Meinung
KlassikKompass Die Welt der Bach-Cantatas – Misericordias Domini

Der ‚gute Hirte’ (Lateinisch ‚Pastor bonus’) ist im Christentum eine der ältesten und verbreitetsten Bezeichnungen für Jesus Christus.
Das rührt daher, das aller Ursprung christlichen Glaubens in den Gott-Legenden und Mythen eines nomadischen Hirtenvolks, den frühen Israeliten des Alten Testamentes, wurzelt.

Im Alten Testament ist das Hirtenbild sehr verbreitet: Abel, Abraham, Isaak, Jakob oder Joseph waren Hirten. Hirten wurden verheißene Führer des Volkes einerseits, verantwortungslose Könige und Richter andererseits als gute oder schlechte Hirten bezeichnet. Die bedeutendste Rolle als Hirte nahm David ein. Dem messianischen Hirten ‚mein Knecht David’, der das getrennte Volk vereinigen würde, schlägt aber Ablehnung und Mord entgegen. Jesus – der Nachfahre aus dem Hause David erleidet ein ähnliches Schicksal um es dann – am Ostertag – zu überwinden. Vielfach wird das Hirtenbild immer wieder auf Gott bezogen. Besonders findet sich das Bild aber im Psalm 23, dem ‚Hirtenpsalm’.

Einleitungschor der Cantata ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt’ BVW 112 von Johann Sebastian Bach (1685-1750) zum Sonntag ‚Misericorias Domini’:
„Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Hält mich in seiner Hute,
Darin mir gar nichts mangeln wird
Irgend an einem Gute,
Er weidet mich ohn’ Unterlass,
Darauf wächst das wohlschmeckend Gras
Seines heilsamen Wortes.“

Du Hirte Israel, höre! BWV 104
Der Herr ist mein getreuer Hirt BWV 112

Der höchste Hirte sorgt vor mich,
Was nützen meine Sorgen?
Es wird ja alle Morgen
Des Hirten Güte neu.
Mein Herz, so fasse dich,
Gott ist getreu.

Rezitativ (Tenor) aus der Bach Cantata ‚Du Hirte Israel höre!’ BWV 104

„Wahrlich, wahrlich ich sage euch:
Wer nicht zur Tür eingeht in den Schafstall,
Sondern steigt anderswo hinein, der ist ein Dieb und ein Mörder.

Der aber zur Tür hineingeht, der ist ein Hirte der Schafe.
Dem tut der Türhüter auf, und die Schafe hören seine Stimme
Und er ruft seine Schafe mit Namen und führt sie aus.

Und wenn er seine Schafe hat ausgelassen, geht er vor ihnen hin,
Und die Schafe folgen ihm nach denn sie kennen seine Stimme (...)

Da sprach Jesus wieder zu ihnen:
Wahrlich, wahrlich ich sage euch:
Ich bin die Tür zu den Schafen.

Ich bin die Tür; so jemand durch mich eingeht,
Der wird selig werden und wird ein und aus gehen und Weide finden.

Ein Dieb kommt nur, daß er stehle, würge und umbringe.
Ich bin gekommen, daß sie das Leben und volle Genüge haben sollen.

Ich bin der gute Hirte.
Der gute Hirte läßt sein Leben für seine Schafe.

Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, des die Schafe nicht eigen sind,
Sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht
Und der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe.

Der Mietling aber flieht
Denn er ist ein Mietling und achtet der Schafe nicht.

Ich bin der gute Hirte und erkenne die Meinen
Und bin bekannt den Meinen,
Wie mich mein Vater kennt und ich kenne den Vater.

Und ich lasse mein Leben für die Schafe.
Evangelium des Johannes Kapitel 10 ff

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In dieser, einer der großen Gleichnisreden des Johannes Evangelium sagt Jesus von sich: ‚Ich bin der gute Hirte’ und führt das Bildwort unter verschiedenen Aspekten aus: Der gute Hirte kennt die Schafe und ruft sie einzeln beim Namen. Die Schafe erkennen ihn an der Stimme. Bis zur Hingabe des eigenen Lebens setzt sich der gute Hirte im Gegensatz zum Lohnhüter für die Herde ein.
Indirekt erscheint der Hirtentitel auch in der Erzählung vom verlorenen und geretteten Schaf. Nicht den 99 anderen Schafen, sondern dem einen verlorenen, dem Sünder, gilt sein Suchen.
Einen Gegenpol hat die Allegorie Jesu als dem guten Hirten in dem des ‘Lammes Gottes’ (Lateinisch: Agnus Dei). Hier erscheint Jesus als Lamm, das zur Vergebung der Sünden am Kreuz geopfert wird.

