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Kathrin Röggla - Nachtsendung

Ein Konferenzteilnehmer verschwindet. Ein Flugzeug hebt nicht ab. Eine Ferieninsel stirbt aus. Ein Kind errichtet eine Diktatur. Gewalt bricht aus.
Von diesen und anderen täglichen Ungeheuerlichkeiten und Störungen des Alltäglichen, von falschen oder richtigen Wahrnehmungen, von Rissen und Lücken in unserer Gegenwart erzählt Kathrin Röggla in ihrem jüngsten Buch „Nachtsendung“, das sie bei einer Lesung im Lübecker Buddenbrookhaus im Rahmen der „LiterTour Nord“ vorstellte. Das Buch trägt zu Recht den Untertitel „Unheimliche Geschichten“.

Mit genauem Blick entlarvt die vielfach preisgekrönte Autorin Risse, tote Winkel und andere absurde Normalitäten im Leben von Menschen wie „Du und Ich“. Diese literarischen Abbilder unserer Wirklichkeit sind in Sätze gegossene Horrorszenarien. Die Autorin entwirft in den Geschichten von "Nachtsendung“ sowohl politische als auch soziale und private Szenen. Das alles setzt sich zu einem Nachtbild unserer Gegenwart zusammen, die auf diese Weise als absurd, trügerisch und gruselig entlarvt wird. Es geht um politische Reden, wutbürgerlichen Aktivismus, den Absturz des Mittelstandes oder um ein Familientreffen in der deutschen Provinz. Auch solche zunächst unspektakulär erscheinenden Geschichten entwickeln sich im Verlauf der Handlung zu einem Nachtbild unserer gespenstischen Gegenwart. Zu verdanken haben wir dies der unnachgiebigen Feder, der scharfsinnigen und scharfzüngigen, hellsichtigen Schreibweise von Kathrin Röggla.

Zugegeben, man muss sie nicht mögen, diese „unheimlichen Geschichten aus der Gegenwart“. Es gab durchaus Zuhörer bei der Autorenlesung in Lübeck, die mit dieser Art von Gegenwartsliteratur eher wenig anfangen konnten. Dies, obwohl Birte Lipinski, Leiterin des Buddenbrook-Hauses, die Besucher mit Assoziationen zu den finsteren Figuren E.T.A. Hoffmanns, „die mit dem Wahnsinn kämpfen“, klug auf das Kommende einstimmte.

Kathrin Röggla habe 1989 ein Studium der Germanistik und Publizistik begonnen und 1999 erfolgreich abgebrochen, so stehe es auf der Homepage der Autorin, berichtete Birte Lipinksi. „Abgebrochen, um vermehrt schreiben zu können“, vermutete sie. Kathrin Röggla selbst gestand, sie sei während des Studiums „ungeheuer umtriebig und produktiv“ gewesen, sei viel gereist - die Universität habe sie allerdings nur an wenigen Tagen im Jahr gesehen. Schreiben, gut und immer besser schreiben, das war und ist ihr Antrieb. „Sprache bestimmt die Welt in ihren Texten“, so Birte Lipinski. Es seien sehr gegenwärtige Stimmen, die zum Leser sprechen, immer werden Probleme unserer Zeit behandelt.

Kathrin Röggla Foto:Karsten ThielkerKathrin Rögglas Bücher entstehen in Schichten, die vielfach variiert und umgebaut werden. Das wiederum macht sie gut brauchbar für die gleichzeitige Verwertung in verschiedenen Medien wie Radio und Theater. Für „Nachtsendung“ recherchierte sie mehrere Jahre, analysierte die „Fachsprachen“ ihrer Helden aus der Welt der Wirtschaft und Politik. Kathrin Rögglas Texte seien immer von besonderer gesellschaftlicher und politischer Relevanz, so Birte Lipinski. Wie verhält sich ein Mensch in Situationen, die außer Kontrolle geraten? Dies sei eine der Grundfragen, auf die Rögglas Geschichten Antwort suchen. „Ich bin gespannt, wie Sie uns zum Schaudern bringen“.
Mit „Frühjahrstagung, Herbsttagung“ begann die Autorin ihre Lesung. Wie verhalten sich Menschen, die eine Schweigeminute abhalten sollen? Menschen, die es gewohnt sind, „ausnahmslos ergebnisorientiert zu arbeiten“ (S. 19). Bei einer solchen Menschenansammlung ist es wahrlich kein Wunder, wenn ein emotionaler, ganz und gar nicht rationaler Vorgang wie eine Schweigeminute eher zu einer Schweigeminutenunruhe führt. Diese Geschichte sei nach einer Recherchearbeit mit Simultandolmetschern entstanden, erzählte Kathrin Röggla. In einem Riesengebäude, das „wie eine Blase, wie ein Bubble“ wirkte, gab es „in Parallelwelten“ unzählige Konferenzen nebeneinander. „Eine Außenwahrnehmung findet an solchen Orten nicht statt. Das hat schon etwas Unheimliches. Das hat mich fasziniert.“

