden wieder Kontakt zueinander aufnehmen, in einer Sprache, die er nicht verstehen kann. „Er hat panische Angst“, so die Regisseurin, „aber er weiß, dass er ruhig sitzenbleiben und verdammt noch mal den Mund halten wird, weil ein Teil von ihm genau weiß, dass genau das, nämlich nichts zu sagen, unbedingt notwendig ist, wenn er ihr seine Liebe zeigen will. Tatsächlich muss er dieses Gefühl voll und ganz akzeptieren: Da wird immer ein Teil von ihr sein, den er niemals kennen wird.“ In gewisser Weise ähneln Arthur und Hae Sung einander, fürsorglich, geduldig, humorvoll, gütig, großzügig. "Man sieht diesen Männern zu und sie sind auf ihre ganz eigenen Weise Helden“, sagt Celine Song „Sie treffen für sich die Entscheidung, diese Frau genau dafür zu lieben, wer sie ist, und weil sie niemals jemand sein wird, der den einen für den anderen verlässt."

 

Celine Song glaubt, dass die Menschen, die sich ihren Film ansehen, das Konzept als Kurzformel verstehen werden, wer wirklich Noras Seelenverwandter ist. Sie antizipiert, dass sich die Zuschauer mit Nora identifizieren oder mit Arthur oder mit Hae Sung. Dass sie sich identifizieren werden mit dem, was der Film über Heimweh erzählt oder darüber, ob man jemand, den man liebt, wirklich kennen kann oder über die existenzielle Sehnsucht, die sich einfach dadurch einstellt, dass man sein Leben lebt. Wenn sich 50 Menschen im Kino befinden, dann will sie, dass es 50 verschiedene Gründe gibt, warum jeder von ihnen weinen muss, und 50 verschiedene Wege, wie sie sich selbst in dieser Geschichte über die Liebe sehen. Egal wie man ihren Film auch sehen mag: „Es gibt keine falsche Antwort, außer dass man sich mit dem Gezeigten überhaupt nicht verbunden fühlt“.

 

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Past Lives

Regie: Celine Song

Drehbuch: Celine Song

Darsteller: Greta Lee, Teo Yoo, John Magaro, Moon Seung-ah, Leem Seung-min, Ji Hye Yoon, Won Young Choi

Produktionsland: USA, 2023

Länge: 106 Minuten

Kinostart: 17.08.2023

Verleih: StudioCanal Deutschland

 

Fotos, Pressematerial & Trailer: © Studiocanal Deutschland

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