Die beiden Cantatas die Bach zum Sonntag Misericordias Domini komponierte und die wir vorstellen wollen, BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’ und BWV 112 ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt, stehen genau wie die beiden Quasimodogeniti-Werke die wir vorher vorstellen in einem inneren Zusammenhang.
BWV 104 ist die jüngere der beiden Cantatas, komponiert 1724, BWV 112 wurde sieben Jahre später 1731 uraufgeführt.
Sie stehen in dem Zusammenhang von ‚alt’ und ‚neu’ von alt-testamentarischen Hirten-Bildern und dem neu-testamentarischen ‚guten Hirten’ Christus.
‚Du Hirte Israel, höre!’ beschwört in faszinierender und teils für heutiges Verständnis stark verschlüsselter Weise die Hirten Patriarchen Jacob von Gott umbenannt ‚Israel’ und Joseph seinen Sohn – zwei der wichtigen alt-testamentarischen Gründerväter des Volkes Israel.
‚Der Herr ist mein getreuer Hirt’ nimmt einen Psalter – ebenfalls von einem Hirten verfasst – dem Hirtenkönig David, dem Vorläufer Christi – zur Grundlage und beschreibt das Wirken und die Wirkung des neuen ‚Pastor bonus’, des ‚guten Hirten’ des neuen Testamentes.
So schuf Bach durch diese zwei Hirten-Canatas einen ganzen Glaubenskosmos und den inneren Zusammenhang zwischen Verheißung und Erfüllung.


Bach Cantata BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’
Uraufführung 23. April 1724 in Leipzig, Text: unbekannter Dichter
Choral ,Der Herr ist mein getreuer Hirt’, Johann Walter 1524
Evangelisches Gesangbuch Nr. 274

„Du Hirte Israel, höre
Der du Joseph hütest wie die Schafe,
Erscheine, der du sitzest über Cherubim."
Einleitungschor zur Bach Cantata BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’

Dieser verführt den Hörer mit geradezu schmeichelnden, wiegenden Melodien der Sinfonia die sich in Triolen bewegt und mit Oboen ein Hirten-Szenario malt – man sieht vor dem geistigen Auge quasi die Schafe auf den Triften weiden.
Der Chors setzt ein in dieses Schaefer-Idyll und die Rufe ‚höre’ werden betont – ‚höre, höre’ – aber was und wer soll da eigentlich hören?

„Du Hirte Israel, höre
Der du Joseph hütest wie die Schafe,
Erscheine, der du sitzest über Cherubim.“

Der ‚Hirte Israel’ – wer ist denn das?
Bach bezieht sich auf die alt-testamentarische Umbenennung des israelitischen Hirtenkönigs Jacob:
„Er sprach: Wie heißt du?
Er antwortete: Jakob.

Er sprach: ‚Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel.
Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft’.
Evangelium Genesis Vers 32 ff

Und nun wird auch klar, wie dieser Jacob seinen Sohn ‚Joseph hüten kann wie die Schafe’ – es ist sein Lieblingssohn, der von den Brüdern aus Neid beraubt, fast totgeschlagen und nach Ägypten verkauft wird!

„Jakob aber wohnte im Lande, darin sein Vater ein Fremdling gewesen war, im Lande Kanaan.
Und dies sind die Geschlechter Jakobs: Joseph war siebzehn Jahre alt, da er ein Hirte des Viehs ward mit seinen Brüdern.
Israel aber hatte Joseph lieber als alle seine Kinder, darum daß er ihn im Alter gezeugt hatte und machte ihm einen bunten Rock.
Da nun seine Brüder sahen, daß ihn ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, waren sie ihm feind und konnten ihm kein freundlich Wort zusprechen.
Dazu hatte Joseph einmal einen Traum und sagte zu seinen Brüdern davon;
Da wurden sie ihm noch feinder.“

Da ist die klare Parallele gezogen zu Gott der seinen einzigen Sohn, seinen Lieblingssohn, zum Opfer bringt – und erst als diese beiden Hirten Könige des alten Testamentes erwähnt werden, sozusagen die Wurzeln gelegt für das Neue, wendet sich der Chor an den der da ‚erscheinen’ soll.
„Erscheine, der du sitzest über Cherubim.“
Evangelium Genesis Vers 37 ff

