Meinung
Pina Bausch und das freie Theater – eine Reise in das Jahr 1983

Als ich Anfang der 80er Jahre aus Ostfriesland zum Studium nach Hamburg kam, da war im Tanz und im Theater schon seit einigen Jahren der Teufel los. Die Ölkrise, der Doppelbeschluss, die RAF-Anschläge, der Radikalen-Erlass hatten ihre Spuren auf den Bühnen der Republik hinterlassen. Nur wusste ich nichts davon.
Niels-Peter Rudolph hatte während der Sanierung und Auslagerung des Hamburger Deutschen Schauspielhauses die Intendanz übernommen und bespielte die leerstehenden Hallen der ehemaligen Maschinenfabrik Kamp und Nagel. Am Thalia Theater regierte Peter Striebeck unter dem Applaus des saturierten Bürgertums, gefolgt von Jürgen Flimm. Theater war für mich das gekonnte Aufsagen von Bühnen-Klassikern, Tanz war Ballett in Spitzenschuhen, hier: John Neumeier.
Doch dann sah ich in den damals rohen und unbeheizten Kampnagelhallen, in die es auch mal hineinregnete, so unglaubliche Dinge, dass ich ein für allemal dem Tanz und dem Theater verfiel.

Pina Bausch ist ganz sicher dafür verantwortlich. Ich sah ihr Stück 1980: Menschen, die sich in feiner Abendgarderobe, Herren in Anzügen und Damen in Hackenschuhen, auf einer riesigen Rasenfläche bewegten, redeten, sangen und gestikulierten, Tänzer, die kein bisschen tanzten. Und wenn, dann allenfalls in Andeutungen, kurz in Zeitlupe, oder ganz hinten. Frauen, deren Brüste man unter der dünnen Kleidung deutlich erkennen konnte, Männer, die ihre Anzughosen herunterließen und ihre weißen Feinripp-Unterhosen vorführten. Menschen, die sich immer wieder in groteske, lächerliche, scheinbar erniedrigende Situationen begaben, und ihren Schmerz, Ihre Verletzlichkeit und ihre Sehnsucht, ihren Liebeshunger darin entdeckten. Es waren lauter Schnipsel von mindestens hundert Geschichten. Ein Mosaik aus schnell hingeworfenen, anscheinend improvisierten Szenen, die einen Raum für Verwirrung schufen. Für Fragen und Gefühle. Es war umwerfend, und oft genug komisch.
Pina Bausch war auf der Suche. Sie hatte ihren Mann und Bühnenbildner Rolf Borzik verloren und konnte kaum verstehen, dass manche Zuschauer sich davon – bis hin zu Morddrohungen - provoziert fühlten. Die Radikalisierung der Gesellschaft fand und findet auch auf den Bühnen statt. 1980 war mein Aha-Erlebnis im Hamburger Theater.

Nacheinander sah ich Bandoneon, Café Müller, Nelken, Kontakthof und Arien. Zu verdanken war dies unter anderem Niels-Peter Rudolph, der 1983 in Hamburg die Tanztheaterwochen unter dem Schirm des Schauspielhauses auf Kampnagel und im Operettenhaus veranstaltete. Ich erlebte unter anderem Gerhard Bohner und Johann Kresnik, Pinas Tänzerin Vivienne Newport, die ihre eigene Compagnie gegründet hatte, Reinhild Hoffmann und die Gruppe Rosas von Anna Teresa de Keersmaker. Also alle, die nach 1968 mit den Konventionen des klassischen Tanzes gebrochen hatten und irgendwann auch den Modern Dance hinter sich ließen. Pinas Tanztheater wurde wegweisend als Erlebnisfeld des Unfertigen, in dem man Individuen wie Mechthild Großmann begegnete, die mit ihrem Tenor und ihrer Mähne heute noch im Münsteraner Tatort ein tolles Solo hinlegt. Individuen wie Héléna Pikon und Ruth Amarante, die heute noch in der Wiederaufnahme von 1980 tanzen, ja tanzen – und wie! Sie sind der lebende Beweis, dass Pinas Einstellung „Mich interessiert nicht, wie sich Menschen bewegen, sondern, was sie bewegt“, eine radikale Entrümpelung der alten Überzeugungen nach sich zog . Wer wollte in jenen Zeiten etwa Klippklappkomödien wie Goldonis „Der Diener zweier Herren“ sehen? Doch nur die Alten, die Angestaubten. Die Erneuerung des Theaters hautnah mitzuerleben war einfach aufregend.
Die Methoden sich einen Stoff zu erarbeiten, waren im Tanz und im Theater auf einmal die gleichen: Die Künstler gaben sich gegenseitig Aufgaben, sammelten aus ihren Lebenserfahrungen und ihrem Alltag und bauten daraus ein Stück. „Mach mal etwas Gefährliches mit einem niedlichen Gegenstand“, war etwa ein Auftrag von Pina Bausch, die aus solchen indirekten Fragen an ihre Tänzer ihre Bilder schuf. Natürlich gab es auch dafür internationale Vorbilder: Lee Strasberg in New York oder Jerzy Grotowski in Polen, Stanislawski und Meyerhold. Das Aufspüren der eigenen Geschichte und der eigenen Beziehung zu einem Thema waren der neue Schlüssel, um ein Spiel ohne Grenzen zu eröffnen.

