Meinung
Leipziger Buchmesse 2019 – Drei Tage in der Welt der Bücher

Wer hätte das gedacht: Die Leipziger Buchmesse 2019 konnte ihre Besucherzahl gegenüber 2018 sogar steigern. 286.000 Leser kamen in diesem Jahr, 2018 waren es 271.000. Ein gutes Zeichen in Zeiten, in denen oftmals von sinkenden Buchverkaufszahlen die Rede ist und von immer weniger Lesern. Davon war vor Ort rein gar nichts zu merken, weder auf dem Messegelände noch auf den Veranstaltungen des großen Lesefestes „Leipzig liest“.
Ganz im Gegenteil: Menschenmassen und jede Menge Neuerscheinungen auf dem Büchermarkt sprachen eine andere Sprache. 2.547 Austeller aus 46 Ländern waren diesmal auf dem Messegelände präsent. Insgesamt 3.400 Veranstaltungen wurden vom 21.-24. März 2019 in Leipzig geboten.

Wohin also heute, morgen, übermorgen? Am Ankunftstag fiel mir die Wahl leicht. Rechtzeitig zur Verleihung des mit insgesamt 60.000 Euro dotieren Preis der Leipziger Buchmesse in den Kategorien Belletristik, Sachbuch/Essayistik und Übersetzung kam ich auf dem Messegelände an. Und zwar so rechtzeitig, dass ich mir einen prächtigen Sitzplatz mit gutem Überblick auf das Bühnengeschehen zur Preisverleihung sichern konnte. Punkt 16 Uhr ging`s los. Sie, liebe Leser, wissen längst, wer die drei Preise gewann. Für mich aber waren die Namen zu nämlicher Stunde unbekannt und die Nennung erster Messehöhepunkt.

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Eva Ruth Wemme wurde zuerst auf die Bühne geholt: Sie erhielt den Übersetzerpreis für „Verlorener Morgen“ von Gabriela Adameşteanu (Die andere Bibliothek). Dieser vor 35 Jahren erschienene Roman gilt längst als Klassiker der modernen rumänischen Literatur. Ein einziger Tag im Leben der Protagonistin Anfang der 80er Jahre bildet die Klammer, die alles zusammenhält: den 1. Weltkrieg, den Terror der 50er Jahre, die Ceaușescu-Zeit. „Mit großem Gespür für den lästerlichen Ton seiner Erzählerin Vica hat Eva Ruth Wemme das Buch übersetzt“, lobte die Jury. Keine Frage: dieses Buch muss lesenswert sein!
Der zweite Gewinner betritt unter Applaus die Bühne: Harald Jähner. Er erhält den Leipziger Buchpreis für „Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955“ (Rowohlt Berlin), eine beeindruckende Zeitreise durch die deutschen Nachkriegsjahre, „voller Anschauung und Empathie“, so die Jury. Harald Jähner freut sich. Er sieht ein bisschen aus wie Richard Gere. Er lächelt auch so wie der und wirkt ziemlich sympathisch. Und dann wird der Name genannt, der wohl die größte Rolle spielt bei dieser Preisverleihung und dementsprechend gespannt erwartet wird: Anke Stelling ist der Name der Belletristik-Preisträgerin. Sie gewinnt den Preis mit „Schäfchen im Trockenen“ (Verbrecher Verlag). Es ist der Roman einer Aufsteigerin, die wie viele andere auch in den 80ern dachte, alle Menschen seien gleich. Eine Illusion, die sich im literarischen Rückblick als „verstörend uneindeutige, scharf belichtete Momentaufnahme der Gegenwart“ erweist, so die Jury.

Tag 2
Wohin zuerst nach aggressionsfreier Warteschlange, nach freundlicher Taschen- und Rucksackkontrolle? Eine schwierige Frage. Eine einfache Antwort ist diese: sich treiben lassen und keinem Plan folgen. Ich gebe zu, auch das ist nicht einfach. Viele Menschen haben die gleiche Idee. Gedränge in allen Gängen. Doch damit war zu rechnen. Taugt also nicht für Frust. Ich entschließe mich, erst einmal durch die Glashalle zu wandeln, die eine oder andere Lesebühne aufzusuchen, nach Möglichkeit Platz zu nehmen, ansonsten immer mal das Standbein zu lockern und auf diese Weise so entspannt wie möglich Lesungen und Gesprächen zu lauschen. Gesagt, getan.

