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Zeit fuer Lyrik

Zu Recht wird Merwin als „einer der größten Dichter unserer Zeit“ bezeichnet („Los Angeles Review of Books“). Das gilt nicht nur, aber vor allem für die englischsprachige Dichtung.
Denn: William Stanley Merwin ist zweifacher Pulitzer Preisträger und war sogar für den Literaturnobelpreis lange im Gespräch. 60 Jahre lang beglückt nun schon der 1927 in New York geborene W.S. Merwin englischsprachige Leser mit seinen Werken.

Merwin Photo Larry Cameron22 Gedichtbände sind in dieser Zeit erschienen. Doch erst jetzt können wir Gedichte dieses großen amerikanischen Lyrikers auch auf Deutsch lesen. Die erste englisch-deutsche Lyriksammlung des Dichters ist Übersetzer Hans Jürgen Balmes und dem Hanser Verlag zu verdanken. Hier erschien 2018 „Nach den Libellen“ in der Edition Lyrik Kabinett. Der zweite Lyrikband für deutschsprachige Leser trägt den Titel „Im Schatten des Sirius“ und wurde 2018 im Leipziger Literaturverlag veröffentlicht. Dies in der Übersetzung von Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann.
Hans Jürgen Balmes hat mit „Nach den Libellen“ die Merwins Sprachkunstwerke klangvoll und stimmig ins Deutsche übertragen. Und er hat ein bemerkenswertes Nachwort geschrieben, das uns – so soll es sein – Leben und Werk des Dichters näherbringt. Die englischen Originaltexte der Gedichte sind den deutschen gegenübergestellt, befinden sich auf gegenüberliegenden Seiten. Wie wir Leser an die Texte herangehen, bleibt uns überlassen. Für einige wird es leichter sein, zuerst den deutschen Text zu lesen und dann erst das Originalgedicht. Fakt ist, beide haben einen Wohlklang, der nicht gefällig ist, aber gefällt.
Hier ein kurzes Beispiel. Es ist das erste Gedicht aus „Nach den Libellen“:

Trennung
Deine Abwesenheit durchfuhr mich
Wie der Faden die Nadel.
Alles, was ich tue, ein Stich, trägt seine Farbe.

Separation
Your absence has gone through me
Like thread through a needle.
Everything I do is stitched with its color.


Nicht alle Gedichte sind derart kurz, einige benötigen fast zwei Seiten, um alles zu sagen, was gesagt werden soll und muss – wie es scheint.

„Manchmal will es mir nicht in den Kopf, dass ich jetzt so alt bin wie/ich Jahre zähle...“
„Sometimes it is invonceivable that I should be the age I am…“


heißt es zu Beginn des Gedichtes “Child”, ein Beispiel für Gedichte Merwins längerer Art. Von Staunen ist hier die Rede, von Dunkel, Fehlern, Mängeln, von Stille, Geschichten und Gärten, von Geistern, Wissen und vom Kind – natürlich. Am Ende dieses Poems erfahren wir: „… denn schließlich bist/Du selbst/ Das Kind das dich leiten wird“.
Merwins Dichtung ist komplex. Sie vermisst unsere Wirklichkeit und spürt zugleich dem Verborgenen unserer Erinnerungen, Ängste und Wünsche nach. Diese Gedichte sind ein aus unzähligen Reisen geborener, weltumspannender Schatz, eine gelungene Verschmelzung von Natur und Poesie:

Gemeinsam reisen
Werden wir getrennt versuch ich
auf deiner Seite der Dinge
auf dich zu waren

auf deiner Seite von Wand und Wasser
und vom Licht das mit eigener Geschwindigkeit reist
sogar auf dem Laub das wir zusammen gesehen
werde ich auf einer Seite warten

solange eine Seite nur da


Travelling Together
If we are separated I will
try to wait for you
on your side of things

your side of the wall and the water
and of
th light moving at its own speed
even on leaves that we have seen
I will wait on one side


Wihle a side is there

Das ist einfach wunderschön! Sowohl auf Englisch als auch auf Deutsch. Danke W.S. Melwin, Danke Hans Jürgen Balmes. Auch für das Nachwort. Hier erfahren wir beispielsweise von den Anfängen des damals neunzehnjährigen Studenten, der sich auf den Weg nach Washington macht, um Ezra Pound im St. Elisabeth Hospital zu besuchen. Dorthin war der Autor der „Cantos“ vor einem Hochverratsprozess in Sicherheit gebracht worden. Ezra Pound gab dem jungen Dichter, der zu dem Zeitpunkt noch kein Buch veröffentlicht hatte, einen Rat, wenn dieser es ernst meine mit der Poesie. Man solle 75 Verse am Tag schreiben, aber wenn man jung sei, habe man noch nicht genug Stoff. Dagegen helfe, sich Sprachen anzueignen und zu übersetzen. Was der junge Dichter tat. Er befolgte auch Pounds Rat, zu reisen.

