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Cameron Carpenter Ist das die Orgel der Zukunft?

Ist das die Orgel der Zukunft? 200 Register, keine Pfeifen, nahezu wartungsfrei, tourneetauglich, die Vorzüge etlicher großer Orgeln nach den Wünschen des Organisten in einem einzigen Instrument zusammengefasst. Eine Demokratisierung des nun nicht mehr ortsfesten Orgelklangs – oder elektronisches Aufheben von Einzigartigkeit? Cameron Carpenter stellt mit „All you need is Bach“, der zweiten CD mit dem Wunder-Instrument, nun ein Barock-Programm vor.

Der reisende Organist Cameron Carpenter stylt sich gern – ein bisschen der Nigel Kennedy der Orgelszene – mit kreativen Haarschnitten. Und glänzt mit perfekter Finger- und Pedaltechnik. Um hinzubekommen, was er auf seiner neuen CD und auch in seinen weltweit zelebrierten Orgelkonzerten präsentiert, müsste ein Organist künftig mehrere große Kirchen, etliche Konzertsäle und Theater mit ihren sehr unterschiedlichen großen Orgeln im Gepäck haben und mit ihnen von Kontinent zu Kontinent fliegen.
Auf seiner zweiten CD stellt Cameron Carpenter stolz sein Instrument, das er seit 2014 spielt, mit einem Barock-Programm vor: die International Touring Organ. Ein elektronischer fünfmanualiger Tonerzeuger mit 200 Registern, in denen Klang mehrerer ganz unterschiedlicher Orgeln gespeichert ist – elektronisch nachgebauter Originalklang, der zudem in unterschiedlichen historischen Stimmungen justiert und innerhalb dieser wieder in sämtlichen Halbtonschritten abgerufen werden kann. Der große Spieltisch von der gefühlten Komplexität eines Jumbo-Cockpits geht in sechs Module zerlegt auf Reisen und wird überall am jeweils bühnenwirksamsten Ort platziert. Die Lautsprecher und weiteren Computer passen in einen einzigen Truck und können in zwei Stunden in jedem Konzertsaal der Welt aufgebaut werden. Die Tonausgabe kann unterschiedlich erfolgen: vom Kopfhörer über die Hausanlage eines Saals bis zur kompletten, für diese Orgel designten 48-Kanal-Sound-Anlage.
Zu den Vorteilen, die Carpenter aufzählt, gehören: Sein Instrument ist praktikabel, ökonomischer als wartungsintensive Pfeifenorgeln, es gibt keine mechanische Abnutzung, sie ermöglicht Größe in Klang und Klangvielfalt. Die Welt der Orgelpfeifen, Arp Schnitgers und brausenden Klänge in einem alten Kirchenschiff – ist das alles ab jetzt Technikdenkmal wie eine klingende „Cap San Diego“ oder ein VW-Käfer mit Brezelfenster im Heck?

Was für Carpenter offenbar besonders zählt, ist die Tatsache, dass ab jetzt Orgeln allein auf die Wünsche des Organisten zugeschnitten werden können – unabhängig von den Vorlieben einer Epoche, der Architektur einer Kirche oder eines Saals.

Was geht durch die Vielfalt von Camerons Wunderorgel verloren?
Die Frage, was durch Camerons Wunderorgel verloren geht, wird die kommende Zeit beantworten müssen, zu der sie die Türen aufstößt: Eine transportable Einzigartigkeit ist einfach keine mehr, die unauflösliche Verbindung zwischen einem bestimmten Raum und Instrument und seinem Klang wird disponibel, die Kunst des Organisten, aus der historischen und baulichen Beschränkung immer neue Klänge zu kombinieren, weicht einem allverfügbaren Klangmaterial – alles geht immer, überall. Man wird auch abwarten müssen, ob sich das nun demokratisierend auf die Musikerfahrung auswirkt oder ob es – jenseits dessen, was Carpenter selbst damit anstellt – neue Beliebigkeiten schafft.

