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Zuckerguss abgekratzt: Harnoncourt dirigiert Johann Strauss II

Nikolaus Harnoncourt gehört zu den Pionieren des Originalklang-Musizierens und geht auch beim Wiener Walzerkönig auf die revolutionären Wurzeln der Walzer-Musik zurück.
Es war ein Siegeszug ohnegleichen, eine Massenbegeisterung jenseits aller Standesunterschiede, als sich sich der Wiener Walzer im 19. Jahrhundert die Tanzsäle der Alten Welt eroberte. Wiener Walzer, das war etwas anderes als das bedächtige, fein ritualisierte und an Fingerspitzen geführte Menuett der Feudalgesellschaft, wie es von Roman Polanski in seinem Film „Tanz der Vampire“ großartig parodiert wird. Der Walzer war Musik einer neuen Zeit, die nicht zufällig fast gleichzeitig mit der Französischen Revolution die Bühne betrat. Zuerst in der Oper „Una cosa rara“ von Vicente Martín y Soler, die 1786 in Wien die erste große Walzerwelle auslöste.

Strauss - HarnoncourtWalzer war revolutionär: ungewohnt enger Körperkontakt, einfach schnelle Drehungen statt vieler komplizierter Tanzfiguren, in den wirbelnden Massen riesiger Tanzsäle, die 1000 Paare und mehr fassten, konnte man nur mit individuellem Ausdruck bella figura machen. So wie im Tanzsaal „Zum Sperl“ in der Leopoldstadt, eröffnet 1807. Das war getanzte Lebensfreude und Egalité, noch bevor sich das Bürgertum auch die politischen Schalthebel gesichert hatte. Der wilde Modetanz eroberte rasch die höfischen Bälle etwa rund um den tanzenden Wiener Kongress. Bei dem ein adliger Besucher verblüfft registrierte: „Man muss in Wien mitansehen, wie beim Walzer der Herr seine Dame nach dem Takt unterstützt und im wirbelnden Laufe hebt, und diese dem süßen Zauber sich hingibt und ein Anflug von Schwindel ihrem Blick einen unbestimmten Ausdruck verleiht, der ihre Schönheit vermehrt. Man kann die Macht begreifen, die der Walzer ausübt.“

Gewiss gab es kritische Stimmen: Ein gewisser Frederic Chopin nörgelte 1830: „Unter den zahlreichen Wiener Belustigungen sind die Abende in den Gasthäusern berühmt, wo zum Nachtmahl Strauss oder Lanner Walzer aufspielen. Nach jedem Walzer ein ungeheurer Beifall; und wenn sie Quodlibet spielen, das heisst ein Gemisch aus Opern, Liedern und Tänzen, so sind alle Zuhörer so entzückt, dass sie nicht wissen, was sie mit sich beginnen sollen. Dies beweist den verdorbenen Geschmack des Wiener Publikums.“

Es war der 1825 geborene Johann Baptist Strauss, Sohn des schon berühmten gleichnamigen Walzerkomponisten und -kapellmeisters, der den Wiener Walzer zu den Gipfelpunkten seiner Eleganz führte und sich bis heute den Titel „Walzerkönig“ sicherte. Anerkannt sogar von musikalischen Größen wie dem Musikrevoluzzer Richard Wagner, der ihn „den musikalischsten Schädel“, nannte, „der mir je untergekommen ist“. Und der eher schwermütige Strauss-Freund Johannes Brahms honorierte die Kunst des Donau-Walzers mit den Worten: „Leider nicht von mir!“
Der Wiener Kongress hatte die Walzer-Manie in ganz Europa verbreitet, Johann Strauss II verkaufte seine Musik nach Russland, Asien, China udn Südamerika, mit ihm überquerte sie den Atlantik und eroberte Amerika; da war alles noch ein bisschen größer: In Boston dirigierte er mit 20 Subdirigenten ein Orchester von 20.000 Musikern, sein Honorar: 100.000 Dollar – einer pro Zuhörer.

Eine erstaunliche Karriere für ein Tanzformat, das Vormärz-Kaiser Ferdinand I. noch auf exakt acht Minuten Dauer festschreiben und zu einem eleganten Schweben zurechtzähmen wollte. Und für einen Sympathisanten der 1848er-Revolution, der seine Kapelle damals die „Marseillaise“ wowie einen „Freiheits-Walzer“ und einen „Revolutionsmarsch“ spielen ließ. Was Kaiser Franz Josef I. schwerst übelnahm, er ließ den Renitenzling 15 Jahre auf den schönen Titel „k.k. Hofball-Musikdirektor“ warten.