Der junge Merwin geht nach Europa, wird Hauslehrer auf Mallorca, ersteht ein heruntergekommenes Haus in der Dordogne. Abwechselnd wohnt er in London, freundet sich mit Sylvia Platz und Ted Hughes an, fertigt Übersetzungen und Hörspieladaptionen für BBC, schreibt Gedichte. Zeitweilig lebt er auch in New York, Greenwich Village. In den 1960er Jahren wird W.S. Merwin für seine Opposition gegen den Vietnam-Krieg bekannt. Sein Pulitzer-Preisgeld stiftete er Anfang der 70er-Jahre der Anti-Rekrutierungs-Kampagne. Später wandte er sich dem Buddhismus zu. Seit Ende der 70er ging er nach Hawaii, wo der 90Jährige immer noch lebt. Er baute einen Bestand indigener Palmen auf, um die einheimischen Pflanzen vor dem Aussterben zu retten. Das schärfte seinen ohnehin genauen Blick auf die Natur um ein weiteres.
Dies wird auch in „Der Schatten des Sirius“ (Übersetzung: Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann) deutlich, das als Merwins zentrales Alterswerk gilt. Für „The Shadow of Sirius“ (2009) wurde Merwin 2010 zum Poet Laureate der USA gekürt. Hier ist der lyrische Sprecher vom realen Dichter nicht (mehr) zu trennen. Im Mittelpunkt stehen Erinnerungen an Kindheit und Familie, an den stets distanzierten Vater, die warmherzige Mutter, von der er das Gärtnern lernte, das zur lebenslangen Lieblingstätigkeit wurde. Aber auch Hunde, Landschaften, Menschen, Jahreszeiten, Tiere und Pflanzen seiner Umgebung werden erinnert in diesen Gedichten. Dies in universaler Gültigkeit. Merwin gelingt der Spagat, das Persönliche zum Repräsentativen werden zu lassen.

Noch stiller Morgen
Es scheint jetzt als gäbe es nur
ein Alter und es weiß
nichts vom Alter wie die Vögel im Flug
nichts von der Luft wissen die sie durchfliegen
oder von dem Tag der sie durch
sie selbst trägt und ich bin ein Kind bevor da Worte sind
Arme heben mich hoch in einem Schatten
Stimmen murmeln in einem Schatten
und ich beobachte einen Flecken Sonnenlicht der sich
über den grünen Teppich bewegt
in einem Gebäude
das lange verschwunden ist und all die Stimmen
verstummt und jedes Wort das sie damals sprachen
nun verstummt
während ich noch immer den Flecken Sonnenlicht sehe


By the Avenue
Through the trees
and across the river
with its surface the color of steel
on a rainy morning late in spring
the splintered skyline of the city
glitters in a silence we all know
but cannot touch or reach for with words
and I am the only one who can
remember now over there among
the young leaves brighter than the daylight
another light through the tall windows
a sunbeam sloping like a staircase
and from beyond it my father's voice
telling about a mote in an eye
that was like a mote in a sunbeam


Im Vorwort von Helmbrecht Breinig und Susanne Opfermann erfahren wir viel über die Entstehung und Bedeutung der Gedichte von W.S. Merwin. Viele der Texte legen Rechenschaft ab von seinem Leben als Wortkünstler, heißt es dort. Die Gedichte seien weniger komplex und rätselhaft als frühere, aber doch unverkennbar in ihrer Diktion, etwa im Fehlen von Interpunktion, „das immer wieder schwebende Bezüge herstellt und in ihrer sprachlichen Verdichtung. Auch seine Bildlichkeit ist nicht immer realistisch, sondern manchmal traumhaft oder aber in prägnanter Weise thematisch symbolisch.“ Seine Zuwendung zum Zen-Buddhismus habe ebenfalls Spuren hinterlassen. Der oft elegische Ton wirke nie verzweifelt.

SIRIUS CoverDer Schatten des Sirius – das ist etwas, das niemand gesehen hat. Es ist, wie Merwin in einem Interview sagte, „reine Metapher, reine Imagination“. Wir selbst sind dieser Schatten, hinter der sichtbaren Welt liegt das, was nicht sichtbar, nicht zu wissen ist. Der Dichter nähert sich diesem Unbekannten, um „zu sagen, was unsagbar ist – Liebe, Kummer, Zorn auszudrücken – diese Gefühle, die unausdrückbar sind“. Kindheit und Alter, Zeiten, Räume und Personen werden eins, verschwimmen im Fluss der Erinnerung, lösen sich auf im Licht, vermischen sich im Regen, in der Abendstimmung: „…der Kuckuck war in diesem Mai/wieder nicht zu hören/noch seit vielen Jahren der Ziegenmelker/noch die Misteldrossel Singdrossel Dorngrasmücke/die Mönchsgrasmücke die Mendelssohn unterwiesen hat ich habe sie gesehen/ich habe gestanden und gelauscht/ich war jung/sie sangen von Jugend/und wussten nicht dass sie für uns sangen.“
Höchste Zeit für uns, diesen großen Dichter und dessen großartige Dichtung auch in deutscher Sprache kennenzulernen. Zum Glück ist das jetzt möglich!

W.S. Merwin: Nach den Libellen

Edition Lyrik Kabinett bei Hanser 2018
ISBN 9783446258181
Gebunden, 144 Seiten, 19,00 EUR


Der Schatten des Sirius

Leipziger Literaturverlag, Leipzig 2018
ISBN 9783866602267
Gebunden, 242 Seiten, 19,95 EUR



Abbildungsnachweis:
W.S. Merwin Photo by Larry Cameron
Buchumschlag

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