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Irland © Paolo Trabattoni

 

Über das Leben in Nordirland in den 1970erJahren: „Der Roman „Milchmann“ ist stilistisch vollkommen unverwechselbar. In einem Moment beängstigend, dann wieder inspirierend. Überwältigend“, so die Jury des Man Booker Prize, mit dem Anna Burns „Milkman“ 2018 als erster irischer Roman überhaupt ausgezeichnet wurde.
Das Buch wurde international zur Sensation, erhielt zahlreiche weitere Preise. Jetzt ist das brillante literarische Werk im Tropen Verlag auf Deutsch in der wunderbar stimmigen Übersetzung von Anna-Nina Kroll erschienen.


„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb“, so beginnt das Buch und nimmt sogleich Fahrt auf und vieles vorweg: den Tod des Peinigers der 18jährigen Protagonistin, den lakonischen Stil der Autorin und deren besonderen Kniff, alles und alle zu anonymisieren. Ob „Schwager Drei“ oder „Vielleicht-Freund“ oder auch nur ein namenloses Auto, „ein silberner Null-x-Irgendwas“ oder die 18Jährige, die „Mittelschwester“, „Vielleicht-Freundin“, „Mitteltochter“ heißt und somit ebenfalls namenlos bleibt. Selbst das feindliche England wird nicht so benannt, sondern stattdessen als das „Land auf der anderen Seite der See“ beschrieben.
Anna Bruns Foto Eleni StefanouDabei weiß die Autorin ganz genau, wovon sie spricht, von welchem Land, von welchen Menschen, von welchem Krieg: Anna Burns wurde 1962 in Belfast geboren, sieben Jahre vor Ausbruch des Nordirlandkonflikts. Sie wuchs in Ardoyne auf, einem katholisch geprägten Arbeiterviertel und Hochburg irischer Nationalisten. Hier kämpften bis in dies späten Neunziger paramilitärische Organisationen wie die IRA mit Bombenanschlägen und bewaffneten Morden für die Loslösung vom protestantischen England. Im Roman werden die Fronten in „Wir“ und „Die“ eingeteilt. In Anna Burns (Roman-)Land gibt zahlreiche unausgesprochene Regeln und Gesetze wie unzulässige und unerlaubte Namen. Diese werden mit Hilfe einer ständig aktualisierten Liste von einem buchhalterisch geeigneten, Zahlen zugeneigten Paar verwaltet. Wenn sich jemand dennoch traute, „einen neuen, noch nicht etablierten, noch nicht legitimierten Namen auszuprobieren, dann merkte man selbst und auch das Baby ziemlich schnell, ob man einen Fehler gemacht hatte oder nicht. […] Überall und mit allem, was man tat, gab man ein politisches Statement ab, ob man wollte oder nicht.“ Gewalt, die Unterdrückung von Frauen und die Zerstörung von Familien in diesen kriegerischen Zeiten sind auch hier – wie in allen bisher vier Romanen von Anna Burns – für immer und ewig wiederkehrende Themen.

Buchumschlag MilchmannDer Roman „Milchmann“ erzählt die Geschichte der „Mittleren Schwester“ in einer namenlosen Stadt, die Belfast so sehr ähnelt, dass wir annehmen dürfen, es handelt sich um genau diese Stadt. Die Handlung setzt ein, als der Milchmann in das Leben der 18Jährigen tritt. „Ich wusste nicht, wessen Milchmann er war. Unserer jedenfalls nicht. Ich glaube, er war niemandes Milchmann“, erzählt uns Mittlere Schwester. Sie ist diejenige, „die im Gehen liest“, die noch nicht verheiratet ist – was ihre Ma für egoistisch hält. Sie ist diejenige, deren Bruder „verschollen war, vom Erdboden verschluckt“, deren toter Vater als Junge viele Male vergewaltigt worden war, so dass sich in ihm eine Achtlosigkeit breitgemacht hatte, „eine Vernachlässigung, eine Ablehnung meiner selbst“. Sie ist diejenige, die von der gewalttätigen Realität, die sie umgibt, nichts wissen will. Was sie weiß, ist: „Strahlen war also schlecht, und »zu traurig« war schlecht, und »zu fröhlich« war schlecht, weshalb man am besten gar nichts war; am besten auch gar nichts dachte“ […]
Diese junge Frau, die am liebsten unsichtbar wäre, erregt ungewollt die Aufmerksamkeit eines mächtigen, älteren Mannes – Milchmann. Aber hier, in dieser namenlosen Stadt, erweckt man besser niemandes Interesse. Und so versucht sie, alle in ihrem Umfeld über ihre Begegnungen mit dem Mann im Unklaren zu lassen. Aber Milchmann ist hartnäckig. Er setzt der jungen Frau mit scheinbar harmlosen Informationen zu, die ihr bedeuten, er weiß alles über sie. Und das Dorf tut sein Übriges. Es hängt ihnen eine Affäre an, die höchst brisant erscheint, da der Milchmann angeblich ein hohes Tier in der paramilitärischen Organisation ist. Und als der Mann ihrer älteren Schwester herausfindet, in welcher Klemme sie steckt, fangen die Leute an zu reden. Plötzlich gilt sie als „interessant“. Genau das wollte sie immer vermeiden. Denn hier ist es gefährlich, interessant zu sein. Das sehen alle so, auch Ma. Sie warnt vor einer Beziehung mit dem Paramilitär: „Dieses Leben ist ein Leben auf der Flucht. Es ist Krieg. Ist Menschen töten. Selbst getötet werden. Jede Menge Verantwortung. Geschlagen werden. Gefoltert werden. Hungerstreik. Da wirst du zu einem anderen Menschen, Tochter. Sieh dir deine Brüder an. Ich sage dir, das nimmt kein gutes Ende.“

Nein, es nimmt kein gutes Ende. Die Geschichte der von der eigenen Mutter als „Verbraucherbraut“ bezeichneten Ich-Erzählerin nimmt kein gutes Ende. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die in ihrem Verhältnis zum Vielleicht-Freund zwischen „Nähe und Beziehungszerbrechlichkeit“ schwankt, die nach einem Weg für sich sucht – in einer Gesellschaft, die sich ihre eigenen dunklen Wahrheiten erfindet und in der jeglicher Fehltritt enorme Konsequenzen nach sich zieht. Umso erstaunlicher ist es, wie Anna Burns diese Geschichte erzählt. Sie tut es in einer Mischung aus Schnoddrigkeit und Klugheit, sie schaut genau hin, wendet den Blick ab. Mal so, mal so. Je nachdem. Ob es noch auszuhalten ist. Ob hinschauen unbedingt sein muss. Oder ob es doch besser ist wegzuschauen. Letzteres ist manchmal notwendig, um in diesen unguten Zeiten und unannehmbaren Zuständen eine gewisse Leichtigkeit wiederzuerlangen oder zu erhalten. Zum Glück kommen auch Sonnenuntergänge vor oder die Farben des Himmels. Und Humor. Auch wenn der mitunter nur Galgenhumor ist. Lesens- und liebenswert ist dieses Buch allemal!


Anna Burns: Milchmann

Aus dem Englischen von Anna-Nina Kroll
Tropen Verlag, Stuttgart 2020
Roman. 452 Seiten
gebunden mit Schutzumschlag, alternativ: E-Book
ISBN: 978-3-608-50468-2
Leseprobe


Abbildungsnachweis:
Portrait Anna Burns, 2019: © Eleni Stefanou (Verlag Klett-Cotta)
Buchumschlag

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