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Dass dem Besucher Londons um das Gelände der stillgelegten Truman-Brauerei, die zum Kultur- und Kreativzentrum umfunktioniert wurde, heute vorwiegend junge Hipster und Künstlermigranten aus der ganzen Welt begegnen, ist dabei dennoch keineswegs selbstverständlich. Denn das Gebiet an der Ostgrenze der Londoner City galt seit jeher als Armenviertel – als Ort der Außenseiter und der Glaubensflüchtlinge. Mit dem Wiederaufbau der Stadt nach dem großen Feuer von 1666 waren es zunächst die französischen Hugenotten, später Juden aus Osteuropa und seit der Mitte des 20. Jahrhunderts die Welle von Immigranten aus den ehemaligen Kolonien, insbesondere aus Bangladesch, die dem Stadtviertel allesamt ihr unverwechselbares Gepräge verliehen und deren Spuren bis heute im unverwechselbaren Reiz der Gegend nachwirken.

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Die Entwicklung, die seit den frühen 1990er-Jahren Spitalfields und mit einigen Jahren Verzögerung das angrenzende Shoreditch überrollte, ist daher weniger als Renaissance, sondern vielmehr als eine grundlegende Transformation des East Ends zu verstehen. Diese wird in den nächsten Jahren das Gesicht der Stadt für immer verändern. Schon heute ist den Seitenstraßen um den Old Spitalfields Market, einem der größten Entwicklungsprojekte der vergangenen Jahre im Viertel, kaum noch anzumerken, dass sie um die Jahrhundertwende zu den berüchtigtsten Ecken Londons zählten. Wo bis vor knapp zwanzig Jahren noch einer der größten Obst- und Gemüsemärkte der Stadt sein Zuhause fand, flanieren heute die neuen Arbeiter der City – Banker und Kreative – und genießen im Windschatten des durchaus gelungenen Miteinanders von alter und neuer Architektur ihren Latte Macchiato.

Dass der Markt, dessen historische Fassaden erhalten wurden und aus denen heraus sich sukzessive der moderne Glas- und Stahlbau des neuen Old Spitalfields Market entwickelt, überhaupt noch existiert, verdankt er der Initiative seiner Anwohner. Diese sperrten sich kurzerhand gegen einen Komplettabriss. Überhaupt sind es vor allem die neuen Bewohner der ersten Stunde, allen voran die Young British Artists und insbesondere Tracey Emin, die seit Beginn der Aufwertung des Stadtteils hier wohnen und sich engagiert für die Erhaltung und Restaurierung der historischen Bebauung einsetzen. So finanzierte die Künstlerin etwa aus eigenen Mitteln die Wiederherstellung eines alten Lagerhauses in der Bell Street, in dem sich heute ihr Atelier befindet. Auch die Fournier Street, in der die Künstlerin lebt und deren Bebauung auf das frühe 18. Jahrhundert datiert, wurde vorwiegend aus privaten Mitteln behutsam wieder instandgesetzt.

Andere Gebäude freilich gingen im Prozess der Gentrifizierung verloren. So fiel etwa die enge Gassenbebauung der Dorset Street, in der Jack the Ripper sein letztes Opfer fand, bereits in den späten 1960er-Jahren dem Neubau eines Parkhauses zum Opfer. Und auch die Straße Frying Pan Alley musste vor fünf Jahren dem Neubau des Nido Tower, dem mit 112 Metern höchsten Studentenwohnheim der Welt weichen.

Wo die Sanierungsprojekte abgeschlossen sind, steigen auch die Mieten. Mit den Klagen, die man in Deutschland aus Berlin-Friedrichshain oder dem Hamburger Schanzenviertel über steigende Wohnungspreise gewohnt ist, kann man einem Londoner allerdings kaum beeindrucken. Das günstigste Zimmer im Studentenwohnheim des Nido Towers kostet hier bereits umgerechnet mehr als 1.600 Euro im Monat – ein Vergnügen, das sich beileibe nicht jeder leisten kann. Für reguläre Wohnungen sind entsprechend höhere Mieten üblich.

Begünstigt wird der drastische Anstieg der Mietpreise durch eine fatale Parallelentwicklung sinkender Investitionen in den sozialen Wohnungsbau seit der Regierungszeit von Margaret Thatcher und der Kapitalflucht, insbesondere arabischer Staaten in Immobilien in der britischen Hauptstadt seit dem Ausbruch der Wirtschafts- und Finanzkrise 2009. Eine Konstellation, die in ähnlicher Weise auch auf Deutschland zutrifft und deren Auswirkungen in den kommenden Jahren auch hierzulande die Wohnungspreisentwicklung in zentralen Lagen deutlich prägen dürfte.

