CDs KlassikKompass

Es soll die Inschrift einer alten Brücke in Wien gewesen sein, die den Leiter und Bariton des in Saarbrücken beheimateten „Daarler Vocal Consorts“, Georg Grün, zur Komposition von „Lost in Transition“ inspirierte. Die Inschrift trägt folgende tröstenden Worte:
„Alles ist nur Übergang.
Merke wohl die ernsten Worte:
Von der Stunde, von dem Orte
Treibt dich eingepflanzter Drang.
Tod ist Leben, Sterben Pforte.
Alles ist nur Übergang.“
Andere verorten diese Worte im Werk von Johann Wolfgang von Goethe.


Mit dem Leben als Übergang beschäftigt sich die Menschheit seit Jahrtausenden. Nun, was bedeutet es im Übergang verloren zu sein? Im Übergang von und nach – wohin? Um was für ein räumliches und zeitliches Konstrukt handelt es sich?
Ist es die Vorhölle Dante Alighieris und dessen Läuterungsberg? Kommt man von dort weiter ins Paradies? Als Wanderer in das Goldene Zeitalter eines Nostradamus. Oder wie es die Schriftstellerin Hilde Domin (1909-2006) einmal in ihrem erstem Gedichtband „Nur eine Rose als Stütze“ formulierte: „Ich setzte den Fuß in die Luft und sie trug“.
Auch bei Heraklit von Ephesos ist alles im Werden und Wandel; panta rhei, „Alles fließt“ – es bleibt nichts wie es ist und steht in einer spannungsgeladenen Einheit. Sein poetisches Denken speist sich vergleichend aus Naturvorgängen und überträgt sie auf das Leben.
Im Buddhismus heißt es: nichts ist beständiger als die Unbeständigkeit. Der Übergang in ein neues Leben – zyklisches Reinkarnieren bis zum Nirwana, bis alles sich auflöst und eins wird, auch jedwede Vorstellungskraft. Der Übergang liegt zwischen Raupe und Schmetterling, im Kokon der Zeit, sich entfaltend oder vertrocknend, es gibt immer eine Alternative, auch im Übergang.
All dies ist in der Komposition von Georg Grün latent hörbar. Es ist das letzte und jüngste Stück auf der CD und endet mit dem Satz: „All is but mere transition“ (Alles ist nur Übergang).

altDie Brücke ist das Symbol für den Übergang, so verbindet man Ufer mit Ufer, Musik mit Musik, Gedanken mit Gedanken. Brückenartig verbunden sind auch die Kompositionen auf der CD, quer durch die Zeiten hinweg – der älteste der vierzehn Komponisten ist Carlo Gesualdo (1566-1613), der jüngste Reiko Füting (1970). Alle eint das Thema des Übergangs, aber alle interpretieren es anders: Mal ist es der Übergang vom Leben in den Tod wie bei dem bereits erwähnten Carlo Gesualdo, bei Burkhard Kinzler (1963) und bei Georg Grün (1960), mal sind es die Jahreszeiten wie bei Edvard Grieg (1843-1907), Francis Poulenc (1899-1963) oder Ivan Moody (1964), mal ist es der Übergang vom Tag zur Nacht wie bei Johannes Brahms (1833-1897). Die Natur ist Sinnbild für den Zyklus des Lebens – wie bei Heraklit. Die Tages- und Jahreszeiten tragen in den Texten von Hermann Hesse, Henrik Ibsen und Heinrich Heine metaphorische Nuancen in sich.

Wer auf Grund des neblig, herbstlich eingehüllten Covermotivs glaubt, die CD würde sich lediglich der Melancholie hingeben, tröstende Worte bereitstellen und tränenreich Abschied nehmen, der wird eines besseren belehrt, wenn er die CD in seiner Bandbreite angehört hat. Die preisgekrönten Chorstimmen der sechs Protagonisten des „Daarler Vocal Consorts“ bewegen die Gefühle in unterschiedlichen Übergangsräumen und kreieren fein differenzierte Stimmungen zwischen Hoffnung und Angst, zwischen Liebe und Vergänglichkeit und zwischen Weltschmerz und Lichtsuche.

Entgegen aller Mutmaßungen im Begleittext ist an dieser Musikzusammenstellung gerade das Besondere, dass die Uhr eben nicht stehenbleibt, sondern sich die Zeit ins Unendliche dehnt: „All is but mere transition“.


Daarler Vocal Consort: Lost in Transition

Label: Rondeau
Nr. ROP6087
Hörprobe