Bildende Kunst

„Ich mag Garne, Fäden, Kordeln, Schnüre, Stricke”, sagt Naia Arruda. „Mit ihnen kann ich Striche setzen, Linien ziehen, sie verweben, zu gordischen Knoten schlingen und wieder lösen, mein Netz über die Welt spinnen und den fliegenden Teppich knüpfen, mit dem ich sie dann aus der Vogelperspektive betrachten kann, aus der sie wie ein riesiges Gemälde erscheint, ein Tanz aus Linien und Farben.”

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Die Sujets ihrer Arbeiten auf Papier: Wegkreuze zum Gedenken an tödlich Verunglückte, Bildstöcke, Kapellen am Waldrand und immer wieder Selbstporträts: Wie ein Spinnengewebe wächst die Netzhaut aus dem Auge heraus, legt sich über das Gesicht. Die Protagonistin Kopf an Kopf mit einem Pferd, dann mit dem Antlitz der Heiligen Jungfrau. Diese Motive fotografiert die Künstlerin auf ihren Streifzügen in der Umgebung des Bauernhauses, wo sie wohnt und arbeitet. Es liegt an der Grenze von Österreich zu Bayern, im Sauwald, der näheren Heimat von Alfred Kubin. In die Laserkopien der Fotos malt sie mit transparentem Acryl, um dann stickend ihre Fäden zu ziehen so wie der Zeichner seine Striche setzt. Sie akzentuiert die Motive und das eigene Gesicht, erforscht, verwandelt, deutet es, macht sich ihr Bild.

Es entsteht eine magische Wechselbeziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit, Kunst und Alltag, Erinnerung und Wirklichkeit. Kinderfotos zeigen Naia Arruda und ihren kleinen Bruder, der in Brasilien einem gewaltsamen Tod zum Opfer fiel. Mit Fäden erinnert und schreibt sie Worte aus ihrer beider Kindheit in das Bild. Der Revolver als Symbol drohender Gewalt wirft seinen Schatten in der Video-Miniatur „Amazonas”. 35 Menschen wurden kürzlich in Manaus an einem einzigen Wochenende ermordet. Die Blätter der Serie „Taulipang” basieren auf drei Einzelbildern aus der wahrscheinlich ältesten ethnographischen Filmaufnahme: 1910 dokumentierte der Forschungsreisende und Anthropologe Theodor Koch-Grünberg im Grenzgebiet von Brasilien zu Venezuela zwei Jungen vom Stamm der Taulipang beim Fadenspiel. 100 Jahre später mischt die Künstlerin mit ihren Fäden sich in das Spiel ein und schafft ein visuelles Ping Pong zwischen den indianischen Jungen und ihr.
Die fragilen zarten, in Formen- und Farbenspiel abstrakt wirkenden Stickereien auf Rohgewebe sind inspiriert von den Satellitenaufnahmen ihrer Heimatflüsse Rio Negro und Amazonas. Sie erinnern an Banner oder Standarten. „Als Kind wollte ich Stickerin werden,” erklärt Naia Arruda. „Ich sah stundenlang der Nachbarin bei ihrer Stickerei zu und übte bis in die späte Nacht mit meiner Holznadel und grünem Faden, den ich über ein kleines Stückchen Stoff zog und wieder löste, in einem fort, Linie auf Linie. Und natürlich spielte ich Fadenspiele. Später entdeckte ich die bildende Kunst und wählte sie als meinen Weg, ohne freilich das Sticken aufzugeben zu wollen. So haben sich schließlich die Stickerin und die Künstlerin getroffen, um stickend Kunst zu schaffen.”

In ihren faszinierenden suggestiven Video-Miniaturen geht es um Rollenspiel, Verwandlung, Identität, Maskierung, die Interaktion zwischen Fremde und Heimat, klassischer Geschichtsschreibung und eigener Biographie. „Amazon” (2006): Die Performerin hat es vom amazonischen Urwald in den österreichischen Sauwald verschlagen, durch den sie nun reitet und verzückt in die Himmelsrichtung zeigt, wo fern die Aras kreischen und Francisco de Orellana 1542 im Tropenkoller Einheimische für Amazonen hielt. So kam der Strom zu seinem Namen. Das violette Universum ist mehr traumatisches Jenseits als verfremdetes Hier. Schüsse fallen. Die Trauer verschlingt für einen Moment alles. „Taulipang” (2006): In der erwähnten Filmsequenz von Koch-Grünberg spielen 1910 zwei Jungen mit einem Faden, erschaffen damit den Fisch Acará und den Großen Spiegel. Das Gesicht der Performerin wird unter Netz und Schnüren zur Bildfläche, Bühne, Schnittstelle, einem Treffpunkt entfernter Verwandter mit ähnlichen Wurzeln. Wie einst bei Arnulf Rainer verbindet sich bei Naia Arruda in der Körpersprache Witz und Dramatik, Sinnliches und Theatralisches, Animalisches und Rationales.