In der Bibel sind Cherubim-Engel von hohem Rang, die für besondere Aufgaben herangezogen werden. Cherubim werden in der Bibel über 90 Mal erwähnt.
Zum ersten Mal tauchen sie in der Genesis (1. Buch Mose) auf, wo sie nach dem Sündenfall und der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Garten Eden von Gott als Wächter vor dessen Zugang aufgestellt werden.
Christus, der ‚neue’ ‚gute Hirte’ sitzt über den Cherubim – den Wächterengeln – die nach der Genesis das Paradies bewachten und die Menschen ausschlossen nach dem Sündenfall. Er vertrieb den Menschen und stellte östlich des Gartens von Eden die Cherubim auf und das lodernde Flammenschwert, damit sie den Weg zum Baum des Lebens bewachten. Cherubim sind himmlische Wächterengel, die das Paradies bewachten. Man erinnert sich in diesem Zusammenhang auch gerne an die Erlösung und Freude zu Weihnachten, die sich in dem bekannten Weihnachtslied ‚Lobt Gott ihr Christen allzugleich’ manifestiert, das in seiner letzten Strophe endlich den Cherub vom Himmelstor abzieht und es wieder für alle menschlichen Seelen öffnet.

„Heut schleust er wieder auf die Tür
Zum schönen Paradeis:
Der Cherub steht nicht mehr dafür,
Gott sei Lob, Ehr und Preis!
Gott sei Lob, Ehr und Preis!“
Nikolaus Herman 1560, Evangelisches Gesangbuch Nr. 27

Man kann sehr schön an diesem einen Beispiel von einem zweizeiligen Einleitungschor sehen, welcher Kosmos sich öffnet, wenn man Bachs Cantatas genauer kennenlernt.
Man muss sich dazu auch mal vorstellen von welcher theologischen und philosophischen Bildungsstufe seine Zuhörer im Leipziger Sonntags-Gottesdienst waren, die all diese verschlüsselten (guten) Botschaften verstanden haben, die uns heute nahezu vollständig verloren sind.
Diese Kulturstufe wurde von iPhone, Tablet, Facebook und Konsorten erledigt. Ich muss sagen, leider. Denn dieser Kosmos ist wunderschön, wenn er sich erst einmal eröffnet, und ein echtes Labsal für die Seele.

Der Tenor weist im Rezitativ auf den ‚höchsten Hirten’, der jetzt das Regiment führt:
„Der höchste Hirte sorgt vor mich,
Was nützen meine Sorgen?
Es wird ja alle Morgen
Des Hirten Güte neu.
Mein Herz, so fasse dich,
Gott ist getreu.“

Zwei Oboen d’amore im Duett – Hirteninstrumente – singen mit dem Tenor und sucht nach diesem Hirten der sich zu lange verbirgt und das Leben in der Wüste macht Angst und Bange – diese Furcht wird mit absteigenden Halbtonschritten charakterisiert. Der Ruf Christi am Kreuz in der tiefsten Not: ‚Aba’ – Hebräisch (אבא) für ‚Vater’– ist das Zauberwort, das der ‚gute Hirte’ wirken kann:
„Verbirgt mein Hirte sich zu lange,
Macht mir die Wüste allzu bange,
Mein schwacher Schritt eilt dennoch fort.
Mein Mund schreit nach dir,
Und du, mein Hirte, wirkst in mir
Ein gläubig Abba durch dein Wort.“

Das folgende Rezitativ des Bass mit basso continuo beschwört des Himmels Vorgeschmack auf diesem großen ‚Schafstall’:
„Ja, dieses Wort ist meiner Seelen Speise,
Ein Labsal meiner Brust,
Die Weide, die ich meine Lust,
Des Himmels Vorschmack, ja mein alles heiße.
Ach! sammle nur, o guter Hirte,
Uns Arme und Verirrte;
Ach lass den Weg nur bald geendet sein
Und führe uns in deinen Schafstall ein!“

Es folgt eine der wohl schönsten Bach-Arien, die mir bekannt ist – Dürr schreibt dazu in seinem Buch: Eine Pastorale von überwältigender Schönheit, ein wahres Seelen-Idyll mit sanften Streichern und einem wiegenden Schäfertanz‚ die Welt ist euch ein Himmelreich – wenn das jemals wohlklingend und herzerwärmend musikalisch beschrieben worden ist, dann hier:
„Beglückte Herde, Jesu Schafe,
Die Welt ist euch ein Himmelreich.
Hier schmeckt ihr Jesu Güte schon
Und hoffet noch des Glaubens Lohn
Nach einem sanften Todesschlafe.“

Besonders interessant und musikalisch erstaunlich ist der zweite Teil der die Glaubenshoffnung und den ‚sanften Todesschlaf’ beschwört. Die Hoffnung auf des ‚Glaubens Lohn’ wird zunächst in langen Bögen ausgezogen und der Todesschlaf wird danach harmonisch zur Tonalität der Arie völlig verändert. Bach nutzt einen sogenannten ‚neapolitanischen Sextakkord’ - bis schließlich leise und sanft der „Schlaaaaaaaaaaaaaaaf“ einsetzt und die Arie zum Stillstand kommt.