Es war nur eine Frage der Zeit, wann die erste solche Orgel ein herkömmliches Instrument mit Pfeifen ersetzen würde – 2003 bauten Marshall & Ogletree aus Needham (Massachusetts), ihr Opus 1, die erste elektronische Orgel ihrer Baureihe, in die Trinity Church Wall Street in New York ein, wo sie eine bei den Terroranschlägen des 11. Septembers 2001 beschädigte Pfeifenorgel ablöste.

Cameron spielt auf ihrem ganz nach seinen Wünschen gebauten Opus 8 – mit dem er auch auf Tour geht. Und die internationale Orgelgemeinde darf sich einhören und diskutieren: Was macht dieser neue Klang mit den Werken und mit den Ohren und Seelen des Publikums? Die Klangvielfalt auf „All you need is Bach“ ist frappierend, der Klang kommt für alle Stimmen gleich präsent, manchmal fast schneidend klar aus den Lautsprechern. Von dieser Präsenz profitieren vor allem die gedackten Register, die weniger dumpf klingen und durchsetzungsfähiger werden. Auch die vielen Flöten- und Zungenstimmen scheinen kräftiger daherzukommen und harmonieren prächtig mit dem elektronischen Tremulanten. Die tiefen Bässe stellen jeden Subwoofer (oder die Geduld der Nachbarn) auf harte Proben. Verzerrungen durch irgendeine Raumakustik sind nicht mehr festzustellen.

Am überzeugendsten klingt Carpenter dort, wo er nicht auf Tempo und Spielerei setzt
Cameron Carpenter CD-Cover SONYAll das aber würde nichts bedeuten, wäre Carpenter nicht ein Orgelvirtuose von hohen Graden. Was ihn gern mal zu beschleunigten und drängenden Tempi verleitet wie im Contrapunctus 9 aus der „Kunst der Fuge“ oder der „Courante“ der 5. Französischen Suite (die Carpenter ebenfalls für Orgel adaptiert hat), was ihm dann wenig Raum zur Klangentfaltung und Klangschönheit lässt. So wie die vielen Register auch die ein oder andere überflüssige Klangvariation ins Spiel bringen – viel ist nicht immer mehr.
Sehr innig und überzeugend wird es, wenn Tempo und Spielerei draußen vor bleiben – bei den langsamen Sätzen der Triosonaten und der Französischen Suite und vor allem beim Choralvorspiel „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ wird die Elektronik der Klangquelle egal; man kann sie glatt vergessen und sich in einen schönen alten Kirchenraum träumen, der Bachs Musik empfängt, zum Blühen bringt und trägt.
Großartig dann das unfassbare Wunderwerk der Passacaglia und Fuge c-Moll BWV 582 – das ohrwurmverdächtige achttaktige Ostinato mit seinen 20 Veränderungen ruft geradezu danach, die Klangvielfalt einer Orgel auszuschöpfen, auf es gespielt wird. Was Cameron für seine Verhältnisse ein bisschen zu zurückhaltend und konventionell in der Registrierung und zu strikt gleichförmig im Tempo absolviert. Der Strom der Musik fließt dann eben nicht organisch wie ein Fluss, sondern wie das Wasser in einer Flussbegradigung. Es ist alles da, bloß fehlen die Ecken und Kanten, die Carpenters Spiel unverwechselbar machen könnten.
Hübsche Dreingabe: 1 Minute 20 „All you need is Bach“, ein Carpenter-Bravourstück für Theaterorgel, das mit Trommelwirbel und Jahrmarkt-Touch beginnt und dann über die eingewebten Noten-Buchstaben B-A-C-H zu Bachs brav virtuos gespielter F-Dur-Invention Nr. 8 weitergeht. Da würden wohl nicht nur Bach, sondern auch Jacques Loussier ziemlich verwundert und amüsiert dreingeschaut haben.

Cameron Carpenter auf seiner International Touring Organ: All you need is Bach

CD
Sony
8887 5178 262

Cameron Carpenter: The Sound of my Life
Eine Dokumentation über das Entstehen der International Touring Organ.
DVD & Blu-ray
Sony

Cameron Carpenter spielt auf seiner Digital-Orgel am 2. Dezember 2016 in der Laeiszhalle, Hamburg.


Abbildungsnachweis:
Header: Cameron Carpenter: Touring organ console. PR-Web. All Rights Reservers.
CD-Cover

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