„Miss Zebra” (2011): Die Künstlerin im plüschigen Zebra-Gewand mit einem Geweih aus Ästen streift durch den tief verschneiten Wald. So beginnen die 15 Episoden zwischen dem tropischen Manaus und dem ländlichen Oberösterreich, ein Grenzgang in Zebrastreifen zwischen Kunst und persönlicher Geschichte. Dieses gestreifte Tier ist weder in Lateinamerika noch in Europa heimisch. In seiner poetischen Hintergründigkeit, der selbstironischen Traurigkeit und verblüffender Komik ist der 14minütige Kurzfilm wahrlich ein kleines Meisterwerk. Realisiert hat ihn Naia zusammen mit dem österreichischen Regisseur Herbert Brödl („Bad Boy”, „Flieger”). Zu Chuck Berrys etwas krächzigem Sechziger Jahre-Hit „You can never tell” twistet die winzige Gestalt allein in dem scheinbar riesigen Märchenwald. Mit Quentin Tarantinos „Pulp Fiction” kam der Song noch einmal zu großer Popularität.
Daheim in Manaus fegt die Performerin Blätter auf dem Hof zusammen, steht am Herd und kocht. Kleine geduckte Häuser an einer regennassen holprigen Asphaltstraße, altersschwache pittoreske Stromleitungen erinnern an die geometrischen Formen des Fadenspiels. Selbst mit geschlossenen Augen spürt der Zuschauer die Atmosphäre der unbekannten Stadt, Musik schallt aus dem Radio, die Stimmen in der Nachbarschaft, das Zirpen der Grillen, alle Geräusche auch die Schritte haben ein fremdes Echo. Ein Jaguar hinter Gittern, das bunte Double auf dem Badehandtuch verdrängt ihn. Im Sommer durchquert die Zebra-Gestalt blind den Sauwald. Die Künstlerin wechselt ständig die Rolle, legt eine Maske über die nächste. Sie versteckt sich sich nicht hinter Schminke oder Kostüm, im Gegenteil. Ob als darstellende oder bildende Künstlerin, sie offenbart sich so und eröffnet zugleich dem Betrachter neue ungeahnte Perspektiven, verblüffende Zusammenhänge und Überschneidungen. Sie zeigt sanfte bis wilde Entschlossenheit. Ob glücklich oder verzweifelt, ihre Gefühle brechen explosiv hervor und verschwinden dann wieder auf rätselhafte Weise. Am intensivsten vielleicht der Moment, wenn sie den Zuschauer direkt anschaut und zum Farbstift greift, um breite rote Furchen in die weiße Puderschicht auf ihrem Gesicht zu ziehen

Naia Arruda ist 1980 in Manaus geboren, der Hauptstadt des brasilianischen Bundesstaates Amazonas, in deren Opernhaus Klaus Kinski als Werner Herzogs Fitzcarraldo betört Caruso und Sarah Bernhardt lauschte. In der Stadt, gelegen am Rio Negro, dem größten Schwarzwasserfluss der Erde, der hier mit der vierfachen Wassermenge des Mississippis in den Amazonas mündet, hat Naia Arruda an der Universität – Universidade Federal do Amazonas – ihr Studium der Kunst abgeschlossen. Das Video „Miss Zebra” gehörte 2011 zu den ausgewählten Werken des renommierten Wettbewerbs „Rumos Artes Visuais des Itaú Cultural“. In Brasilien waren ihre Videos und Arbeiten in Gruppenausstellungen zu sehen im Museu Vale in Vila Velha, im Palácio das Artes in Belo Horizonte, im Museu de Arte Moderna in Rio de Janeiro, im Itaú Cultural in São Paulo, im Museu de Arte Moderna Aluísio Magalhães in Recife und im Centro Cultural Paço Imperial in Rio de Janeiro.

Der brasilianische Kritiker Jean-Claude Bernardet schreibt: „Ich finde diese poetischen Video-Miniaturen von Naia wunderbar. Je mehr ich mich vom Erzählkino abwende, umso mehr berühren mich diese kleinen Zaubereien, Andeutungen, Verweise und Anspielungen. Naias Wandlungsfähigkeit drückt sich in der Art aus, wie sie sich mit dem auseinandersetzt, was ihr wertvoll ist. Es entsteht das Imaginäre und schafft Raum.” Vermisst sie die Heimat? „Ich lebe hier auf dem Land unter Bauern, die andere Sorgen als Kunst haben, und wenn mich Heimweh nach Amazonien überkommt, dann nach dem Rio Negro mit seinen weißen Stränden und einem Bad im schwarzen Fluss im Licht des späten Nachmittags. So was gibt's hier nicht. Und manchmal fehlen mir die amazonischen Früchte, Cupuaçu zum Beispiel.”

Naia Arruda macht sich vom Abbild (Foto) ein Bild und verbindet dieses Bild mit dem Abbild, legt eine Ebene über die andere, Vorstellungskraft über Wirklichkeit, schafft Vieldeutigkeit, indem sie ihre Fäden zieht und das Unsichtbare sichtbar macht: ihr Bild vom Bild.


Die Ausstellung „Fadenspiel“ ist noch zu sehen bis zum 14. August 2015
Öffnungszeiten Donnerstag, Freitag, Samstag 17-20 Uhr
Schauraum: Oberau 5 in A - 4761 Enzenkirchen/Österreich

Videos:
MISS ZEBRA / Short Film, Brazil, Austria, 2011 / A film by Herbert Brödl and Naia Arruda
- 14 Min.
AMAZON / Short Film, Austria, 2006 / A film by Herbert Brödl and Naia Arruda - 4 Min.
TAULIPANG / Short Film, Brazil, 2006 / A film by Herbert Brödl and Naia Arruda - 2 Min.


Abbildungsnachweis:
Header: „Miss Zebra“, Still aus Performance
Galerie:
01. Motiv der Einladungskarte zu Fadenspiel; Selbstportrait 4, 2006, Zeichnung
02. Blick in die Ausstellung im Schauraum Enzenkirchen
03. Selbstportrait 1, 2009
04. Selbstportrait 2, 2009
05. Fadenspiel 2, 2006
06. Wegkreuz 2, 2010
07. Bildstock 2, 2010
08. Tänzer 2, 2014
09. Mein Bruder und ich 2, 2014
10. Rio Negro 3, 2011, Zeichnung auf Papier
11. Zebra 1, 2011
12. Zebra 4, 2011
13. Black
14. Blick in die Ausstellung im Schauraum Enzenkirchen.