Die Kantate schließt mit dem Choral die im Zentrum der neuen Botschaft des Psalms 23 steht – Tröstung für alle die auf diesen Hirten in ihrem Leben warten:
„Der Herr ist mein getreuer Hirt,
dem ich mich ganz vertraue,
Zu Weid er mich, sein Schäflein, führt,
Auf schöner grünen Aue,
Zum frischen Wasser leit' er mich,
Mein Seel zu laben kräftliglich
Durchs selig Wort der Gnaden.“


Bach Cantata BWV 112 ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt!’
Uraufführung 8. April 1731 in Leipzig, Text: Wolfgang Meuslin 1530
Choral ,Der Herr ist mein getreuer Hirt’
Evangelisches Gesangbuch Nr. 274
Melodie: Allein Gott in der Höh sei Ehr’, Nicolaus Decius 1522
Evangelisches Gesangbuch Nr. 180

„Du bereitest für mir einen Tisch
Vor mein' Feinden allenthalben,
Machst mein Herze unverzagt und frisch,
Mein Haupt tust du mir salben
Mit deinem Geist, der Freuden Öl,
Und schenkest voll ein meiner Seel
Deiner geistlichen Freuden.“
Duett Sopran und Alt aus der Bach-Cantata BWV 104 ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt!’

„Denn dazu seid ihr berufen sintemal auch Christus gelitten hat für uns
Und uns ein Vorbild gelassen, daß ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen

Welcher keine Sünde getan hat, ist auch kein Betrug in seinem Munde erfunden
Welcher nicht wiederschalt, da er gescholten ward, nicht drohte, da er litt

Er stellte es aber dem anheim, der da recht richtet
Welcher unsre Sünden selbst hinaufgetragen hat an seinem Leibe auf das Holz
Auf daß wir, der Sünde abgestorben, der Gerechtigkeit leben

Durch welches Wunden ihr seid heil geworden
Denn ihr waret wie die irrenden Schafe
Aber ihr seid nun bekehrt zu dem Hirten und Bischof eurer Seelen.“
Epistel 1. Petrus Kapitel; 2 ff

„Bischof eurer Seelen“ – das ist die wirkliche Aufgabe des neuen Hirten der in der folgenden Choral-Cantata ‘Der Herr ist mein getreuer Hirt’ BWV 112 für den Sonntag ‚Misericordias Domini’, den zweiten Sonntag nach Ostern dargestellt wird. Bach führte die Kantate in der Nikolaikirche am 8. April 1731 erstmals auf.
Bischof – oder ‚Pastor’ – Lateinisch für ‚Hirte’ – wie der Pfarrer in der protestantischen Kirche in der Nachfolge Christi heute noch heißt. Christus ist der neue ‚Hirten König’ und Psalm 23 beschreibt sein Reich und seine Wirkung auf das Leben der gläubigen Seele.

Der Text der Bach-Cantata ist unverändert jener des Kirchenlieds von Wolfgang Meuslin, 1530 eine Umdichtung von Psalm 23. Das Lied wird auf die Melodie von ‚Allein Gott in der Höh sei Ehr’ von Nikolaus Decius von 1522 gesungen. Sein Inhalt, der Herr als guter Hirte, wurde traditionell auf Jesus gedeutet und entspricht so dem Evangelium. Damit konnte Bach es unverändert als Text benutzen. Schon im Eingangschor wird dieser Bischof festlich und fürstlich mit strahlenden Hörnern begleitet charakterisiert. In dieser Chor-Choralphantasie, wird die Melodie des ‚Deutschen Gloria’, ‚Allein Gott in der Höh sei Ehr’, in ein unabhängiges Orchesterkonzert eingebettet. Der Satz beginnt mit Hornsignalen, die von der Choralmelodie abgeleitet sind, dann konzertieren die Hörner mit den Streichern, die von Oboen verstärkt werden. Der Cantus firmus des Chorals liegt im Sopran, während die Unterstimmen imitierend geführt sind. Sir John Eliot Gardiner hat zu diesem Satz bemerkt, dass dieser ‚ein königliches Bild des guten Hirten zeichnet’:
„Der Herr ist mein getreuer Hirt,
Hält mich in seiner Hute,
Darin mir gar nichts mangeln wird
Irgend an einem Gute,
Er weidet mich ohn’ Unterlass,
Darauf wächst das wohlschmeckend Gras
Seines heilsamen Wortes.“

