Follow Book
Boris Meyn Sturmzeichen

Ilka Bischop ist die Tochter einer alteingesessenen sozialdemokratischen Hamburger Kaufmannsfamilie. Sie lebt 1929 in Berlin und arbeitet für die Vossische Zeitung, die zum Ullstein-Verlag gehört. Für den verhandelt sie auch noch mit illustren Zeitgenossen über die Veröffentlichung ihrer Memoiren.
Der Autor Boris Meyn hat sie darüber hinaus mit einer ganzen Reihe weiterer Vorzüge ausgestattet: Sie ist attraktiv, emanzipiert, mehr als gut situiert – von einem väterlichen Freund hat sie unter anderem zwei Villen in noblen Hamburger Vierteln geerbt. Sie ist neugierig, mit allen Wassern gewaschen und dem gerade in Mode gekommenen Koks nicht abgeneigt, zumal dieser ihre sexuelle Experimentierfreude anstachelt. In ihrer Handtasche bringt sie neben den üblichen Damenutensilien mühelos einen Satz Dietriche (man kann ja nie wissen) sowie ein ›Schießeisen‹ unter.

Und im Übrigen ist sie – man möge mir an dieser Stelle den Kalauer verzeihen – ein bisschen schwanger. Allerdings ist Ilka sich nicht sicher, wer der Vater ist. Stammt das Kind aus ihrer On-Off-Beziehung mit dem wohlhabenden Schweden Ture, dem One-Night-Stand mit einem bildhübschen russischen Tänzer, oder ist ihr aktueller Geliebter Laurens, Kriminalkommissar bei der Hamburger Polizei, der Vater? Und obwohl sie dieser Tatsache hin und wieder einen Gedanken widmet, scheint sie das Ganze nicht übermäßig zu beschäftigen.

Ilka lebt völlig unbekümmert um irgendwelche gesellschaftlichen oder kulturellen Vorgaben von 1929. Um die Schwangerschaft bestätigen zu lassen, geht sie zu einem Frauenarzt, angemeldet unter ihrem richtigen Namen: Fräulein Bischop. Damals ging jedoch eine unverheiratete Frau mit einiger Sicherheit unter den gegebenen Umständen, (wenn es sich nicht um die wüsteste Bohemienne handelte), mit einem getarnten Namen und vor allem mit billigem Ehering am Finger zur Untersuchung.
Der Arzt äußert keineswegs: „Liebes Fräulein Bischop, ich muss Ihre Befürchtung bestätigen!“, im Gegenteil, er beglückwünscht Ilka und tut so, als sei es überhaupt kein Problem, dass eine junge Dame aus dieser offensichtlich höheren Gesellschaftsschicht ein uneheliches Kind erwartet.
espräch über Möglichkeiten und Gefahren einer eventuellen Abtreibung samt zurückhaltendem Plädoyer für das keimende Leben. Wohlgemerkt nicht in einem dunklen Hinterhof von einem versoffenen, gescheiterten Arzt, sondern in einer feinen Praxis in Nähe des Jungfernstiegs.
Für den Kampf ihrer Geschlechtsgenossinnen um Gleichberechtigung hat Ilka nur ein müdes Lächeln. Eine fast vollzogene Vergewaltigung streift sie ab wie ein Staubkorn von der Bluse. Eine wahre Superheldin, die eigentlich eine eigene Superhelden-Reihe verdient hätte.

Die Familie Bischop ist schon in den Vorgängergenerationen immer wieder in die Aufklärung von Verbrechen involviert. Im aktuellen Fall kommt Ilka nach Hamburg, um dort ein paar entspannte freie Tage zu verbringen. Die werden allerdings nicht ganz so ruhig, wie sie sich das vorgestellt hat. Wir schreiben, wie gesagt, das Jahr 1929, der braune Pöbel ist überall auf dem Vormarsch. Ilka muss schmerzlich erfahren, dass sich ihr jüngerer Bruder den Nationalsozialisten angedient hat. Und kaum ist sie in Hamburg angekommen, steckt sie auch schon mitten in einem Kriminalfall.

Zunächst sieht es so aus, als hätten wir es einfach mit Mord zu tun. Ein jüdischer Bankier, zufällig Mieter in einer der geerbten Villen der Protagonistin, wird tot aus der Alster gezogen. In seiner Faust findet sich eine Anstecknadel, ein Parteiabzeichen der Anhänger Adolf Hitlers. Ein antisemitischer Mord also?
Es stellt sich heraus, dass der Bankier ihm anvertraute Gelder in Millionenhöhe veruntreut hat, um einen großen Deal mit ›Südfrüchten‹ zu finanzieren. Um was es bei diesem Südfrüchte-Deal wirklich geht, das versuchen nun Laurens, der Kriminalkommissar, und Ilka Bischop als Hobbydetektivin, manchmal gemeinsam, öfter parallel, herauszufinden.
Stets ist Ilka ihrem geliebten Laurens um einen Schritt voraus. Unterstützung erhält sie dabei von unerwarteter Seite, allzu häufig leider von Meister Zufall. Auch und gerade als es um den finalen Showdown geht, rettet ihr ausgerechnet einer der Oberspitzbuben Hamburgs das Leben.