Ich nehme Platz beim MDR und bin gespannt auf Ines Geipel, staatlich zwangsgedopte DDR-Sportlerin. Sie scheint ein Multitalent zu sein gemessen am Lebenslauf, den Moderator Björn Meine präsentiert: Sie lehrt heute als Professorin an der Ernst Busch-Hochschule für Schauspielkunst in Berlin, ist zudem Schriftstellerin und Publizistin, setzt sich seit vielen Jahren für die Wiederentdeckung der in der DDR unterdrückten Literatur ein, war langjährige Vorsitzende des Doping-Opfer-Hilfevereins. Wow! Was für ein Leben. Und was für ein Buch: „Umkämpfte Zone: Mein Bruder, der Osten und der Hass“ (Klett-Cotta), so der Titel. Verbunden werden Familien- und Zeitgeschichte. Gesucht werden Antworten auf wichtige Fragen: Woher kommt die große Wut im Osten, woher der Hass auf den Staat? Ines Geipel erinnert ihre ehemaligen Genossen von einst daran, dass „wir diesem Land die Einheit gebracht haben“. Beifälliger Applaus. „Die Erfahrungswucht des Ostens ist etwas, das uns stark machen kann. Ich bin mir sehr sicher, dass dies gelingt“, sagt Ines Geipel am Ende des Gesprächs. Das Publikum scheint gleicher Meinung zu sein, gemessen am tosenden Applaus.

Weil mein spezielles Interesse der Lyrik gilt, geht`s jetzt zum Forum Literatur in Halle 4. Hier werden die 10 besten deutschen und die 10 besten ins Deutsche übersetzten Lyrikbände des Jahres vorgestellt. Links am Tisch hat Moderator Holger Pils, Leiter des Lyrik Kabinetts in München, Platz genommen. Flankiert wird er in der ersten Runde von Sandra Burkhardt, deren Lyrikband „Wer A sagt“ zu den empfohlenen Lyrikbänden 2019 zählt. Daneben sitzt Literaturkritiker Michael Braun. Später nimmt rechts außen Thomas Wohlfahrt Platz, Leiter des Hauses für Poesie und des Poesiefestival Berlin. Der eine oder andere geplante Podiumsteilnehmer habe leider nicht kommen können, hören wir. Aus Krankheits- und anderen Gründen. Beispielsweise Lyriker Nico Bleutge, der in diesem Fall als Kritiker aufgetreten wäre. Er konnte nicht kommen, weil er zurzeit in der Villa Massimo in Rom „sein muss, der Arme“, sagt Thomas Wohlfahrt. Vielleicht war das nicht ernst, sondern ironisch gemeint oder aber dieser Mann ist schlichtweg sarkastisch angelegt. Ich kenne ihn nicht, kann es nicht wissen, nicht beurteilen. Diese Äußerung löste jedenfalls ungebremstes Missfallen und demzufolge heftiges Kopfschütteln bei mir aus. Hatte ich doch kürzlich im Zeit-Dossier gelesen, wie sehr Bleutge diesen geschützten Raum der Villa Massimo schätzt! Doch es kam noch schlimmer für mich, denn die von Sandra Burkhardt vorgetragenen Gedichte blieben mir verschlossen. Ich verstand sie nicht. Jedenfalls nicht beim einmaligen Hören. Ist ja nicht unbedingt ein schlechtes Zeichen für Lyrik. Ich werde sie also lesen. Getreu dem Motto, wer A sagt, muss auch B sagen.

Tag 3
Am Stand von MDR Kultur hat Feridun Zaimoglu Platz genommen. Der seit mehr als 30 Jahren in Schleswig-Holstein lebende, türkischstämmige Autor hat sich diesmal literarisch der „Geschichte der Frauen“ (Kiepenheuer & Wisch) angenommen. Mal sehen, was er dazu sagen hat. Mal sehen, was Moderator Rainer Moritz, Leiter im Literaturhaus Hamburg, aus ihm herauskitzelt. Ich persönlich finde es anmaßend, dass ein Schriftsteller glaubt, er als Mann könne Frauen und ihrer Geschichte endlich eine Stimme geben, die ihnen bisher verwehrt blieb, die ihnen bisher niemand gegeben hat. Endlich sagt einer das, was Frauen wirklich zu sagen haben. Danke Herr Zaimoglu. „Ich bin ein Werkzeug der Geschichten, ein Werkzeug des Erzählens“, sagt er gerade. Gemeint sind die zehn Geschichten aus der Bibel, der Mythologie, den Legenden, die er in diesem Buch Frauen in den Mund gelegt hat. Immerhin, er gibt zu, der Vorwurf, „ein Mann erhebt die Stimme, um die Geschichte der Frauen zu erzählen“, sei berechtigt. Das Buch solle aber nur ein kleiner Beitrag zur Geschichte der Frauen sein. Er sagt auch: „Ich schreibe nicht über die Frau, ich bin diese Frau, ich bin mit ihr verschmolzen.“ Im Klappentext des Verlages heißt es, „es sind Menschen, deren Sicht auf die Dinge nicht überliefert wurde. Weil Männer geboten, die Wahrheit tilgten und die Lüge zur Sage verdichteten“. Hierzu Feridun Zaimoglu im MDR Kultur-Gespräch mit Rainer Moritz: „Es gibt die weibliche Wahrheit und es gibt die männliche Lüge.“ Er ist ein Mann. Er darf also lügen.