Die folgenden Sätze der Kantate verwenden den Choraltext unverändert, doch ist ihre Musik unabhängig von der Choralmelodie. Die Alt-Arie wird von der obligaten Oboe d’amore begleitet. Sie steht im pastoralen 6/8-Takt und besteht aus zwei ähnlichen Teilen. Der stetige Fluss der Oboen-Melodie kann als das ‚reine Wasser’ gedeutet werden, das der Text erwähnt, die Schritte im Continuo als Schritte ‚auf rechter Straß’:
„Zum reinen Wasser er mich weist,
Das mich erquicken tue.
Das ist sein fronheiliger Geist,
Der macht mich wohlgemute.
Er führet mich auf rechter Straß
Seiner Geboten ohn’ Ablass
Von wegen seines Namens willen.“

Der Bass beginnt den nächsten Satz las ein ‚Arioso’, vom Continuo begleitet und schildert das Wandern ‚im finstern Tal’:
„Und ob ich wandelt im finstern Tal,
Fürcht ich kein Unglück.“

Der zweite Teil ist ein dramatisches Rezitativ mit Streichern. das zunächst ‚Verfolgung, Leiden, Trübsal’ in einer gebrochenen melodischen Linie gegen gehaltene Akkorde ausdrückt, dann den Schutz ‚Dein Stab und Stecken trösten mich’ – der Hirtenstab, ein Bischofsstab:
„In Verfolgung, Leiden, Trübsal
Und dieser Welte Tücke,
Denn du bist bei mir stetiglich,
Dein Stab und Stecken trösten mich,
Auf dein Wort ich mich lasse.“

Das folgende Duett zwischen Sopran und Tenor zeigt die Freude an Gottes Tisch in einem fröhlichen Tanz, einer Bourrée:
„Du bereitest für mir einen Tisch
Vor mein' Feinden allenthalben,
Machst mein Herze unverzagt und frisch,
Mein Haupt tust du mir salben
Mit deinem Geist, der Freuden Öl,
Und schenkest voll ein meiner Seel
Deiner geistlichen Freuden.“

Die Kantate wird beschlossen durch einen vierstimmigen Choralsatz von den Hörnern festlich begleitet, in dem die Instrumente colla parte spielen:
„Gutes und die Barmherzigkeit
Folgen mir nach im Leben,
Und ich werd bleiben allezeit
Im Haus des Herren leben,
Auf Erd in christlicher Gemein’
Und nach dem Tod da werd ich sein
Bei Christo meinem Herren.“

Bach hat zu diesem Sonntag noch eine dritte Cantata zum 15. April 1725 komponiert, BWV 85 ‚Ich bin ein guter Hirt’. Ich werde diese nicht beschreiben – sie unterstreicht erneut den guten Hirten als den neuen Bischof der Seelen und beginnt mit Christi Worten: „Ich bin ein guter Hirt – ein guter Hirt lässt sein Leben für die Schafe“.