So also entstehen ihre Horrorszenarien: Die Szenerie ist da, die Szene muss nur noch entwickelt werden. Es sind „Momente der Nichtkommunikation in extremen Kommunikationsmomenten“, fasste die Autorin zusammen. „Dies ist ein Konflikt, der häufig in ihren Geschichten vorkommt“, betonte Birte Lipinski. Im Wechsel von Geschichte und Gespräch entwickelten die beiden ihren kommunikativen Austausch. „Als Schriftstellerin sitzt man allein in der Stube, hier wollte ich immer raus.“ Die Autorin und dreifache Mutter wollte andere Arbeitsabläufe kennenlernen, hielt sich in den unterschiedlichsten Milieus auf, unterhielt sich oft über mehrere Stunden mit Bankern, Schuldenberatern, Entwicklungshelfern, Krisenmanagern, Radiomoderatoren und Dolmetschern.

„Das Buch ist eine Art Landkarte dieser Milieus.“ Die Recherche für dieses Buch sei sehr speziell gewesen, so Kathrin Röggla. Das Spezielle gründet sich auf der Vielfalt der Gespräche mit den unterschiedlichsten Menschen und spiegelt sich in den unheimlichen Geschichten von „Nachtsendung“ wider. Erkenntnis, Verunsicherung, Tragik, Komik wechseln einander ab, machen die Spannung aus. Das trägt die Geschichten, spinnt sich wie ein roter Faden durchs Netz. „Das ist nicht nur Paranoia, das findet statt“, heißt es in „Diagnosefront“ (S. 93). Eine Geschichte, die eine Gesprächsberatung in einem Gesundheitsforum im Internet beschreibt - in Lübeck von der Autorin ebenfalls zu Gehör gebracht. An anderer Stelle heißt es: „Panikattacken nehmen ganz allgemein zu“ (S. 97). Kein Wunder bei einer solchen Gegenwart, wie Kathrin Röggla sie beschreibt.

„Die österreichische Autorin gilt wie Thomas Bernhard als Übertreibungskünstlerin“, erklärte Birte Lipinski dem Publikum. Gegenwart, das ist für Kathrin Röggla ein unklarer, krisenhafter Moment, der auf eine Entscheidung hindrängt, Panik erzeugt. Mit List, Tücke und satirischem Humor schafft Kathrin Röggla es immer wieder aufs Neue, diesen alles entscheidenden Gegenwartsmoment herbeizuführen und trotz seines Irrlichterns, trotz seiner Unklarheit, deutlich sichtbar zu machen für den geneigten Leser und/oder Zuhörer. Wie gesagt, man muss es nur wollen und mögen.

Aufgewachsen ist die gebürtige Salzburgerin übrigens mit den sprachkritischen Texten der Wiener Gruppe. Besonders Ernst Jandl verehrt sie. Von ihm hat sie den Konjunktiv als Möglichkeitsraum übernommen. Um Möglichkeitsräume geht es in ihren oft ins Irrationale mündenden Geschichten, die ihr neuestes Werk „Nachtsendung“ ausmachen. Getreu dem Motto, nichts ist unmöglich. Mitunter scheint es, als seien es Menschen wie Du und Ich, die das Buch bevölkern. Möge der Schein trügen.

Kathrin Röggla: Nachtsendung. Unheimliche Geschichten
S. Fischer Verlag
ISBN: 978-3-10-002487-9
Gebunden, 288 Seiten.

Leseprobe

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Vita
Kathrin Röggla, geboren 1971 in Salzburg, lebt in Berlin. Sie arbeitet als Prosa- und Theaterautorin und entwickelt Radiostücke. 2012 war sie Stadtschreiberin von Mainz. Seit 2012 ist sie Mitglied der Akademie der Künste in Berlin, seit Juni 2015 deren Vizepräsidentin. Ende 2015 wurde Kathrin Röggla zudem Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, darunter den Italo-Svevo-Preis, den Anton-Wildgans-Preis und den Arthur-Schnitzler-Preis; „wir schlafen nicht“ wurde mit dem Preis der SWR-Bestenliste und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet. Sie veröffentlichte unter anderem die Prosabücher „Niemand lacht rückwärts“, „Abrauschen“, „Irres Wetter“ „really ground zero“, „wir schlafen nicht“, „die alarmbereiten“, das mit dem Franz-Hessel-Preis geehrt wurde, sowie gesammelte Essays und Theaterstücke unter dem Titel „besser wäre: keine“. Zuletzt erschien “Nachtsendung. Unheimliche Geschichten“ (2016). (Quelle: S. Fischer Verlag, Homepage der Autorin)



Abbildungsnachweis:
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Buchumschlag. Collage mit Nachthimmel. Foto: Claus Friede
Im Text: Kathrin Röggla Foto: Karsten Thielker