Dennoch sind die alten Bewohner Shoreditchs und Spitalfields nicht restlos verschwunden und es ist gerade dieses Zusammentreffen von Immigranten aus Bangladesch und Pakistan, den einstigen Pionieren der kreativen Klasse und der City-Yuppies, welche die Lebendigkeit und Vitalität dieses Viertels derzeit auf so faszinierende Weise ausmacht. Südlich der ehemaligen Truman-Brauerei beginnt etwa Bangla-Town, eine Restaurantmeile, die Hamburger auf liebenswürdige Art an die Reeperbahn erinnern dürfte. In dem hektischen Treiben aus Geschäftsleuten und Bangladeschis, die in bester Fischmarkt-Manier auf der Straße ihre Köstlichkeiten anbieten, fühlen sich die Umwälzungen im Viertel noch weit entfernt an. Auch in die westlich davon gelegene Wentworth Street, verirrt sich kaum einer der neuen Bewohner von Shoreditch und Spitalfields. Sie ist noch fest in der Hand afrikanischer Einwanderer, die dort Textilien aus ihren Heimatländern importieren und jeden Sonntag auf einem großen Straßenmarkt feilbieten. Doch auch in dieser Ecke haben Bauprojekte erste Schneisen in die weitgehend erhaltene historische Baustruktur geschlagen. Der Status quo von heute, so der bittere, aber unweigerliche Eindruck bei einem Spaziergang durch das Gebiet, ist ein Zustand auf Abruf.

Überhaupt scheint die Geschichtlichkeit des East Ends für die Bewohner zu einer Art Schutzschild geworden zu sein, um das Recht auf die eigene Anwesenheit vor Ort zu begründen. In der Redchurch Street, einem der spannendsten Hotspots für Off-Galerien in der Stadt und Epizentrum der Street Art-Bewegung, schießen seit einigen Jahren Läden mit altenglischen Interieurs wie Pilze aus dem Boden. Im Ladengeschäft Labour and Wait kann man passend dazu etwa Neuauflagen historischer Haushaltswaren und Werkzeuge erwerben – Manufactum auf britisch. Die Nostalgie und der Wunsch nach Beständigkeit in einer unsteten Welt – hier meint man, ihn besonders deutlich spüren zu können. Es herrscht eine allgemeine Faszination für das historische Erbe des Bezirks und die Geschichten seiner einstigen Bewohner. Gleichwohl bleibt dieser ästhetisch durchaus faszinierenden Pseudo-Authentizität immer ein schaler Beigeschmack. In dieses Bild passt auch die mittlerweile unüberschaubare Flut an Publikationen und Blogs über das East End, Fotografiebände, die das frühere Leben in diesen Straßen zeigen und die reißenden Absatz finden. Ebenso gibt es zahlreiche Stadtführungen durch East London, bei denen man neben der zeitgenössischen Street Art auch immer wieder auf die Spuren der einstigen jüdischen Bewohner und der Arbeiter des 19. Jahrhunderts gestoßen wird.

Dabei ist Shoreditch immerhin in einer Hinsicht längst wieder dabei, sich den Zuständen des 19. Jahrhunderts anzunähern. 2011 vermeldete der Guardian Zahlen, nach denen schon heute jede fünfte Mietswohnung in London überbelegt ist. Das Phänomen des „Overcrowdings“ bezeichnet dabei die Belegung von Wohnungen mit mehr als zwei Personen pro Zimmer, wobei Küchen ebenfalls als vollwertige Zimmer gelten. Viele, auch in Vollzeit arbeitende Londoner, nehmen den Verzicht auf die Privatsphäre einer eigenen Wohnung für die höhere Lebensqualität im Zentrum der Stadt auf sich. Mit den Olympischen Spielen 2012 haben sich allerdings bereits die bisher nach wie vor depravierten Stadtteile Hackney und Stratford in Stellung gebracht, die in nordöstlicher Richtung an das alte East End angrenzen. Steigen die Mietpreise weiter, dürfte es nur eine Frage der Zeit sein, bis die jetzigen Bewohner von Shoreditch und Spitalfields der Spur des Geldes folgen dürften.



Fotonachweis: Copyright Sarah Nickel (www.sarahnickel.de)
Header: Zwischennutzungen
Galerie:
01. Fournier und Wilkin Street
02. Alt vor neu: Das Duke of Wellington
03. Alte Grenze der Vororte
04. Bauarbeiten in der Wentword
05. Nido Tower
06. Bangla Town
07. Zwischennutzung und Hausbesetzung
08. Sozialwohnungen
09. Gentrifzierung pur: Gebäudeleerstand als Spekulation
10.ÂÂ Kleine Textilimportfirmen afrikanischer Besitzer

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