Ich empfehle die beiden besprochenen Bach-Cantatas zum Sonntag ‚Misericordias Domine’ in der Aufnahme des japanischen Dirigenten, Organisten, Cembalisten und Bach-Experten Masaaki Suzuki.
Suzuki, geboren 1954 im japanischen Kobe, begann bereits im Alter von 12 Jahren beim sonntäglichen Gottesdienst die Orgel zu spielen. Nach seinem Studium an der Tokyo National University of Fine Arts and Music in Tokio in den Fächern Komposition und Orgel setzte er seine Studien in Cembalo und Orgel am Sweelinck-Konservatorium in Amsterdam bei Ton Koopman und Piet Kee fort.
Seit 1990 ist er künstlerischer Leiter des Bach Collegium Japan, das sich vor allem durch seine Aufnahmen der geistlichen Cantatas von Johann Sebastian Bach einen Namen gemacht hat – in diesem Jahr wurde dieses Projekt mit der Ausgabe 55 der Einzel-CDs beendet. 2011 erhielt Suzuki den Bremer Musikfest-Preis. 2012 wurde ihm im Rahmen des Bach-Festes Leipzig aufgrund seiner Verdienste um die Pflege des Bach-Werks die Bach-Medaille verliehen.
Es ist schon mehr als ungewöhnlich, das ein japanischer Musiker sich so in die Welt der Bach-Cantatas vertiefen kann und ihre musikalische als auch theologische Sprache nachempfindet, wie es Masaaki Suzuki gelungen ist.
Er hat einen eigenen, hoch-eleganten, feinen, durchsichtigen Bach Stil entwickelt der seinen Aufnahmen unzählige internationale Preise eintrug.
Der Japaner arbeitet mit einem kleinen Chor und ausgesuchten Solisten teils europäischer, teils japanischer Herkunft.
Suzuki nahm die meisten der Cantatas in seiner Heimatstadt Kobe in der ‚Shoin Woman’s University Chapel’ auf – und fand dort ein akustisch perfektes Environment.
Der fernöstliche Bach-Experte, der beim schwedischen ‚BIS Label’ seine Aufnahmen herausbrachte, legte immer besonderen Wert auf die beste Aufnahmetechnik und die Wiedergabe seiner CD ist wirklich bestechend schön.
Suzuki hat einen fast perfekten, durchsichtigen barocken Klangteppich entwickelt und war der erste der seine Bach Cantatas auf dem SACD System herausbrachte.
Nun könnte man meinen, das jemand, der sich so um die Technik bemüht, wohl eher eine sehr kalte seelenlose Interpretation bevorzugt – ganz im Gegenteil.
Es ist kaum möglich sich dem Zauber der Bach Aufnahmen von Suzuki zu entziehen – das gilt auch für unsere Einspielungen der beiden ‚Hirten Cantatas’ die auf zwei der Suzuki-Cantata-CDs zu finden sind.

Die erste CD Johann Sebastian Bach ‚Cantatas’ Volume 19 mit dem Bach Collegium Japan, sowie den Solisten Yukari Nonoshita (Sopran), Robin Blaze (Altus), Makoto Sakurata (Tenor) sowie Stephen Mac Leod (Bass) unter der Leitung von Massaki Suzuki enthält unter anderem unsere zweite besprochene Cantata zum Sonntag ‚Misercordias Domini’ BWV 104 ‚Du Hirte Israel, höre!’.

Des Weiteren BWV 86 ‚Wahrlich, wahrlich ich sage euch’ zum Sonntag ‚Rogate’ die wir unten noch besprechen werden, die Cantata BWV 37 ‚Wer da gläubet und getauft wird’ zum Himmelfahrtage und schließlich BWV 166 ‚ ‚Wo gehest Du hin?’ zum Sonntag ‚Cantate’. Die CD ist zu haben bei BIS Records unter der Bestellnummer BIS CD 1261 oder bei Amazon

Die zweite CD Johann Sebastian Bach ‚Cantatas’ Volume 52 mit dem Bach Collegium Japan, sowie den Solisten Hana Blazikova (Sopran), Robin Blaze (Altus), Gerd Tuerk (Tenor) sowie Peter Kooij (Bass) unter der Leitung von Massaki Suzuki enthält unter anderem unsere zweite oben besprochene Cantata zum Sonntag Misercordias Domini BWV 112 ‚Der Herr ist mein getreuer Hirt’.

Des Weiteren eine der berühmtesten Bach-Cantatas BWV 140 ‚Wachet auf ruft uns die Stimme’ zum 27. Sonntag nach Trinitatis, und die Ratwahl-Cantata BWV 29 ‚Wir danken Dir, Gott, wir danken Dir’. Diese CD ist zu haben bei BIS Records unter der Bestellnummer BIS CD 1981.

Der nächste Sonntag am 4. Mai heißt 'Jubilate'. Mit ihm setzen wir die KlassikKompass-Reihe fort.


Ihr Herby Neubacher


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Meister des Mausoleums der Galla Placidia in Ravenna, “Der gute Hirte”, 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts. Quelle: Wicki Commons.
01. Meister von Cefalù: Mosaiken der Kathedrale von Cefalù, Szene: Engel, etwa 1150. Quelle: Wicki Commons.
02. „Agnus Dei“. Westfenster im Kirchenraum des Heiligen-Geist-Hospitals in Lübeck. Foto: Aroldius
03. CD-Cover Johann Sebastian Bach ‚Cantatas’ Volume 19
04. CD-Cover Johann Sebastian Bach ‚Cantatas’ Volume 52.