Um es kurz zu machen: In ‚Sturmzeichen‘ ist die Kriminalgeschichte ausgesprochen dünn geraten. Dem Autor passieren bei der Entwicklung des Plots zwei, drei gravierende Fehler, die einem aufmerksamen Lektor hätten auffallen können. Da gerät die gerade vor Ort recherchierende zierliche Ilka zufällig unter die Ganoven, die die ominösen „Südfrüchte“ noch vor der offiziellen Ankunft des Dampfers im Hafen umladen. Sie mischt sich unter die Truppe und packt mit an, um nicht aufzufallen. Jedes der Pakete wiegt einen Zentner, sodass immer zwei „Männer" anpacken müssen. Und dabei merkt keiner, dass Ilka a) eine Frau ist und b) nicht zur Truppe gehört! (Möglicherweise ist die Dame ja gestählt durchs Handtasche-Schleppen.)
Eine Marginalie, die aber auch für ein unaufmerksames Lektorat spricht: Sturmzeichen ist der neunte Band der Reihe um Familie Bischop. Auf der Buchrückseite ist die Sprache vom achten.

Was das Buch trotzdem lesenswert macht, ist die liebevolle und mit viel Detailwissen angereicherte Kultur- und Baugeschichte Hamburgs. Hier schlägt das Herz des Autors, hier kennt er sich aus, hier hat er gewissenhaft recherchiert.

In einem zehn Seiten langen Epilog liefert er dazu ein ausführliches Who-is-who des damaligen Hamburgs, zählt auf, welche Einrichtungen, Treffpunkte, Lokale es wirklich gab und welche er dazu erfunden hat. Ungewöhnlich für einen Krimiband ist auch der Bildteil in der Buchmitte. Zu sehen sind nicht nur einige der in Nebenrollen auftretenden Personen, sondern auch Luftaufnahmen der im Buch erwähnten und seinerzeit real ausgeführten Großbauten mit Arbeiterwohnungen.

So bin ich geneigt, den 9. Band der Reihe eher als Sachbuch einzuordnen denn als Krimi. Der Leser lernt viel über Hamburger Bauten. Hinter diesem sehr informativen Aspekt bleibt die Krimi-Handlung weit zurück.
Die Herausforderung, die Atmosphäre, die Sprache so zu treffen, dass sich der Leser im Milieu fühlt, ist ein schwieriger Eiertanz. In der TV-Serie „Berlin-Babylon" ist er gelungen. Boris Meyn gelingt er in „Sturmzeichen" nicht.

Im Denken der handelnden Personen oder in den Dialogen wimmelt es von Redewendungen, die erst nach 1945 gebräuchlich wurden. Worte wie Nachvollziehbar oder Hinterfragen sind beispielsweise in den 1960ern entstanden. „Er hat damit wenig am Hut“ oder „Das ist ein Selbstgänger“ sind Floskeln, die es noch nicht gab. Und allgemein fand man das Großartige eher famos oder prima als toll. Einige Reminiszenzen an die 1920er-Jahre finden sich dann noch im Buch: Criminalpolizei etwa oder die Tatsache, dass Taxis als Droschken bezeichnet werden. So etwas bleibt aber in der Minderzahl

Und es geht nicht nur um die Sprache, sondern auch um das Weltbild, das Bewusstsein einer Epoche. Da wimmelt es in der Literatur natürlich seit jeher von Außenseitern. Menschen, die zufällig bereits so denken und reden wie die Leute im 21. Jahrhundert. Dann fühlt sich der Leser eben nicht im Damals, sondern (vielleicht ganz angeheimelt) im Jetzt, nur mit antiker Kulisse.

Freunden der Krimi-Reihe rund um die Familie Bishop wird der Band trotzdem gefallen.

Boris Meyn: Sturmzeichen

Historischer Kriminalroman; aus der Serie "Familie Bischop ermittelt"
Rohwoldt Verlag, 2019
252 Seiten
ISBN: 978-3-499-27470-1
Als Taschenbuch und eBook
Leseprobe
Über den Autor


Abbildungsnachweis:
Buchumschlag. Hintergrundfoto: Claus Friede