Zuckerguss und Marmelade abgekratzt, Wien-Getümel reduziert
Wie aber spielt man solche Musik heute adäquat? Sicher nicht so wie ein André Rieu, der die Strauss-Walzer hemmungslos unter weiteren Zuckerguss-Schichten erstickt. Schon eher so wie der legendäre Willy Boskovsky, der ein Vierteljahrhundert lang die Wiener Philharmoniker bei ihren legendären Neujahrskonzerten dirigierte: Da ist ein Hauch des Rauschhaften, Ekstatischen dieser Musik zu spüren, und gleichzeitig auch Alt-Wiener Gemütlichkeit mit der notorisch ein Spürchen vorgezogenen Zwei und der um eine Winzigkeit verschleppten Drei im Walzertakt.

Oder doch wie Nikolaus Harnoncourt, Wiener aus altem Adel (Johann Nikolaus de la Fontaine und d’Harnoncourt-Unverzagt), der die Revolution des Originalklangs vorangetrieben hat? Hörbar jetzt auf einer neu zusammengestellten Box (Warner Classics) mit sieben CDs aus der Reihe seiner Johann-Strauss-II-Aufnahmen. Als er sich Strauss II, dem Sohn, zuwendete, hatte er erstmal viel Arbeit: Zuckerguss und Marmelade abkratzen, Wiener Getümel und in Konventionen erstarrte Seligkeit zurückfahren. Harnoncourt ging auf die Suche nach der revolutionären Sprengkraft, die den Walzer so populär gemacht hat. Das heißt: Forschungsarbeit in den Manuskripten und ein Rekonstruieren der Originale, die vielfältig, aber selten zu ihrem Besseren bearbeitet und in ihrer Substanz verwässert worden waren (weil das den Kapellmeistern Rechte an der Bearbeitung sicherte). Er wählt oft rasche Tempi, bevorzugt ein sachlicheres und härteres Musizieren.

Harnoncourt verweigert auch bei Strauss den bedingungslosen Wohlfühlklang und eingeschliffene Routinen. Dafür hat er auch bei seinen Musiker die Strauss-II-Werke neu verortet: Die „Fledermaus“, der Prototyp der Wiener Operette, einst ein recht politisch-kritisches Stück und ein Fall für die Zensur, sei bittschön genau so ernst zu spielen wie Bachs „Matthäus-Passion“, und ihre logische Fortsetzung sei immerhin Bergs „Lulu“.

Anzuhören ist in dieser Box das Ergebnis dieser Haltung in der aufmüpfig-frischen „Fledermaus“-Aufnahme von 1987, die Harnoncourt mit dem Concertgebouw Orchestra Amsterdam einspielte – großartig besetzt (Eisenstein: Wernner Hollweg, Rosalinde: Edita Gruberova, Prinz Orlovsky: Marjana Lipovsek, Adele: Barbara Bonney, Frosch: André Heller). Das ist wunderbar erz-wienerisch und rebellisch zugleich.

Von 1994 stammt die Live-Aufnahme des „Zigeunerbarons“ mit den Wiener Symphonikern, zu dem Jürgen Flimm die Dialoge neu geschrieben hat. Die Walzer-Preziosen „An der schönen blauen Donau“, „Geschichten aus dem Wienerwald“, „Wiener Bonbons“ samt etlichen Märschen und Polkas hat Harnoncourt ebenfalls mit dem Concertgebouw-Orchestra eingespielt. Weiter geht’s im Orchester-Vergleich mit den Berliner Philharmonikern, die u.a. den Kaiser- und den Frühlingsstimmen-Walzer beisteuern, mit großem Effekt und feinem Gespür für Wienerische Nuancen, die hier aber immer ein wenig als reflektiertes Zitat erklingen.

Und als Krönung ist da schließlich das Neujahrskonzert 2001, das erste, zu dem die Wiener Philharmoniker den gefeierten Maestro einluden (was sie für 2003 noch einmal wiederholten). Da kommen dann auch Johann Strauss Vater und Joseph Lanner zu ihrem Recht. Harnoncourt treibt an und pfeffert kräftig nach, schwelgt aber auch zuweilen in warmer und manchmal verträumter Klangschönheit – mehr Wien geht wirklich nicht.


Nikolaus Hanoncourt: Johann Strauss II. Box (7 CDs)
Warner Classics
8256 4622 2391


Videos:
Fledermaus-Ouvertüre
Ohne Sorgen, Josef Strauss aus Neujahrskonzert 2001, Wiener Philharmoniker

Hörbeispiele:
Kaiser-Walzer aus Neujahrskonzert 2001, Wiener Philharmoniker
Radetzky-Marsch aus Neujahrskonzert 2001, Wiener Philharmoniker


Abbildungsnachweis:
Header: Historische Grafik des Tanzsaals im "Sperl", Wien
CD-Cover