Musik

Gustav Mahlers achte Symphonie, die diesen großen Klangapparat erfordert, war zusammen mit Schönbergs Gurre-Liedern lange Zeit ein Dauerargument dafür, warum Hamburg unbedingt ein neues Konzerthaus brauche, auf der Bühne der altehrwürdigen Laeiszhalle ließe sich dieses Riesenwerk nicht mit Anstand aufführen. Nun also die Elbphilharmonie im Härtetest mit diesem Werk, das eine gewagter Zusammenschnitt aus kultischem Hymnus als geradezu verzweifelter Anrufung mit dem lateinischen „Veni creator spiritus“ sowie dem philosophischen Overkill mit der Schlussszene aus Goethes „Faust II“ darstellt – ein gewaltiger Schrei nach Erlösung im Glauben und im Feuer der Liebe. Und am Ende aller Zweifel dann wirkliche Erlösung in höherer Gnade und Harmonie. Und die prosaische Erkenntnis: Der Saal alleine kann’s nicht richten.

Mahlers Achte, das sind eineinhalb Stunden Hochleistung für alle Beteiligten, gewaltige Eruptionen, Pathos vom ersten Einsatz an. Schwierig, den gigantischen Apparat auf Linie zu bringen und zu halten. Eliahu Inbal, als Mahler-Experte für den erkrankten Generalmusikdirektor Kent Nagano eingesprungen, hat seine Musiker nach anfänglichen Reibungen gut im Griff, was das präzise Zusammenspiel und -singen angeht. Vom Zauber der Mahlerschen Musik, von verschmelzenden Klängen und betörenden Stimmungen ist allerdings wenig zu spüren. Nicht jedenfalls in Block R oben rechts, von wo man einen fantastischen Blick auf alle Klangerzeuger hat. Die Verse des Pfingsthymnus (im Goethe-Deutsch: „Komm heiliger Geist, du Schaffender“) tragen kein heiliges Feuer hinauf, der Klangeindruck bleibt grob und mehr als einmal bei geballter Überwältigungsästhetik stehen. Man denkt unwillkürlich an Pfitzners spitzes Bonmot, das Adorno zitiert: „Wenn er aber nun nicht kommt?“.
Ob es Mahler so gefallen hätte? Immerhin schrieb er 1906: „Es ist das Größte, was ich bis jetzt gemacht. Und so eigenartig in Inhalt und Form, dass sich darüber gar nicht schreiben lässt. Denken Sie sich, dass das Universum zu tönen und zu klingen beginnt. Es sind nicht mehr menschliche Stimmen, sondern Planeten und Sonnen, welche kreisen.“ Er kritisierte allerdings auch selbst im Nachgang den Gigantismus der Uraufführung als „mir fatale Barnum & Bailey-Aufführung“.
Und im Faust-Teil, wo es ja deutlich inniger, innerlicher, erleuchteter und oft auch leiser zugeht? Da zerlegt die gnadenlose Elbphilharmonie-Akustik das Orchesterspiel in viele klar zu hörende, gute Einzelleistungen (allen voran die vorzüglich gespielten Violinsoli). Doch die verbinden sich nur selten zu packendem Einklang. Da fordert, so scheint’s, der Maestro zu wenig – zu wenig Piano, zu wenig Inspiration, zu wenig Aufeinander-Hören im Kollektiv, was vielleicht gelungen wäre, wenn die Gesamtlautstärke noch deutlich weiter zurückgefahren worden wäre – in der Ultra-Transparenz-Akustik der Elbphilharmonie ginge auch dann keine einzige Note verloren. Vielleicht wäre dies das spannendere Experiment gewesen: Mahlers Partitur mit deutlich reduzierten Mitwirkenden auf ihren Gehalt abzuklopfen (auch wenn es ja in Hamburg mit etwas mehr als 300 schon erheblich weniger sind als die 1030 der Uraufführung).

Verloren gehen leider auch über größere Strecken die hinter dem Orchester und vor den Chören platzierten Solisten. Selbst wenn sie von Mahler gedacht werden wie zusätzliche Orchesterstimmen – man würde doch gern, genau wie bei den Chören, wenigstens hier und da mal einen Halbsatz verstehen. Sie haben aber gegen die Lautstärke der übrigen kaum eine Chance – schade. So bleiben oft nur halbe Melodielinien hörbar, selten auch mal etwas mehr – das haben Sarah Wegener, Jacquelyn Wagner, Heather Engbretson, Daniela Sindram, Dorottya Lang, Burkhard Fritz, Kartal Karagedik und Wilhelm Schwinghammer nicht verdient.

Vielleicht ist es das Unbehagen des Rezensenten gegenüber der Gewalttätigkeit von Klang, die sich regelmäßig auch dann einstellt, wenn in Beethovens Neunter der schöne Götterfunken der Freude ekstatisch alles überrollt. In dieser „Elbphilharmonie-Achten“ von Mahler jedenfalls hat mich nur der Chorus mysticus kurz vor Schluss wirklich berühren können, dort, wo Goethes magische Verse („Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis...“) textverständlich und pianissimo erklingen und unter die Haut gehen.

Bleibt die Lichtinstallation der Stuttgarter Lichtkünstlerin Rosalie. Sieben sehr schlanke, sehr hohe Lichtkästen, die über der Bühne im Halbkreis vorhandartig aufgehängt sind. Auf ihnen erschienen schmale Lichtstreifen, wandern hinauf und hinab, bauen stetig neue Formen und wechseln die Farben – weiß, rot, lila, grün, blau. Illustrieren auch mal dezent Goethes Waldung zu Beginn von Teil zwei. Sehen manchmal aus wie moderne Kirchenfenster. Ist abstrakt und hübsch anzuschauen, bleibt aber als neue visuelle Stimme der Achten sehr, sehr leise. Und ist vielleicht gerade dadurch das Geheimnisvollste an dieser Aufführung.

Sinfonie der Tausend
Elbphilharmonie, Großer Saal
Weitere Aufführungen (ausverkauft): Sonntag, 30. April 2017 (15:30 Uhr) und Montag, 1. Mai 2017 (20:00 Uhr)



Abbildungsnachweis:
Foto der Probe: Sinfonie der Tausend / Lichtskulptur: Rosalie © Wolf-Dieter Gericke