Über „Die Liebe im Ernstfall“ (Diogenes) schreibt und spricht Daniela Krien im „Bücherfrühling“ bei Deutschlandfunk Kultur. Fünf Frauen die den Fall der Mauer als Kinder erlebt haben, sind ihre Protagonistinnen. Sie sind längst angekommen in grenzenloser Freiheit. „Herkunft spielt eine große Rolle“, davon ist die in Jena aufgewachsene Autorin überzeugt. „Wir im Osten Geborenen haben etwas ganz anderes erlebt als die im Westen Geborenen.“ Die Erfahrung des Scheiterns, des Bruchs wirke in allem nach, auch in den Beziehungen. Wie man aus Krisen wieder herausfindet, das habe sie beim Schreiben des Buches am meisten interessiert. Krisen seien immer wichtig für einen Schriftsteller. „Ich denke, dass sich die tiefe Liebe tatsächlich erst im Ernstfall beweist.“
Zu guter Letzt erlebe ich einen schönen Zufall: Auch Saša Stanišić, einer meiner Lieblingsautoren, ist beim Bücherfrühling zu Gast und anschließend auf dem blauen Sofa beim ZDF. Auch in seinem neuen Roman geht es um das Thema Heimat. „Herkunft“ (Luchterhand) heißt dieses Buch. Saša Stanišić liest schnell, und er spricht schnell. Aber immer kann ihm das Publikum folgen, hört begeistert zu, schmunzelt hin und wieder, lacht und applaudiert zwischendurch. Eine der Romanfiguren heißt so wie das Buch: Dr. Herkunft. Es handelt sich hierbei um einen Zahnarzt, eine witzig geschilderte, möglicherweise auch gewitzte, aber keine Witzfigur. Hauptsächlich aber geht es in dem Buch um Heimat und Herkunft, um die Bedeutung von Familie und Landschaft. Der eigentliche Grund, dieses Buch zu schreiben, ist der, um den es auch in Stanišić bisherigen Büchern geht: „Es geht immer darum, etwas festzuhalten, das verschwindet“, so der Autor. In der Sendung „druckfrisch“ vom 17. März sagt Literaturkritiker Dennis Scheck über dieses Buch: „Eines der intelligentesten, geistsprühendsten und - nicht zuletzt - formal innovativsten Bücher dieses Frühjahrs. Eine echte Freude zu lesen!“ Klarer Fall: Dieses Buch ist mein Favorit und mein letztes Erlebnis auf der Leipziger Buchmesse 2019. Bekanntlich soll man aufhören, wenn`s am schönsten ist.

Leipziger Buchmesse 2019

das nächste Mal 12.-15. März 2020
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Header: Foto PR/Leipziger Buchmesse UK
Galerie:
01.
Preisverleihung bei der LBM. Foto: Marion Hinz
02. Preisträher. v.l.n.r. Harald Jähner: "Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945-1955" (Rowohlt Verlag) | Eva Ruth Wemme: übersetzte aus dem Rumänischen: "Verlorener Morgen" von Gabriela Adameşteanu | Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen (Verbrecher Verlag)

03. Ines Geipel im Gespräch mit Björn Meine bei der Leipziger Volkszeitung. Foto: Marion Hinz
04. Feridun Zaimoglu im Gespäch mit Rainer Moritz. Foto: Marion Hinz
05. Reinhard Kuhnert. Foto: Marion Hinz
06. Sascha Stanicic. Foto: Marion Hinz
07. Impression Leipziger Buchmesse. Foto
PR/Leipziger Buchmesse UK
08. Flaggenmasten vor der Messe. Foto: Marion Hinz