Die Öffnung des menschlichen Innenraums, der im Tanztheater dafür sorgte, dass alle theatralen Formen ausprobiert wurden, befruchtete umgekehrt auch das Theater. Schon in den Siebzigern experimentieren etwa Peter Zadek und Wilfried Minks in Bochum und Bremen mit neuen Spielformen.

Auf Kampnagel jedoch, und das ist letztlich dem Zufall und dem Zeitgeist zu verdanken, entstand erstmals diese einmalige Wechselwirkung von Innen- und Außenraum. Im selben Jahr wie Pina Bauschs 1980 war in Hamburg zum Beispiel Christof Nels Inszenierung von Titus Andronicus in der damals größten Kampnagelhalle zu sehen. Ein Fest des Bühnenbildners Erich Wonder. Weit unten sah man Gerd Kunath als Titus und Rotraut de Neve als goldbehangene Gotenkönigin auf einer kaum beleuchteten fußballfeldlangen Bühne. Die Zuschauer, in sechs engen Reihen auf Tribünen an den beiden Längsseiten zusammengepfercht, spähten durch ein Gitternetz auf den blutigen Horror, den Shakespeares Könige beim Abschlachten ihrer Kinder veranstalteten. Oder Gustav-Peter Wöhler, der im später abgerissenen Spritzenhaus die Göbbels-Tagebücher las. Die Bestie Mensch im Circus Maximus, direkt vor der Haustür– plötzlich und schonungslos war sie da, mit dem ungeheuren Zwang zum Nachdenken.

Peter Brooks großartiges Gastspiel von Carmen setzte kurz vor dem Auszug des Schauspielhauses 1983 einen Meilenstein in der Geschichte Kampnagels. In der alternativen Theaterszene Hamburgs, die sich hier mittlerweile versammelt hatte, war man sich einig. Der Laden wurde in einer Besetzungsprobe besetzt und 1984 zum Ort des ersten Sommertheater-Festivals und zur bundesweiten Heimat des Freien Theaters gemacht.

Das Wunder geschah: Ein Haufen versprengter Künstler konnte retten, was zu retten war: Raum für die wachsende freie Theaterszene. Man stritt sich heftig über Inhalte, die einen wollten mehr Unterhaltung, die anderen mehr intellektuellen Anspruch. Das war gut so. Viele Dinge konnten geklärt werden, vor allem durch das Glücken und Scheitern von Konzepten. Und es gingen 16 Jahre und viele Leitungsgremien dahin, bis die Bedrohung des Geländes durch die Abrissbirne vom Tisch war und Kampnagel politischen Bestandsschutz bekam.

Inzwischen sehe ich das, was mich einst auf Kampnagel begeisterte, auf den städtischen Hamburger Bühnen. Die Öffnung in alle Richtungen der Kunst und Musik. Wer heute, etwa wie Benjamin Henrichs 1985 in der Zeit anlässlich einer Schauspielhaus-Inszenierung darauf beharrt, dass man „vom Regisseur ein Minimal-Interesse dafür verlangen muss, wie zu Tschechows Zeiten die Leute aussahen“, ist auf dem falschen Dampfer. Oder?
Längst hat das Stadttheater die Formen des freien Theaters in sein Spielrepertoire übernommen,. Die von Henrichs als unfallträchtig geschmähte, „liebenswerte Neigung des Regisseurs freihändig zu fahren und sich in der Gegend umzuschauen“ ist auf allen Bühnen präsent. Gleichzeitig ist Kampnagel schick saniert und zum etablierten Gastspielort geworden. Ein Win-Win-Klassiker.

Und so sage ich mir, wenn ich das Remake von Pina Bauschs 1980 heute sehe, und die zarte skandalöse Wucht von damals wiedererlebe, dass diese Revolution im Tanztheater und im Theater nicht mehr rückgängig zu machen ist und ihre Kinder längst erwachsen sind, Pina sei Dank.

Lesen Sie auch die Rezension von Isabelle Hofmann: „1980 – Ein Stück von Pina Bausch“


Abbildungsnachweis:
Header: Pina Bausch 1980. Foto: Zerrin Aydin Herwegh

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