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Matthias Senkel: Dunkle Zahlen Foto Dietze Matthes & Seitz

Ich finde E-Books ja großartig! Selbst seitenreiche Wälzer lassen die Arme nicht müde werden. Die Beleuchtung ist immer ideal. Und in Fachliteratur findet man zielgerichtet die richtige Stelle. Matthias Senkel aber lehrt mich das analoge Buch lieben.
Bereits durch seinen Erstling „Frühe Vögel“ konnte die Leserin auf mehreren Wegen durch die Seiten kommen. Auf jedem bekam die Handlung eine andere Tönung. Ebenso jetzt bei „Dunkle Zahlen“: Da wäre der klassische Weg einen Roman zu lesen – von vorne nach hinten. Oder man folgt der Sortierung des Inhaltsverzeichnisses. Dieses Inhaltsverzeichnis steht aber mitnichten vor der Geschichte. Weiteres Material zum Lesen des Romans steht zwischen den Kapiteln, etwa ein Abkürzungsschlüssel, ein Witzarchiv, verworfene Motti, ein Kreuzworträtzel.

Diese Erzählweise könnte fürchterlich, konstruiert und effektheischend sein. Ist sie aber nicht! Sie zeigt – sinnvoll – wie die Perspektive des Erzählens eine Geschichte verändert und legt eben diese ‚Perspektiviertheit‘ offen. Die merkt die Leserin spätestens physisch beim Hin- und Herblättern. So lässt Matthias Senkel seine Leser nicht einfach durch seinen Roman hindurch. Und so wird das Lesen besonders lustvoll: Die Erzählstränge und Anspielungen sowie die Verweise in die Weltliteratur und in die Welt fächern sich auf, die Komplexität lässt sich zerlegen.

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen BuchumschlagDie Fama von „Dunkle Zahlen“: eine Maschine hat „Dunkle Zahlen“ als unvollendetes Poem geschrieben, Matthias Senkel ist der Übersetzer. Geschrieben sei der Text von einer GLM – einer Golem-artigen Literaturmaschine; genaugenommen einer GLM-3, die wie ihre Vorgänger verschollen ist.
Unter den Strängen des Romans gibt es die Internationale Spartakiade junger Programmierer in Moskau 1985, bei der die kubanische Mannschaft zunächst verschwindet und deren Übersetzerin auf eine Suche durch Moskau geht, bei der vieles ganz anders ist als es erscheint. Erzählt wird dabei auch über die umfassenden Überwachungsaktionen durch den KGB. Darin verknoten sich weitere Stränge, begegnen sich die Schicksale eines Architekturstudenten, der zum Vorsitzenden des Spartakiade-Komitees wird, eines Studenten der angewandten Mathematik, der zum sowjetischen Nationaltrainer der Programmierer wird und der wiederum befreundet ist mit einem Erbauer der GLM... Episodenhaft ziehen sich diese Schicksale durch den Roman, durch die Weiten der russischen Pampa.
In einer kleinen Episode verzweifeln Programmierer an einem Programm, dass die Zukunft der Sowjetunion vorhersagen soll. Es funktioniert wunderbar, bricht aber immer im Jahr 1992 ab.
Ein Faden in den Erzählungen ist die Divergenz aus technischer Überlegenheit, der Feier der Moderne, in der sich die Sowjetunion zeitweilig be- und empfand, der Absurdität bürokratischer Vorgänge, die oftmals das notwendige Material nicht zugänglich machen und „russische Lösungen“ fordern.
Ein weiterer Erzählstrang ist der um den Erfinder der Golem-artigen Literaturmaschine, um Gawriil Jefimowitsch Teterewkin. Laut Register wiederkehrender Figuren (wie es das ja vor allem für russische Romane typisch ist) ist Teterewkin ein russischer Dichter und Duellant, der auch schon in Frühe Vögel auftaucht. Es gibt zu ihm sogar einen Wikipedia-Artikel zwischen den Seiten. Zugleich ist Teterewkin auch das Pseudonym von Puschkin und Sorokin, das beide sich nach einem gemeinsamen Duell geben für ein Gedicht, das bei der Feier ihres Überlebens entstand.
In diesem hilflosen Versuch, den Inhalt zu fassen deutet sich an, was sich fein geknüpft zum Netz des Romans fügt: Zum einen die Stränge unterschiedlichster Figuren, die einander in unterschiedlichsten Rollen begegnen. Die die GLM zusammenfügt. Zum anderen die (häufig russische) Literatur, die quasi als silberfaden durch den Roman geht: da ist beispielsweise der übergroße Kater, der an Bulgakows Behemoth erinnert, der goldäugige Hecht mit den drei Wünschen, die jungen Programmierer, die nebenbei Sätze aus der Hamlet-Maschine sprechen. Und nicht zuletzt ist da ein Witz, der sich ganz still anschleicht und die Leserin vor Lachen platzen lässt.

Auch hierin zeigt sich die ‚Geschichtetheit‘ von Literatur, von Geschichte und Geschichten. Mit der Bezeichnung seiner Rolle als Übersetzer macht Senkel von daher mehr als nur einen Kniff in der Erzählhaltung für seinen aktuellen Roman. Er legt offen, dass der Erzähler einer Geschichte auch immer derjenige ist, der sie dem Leser oder Zuhörer übersetzt. Der für sie eine Perspektive einnimmt. Der den Weg und die Verknüpfungen der Stränge übernimmt. Der das Verstehen und Nichtverstehen steuern kann.

Eine andere Chance als sich einzulassen auf „Dunkle Zahlen“ hat man nicht. Genießen muss man sie mit Zeit. Das ist etwa so wie mit einem geschmacklich geschichteten Bonbon, der unvermittelt von süß auf sauer auf scharf auf fruchtig wechselt und einen Kern aus Brause hat. Ohne einlassen und Lust an der Verwirrung und Entwirrung überfordert er die Geschmacksnerven.

Eines der verworfenen Motti beschreibt „Dunkle Zahlen“ besonders gut: „Literatur des 20. Jahrhunderts: verrückt und mathematisch zugleich, analytisch-phantastisch: die Dinge wichtiger und im Vordergrund, nicht mehr die Wesen.“ (Friedrich Nietzsche, Posthume Fragmente (1887-1889))

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen

Matthes & Seitz Berlin
Gebunden: 483 Seiten
ISBN: 978-3-95757-539-5
Preis: 24,00 €
E-Book
ISBN: 978-3-95757-579-1

Leseprobe

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Abbildungsnachweis:
Headerfoto Matthias Senkel: Dietze (Matthes & Seitz)
Buchumschlag