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Kristine Bilkau

Kristine Bilkau hat einen Roman geschrieben über Gefühle von Menschen, die sich vom sozialen Abstieg bedroht sehen. Eine sensible und präzise Studie darüber, wie Gentrifizierung und Jobverlust den Alltag, das Denken und das Fühlen verändern. „Die Glücklichen“ ist der Roman einer ganzen Generation, der althergebrachte Sicherheiten abhanden kommen.

Am Rand des Schanzenviertels scheint die Welt noch in Ordnung. Auch wenn sich zwischen die Altbauten, die einer nach dem anderen saniert werden, hier und dort Neubau-Kuben in Weiß und Glas schieben, Tiefgaragen inklusive. Sicher, in den vergangenen Jahrzehnten haben sich auch hier die Strukturen verändert. Alteingesessene Geschäfte zur Grundversorgung verschwinden, dafür tauchen vermehrt Klamotten- und Schmuckläden, Werbeagenturen, Architekturbüros, Cafés, Restaurants und Läden für Feinkost und Lebensart-Zubehör auf. Registrieren wird das nur, wer zu den Glücklichen zählt, die seit Jahren hier Wohnen.

Bilkau - Die GluecklichenSo wie die Schriftstellerin Kristine Bilkau, Jahrgang 1974, die im „Gloria“ an der Bellealliancestraße erzählt, wie ihr Erfolgsroman „Die Glücklichen“ entstand: „So um 2009, kurz nach der Insolvenz der US-Investmentbank Lehman Brothers, fing das an, dass ich so eine Unentspanntheit um mich herum wahrnahm, besonders bei jungen Familien hier im Viertel, auf ganz verschiedenen Ebenen. Leichte Erschütterungen durch eine Krise, die – ohne, dass man sich dessen gleich bewusst war – ins Leben hineintröpfelte. Zur fortschreitenden Gentrifizierung kam das plötzlich Gefühl: Nichts mehr ist sicher, potenziell gehört man auch zu den Leuten, die da vielleicht verdrängt werden.“

Sie registriert, wie sich in den Köpfen, weit im Vorfeld direkter Bedrohung, das Gefühl breitmacht, man dürfe jetzt nichts mehr falsch machen. Weil sowieso alles instabil ist. Sieht sich umgeben von Leuten, die plötzlich ganz viel darüber sprechen: Die und die haben sich eine Wohnung gekauft. Muss ich mir jetzt auch eine Wohnung kaufen? „Dann stiegen plötzlich die Preise so rapide und die Mieten, das bekam 2009/2010 einen extremen Turbo. Und ich merkte: Das macht etwas mit den Menschen.“

Kristine Bilkau beobachtet und notiert – thematisch sortiert, in ihren Notizbüchern. Irgendwann kommen zwei neue Notizbücher dazu für die Hauptfiguren der „Glücklichen“, eines für Georg, eines für Isabell. Georg ist Redakteur, von seinem Traum, die großen, relevanten Reportagen zu schreiben, hat er längst Abschied genommen. Sie ist Musical-Cellistin und mag ihren Job, obwohl auch sie mal vom Streichquartett und dem Engagement in einem berühmten Orchester geträumt hat. Die Aufbruchsstimmung ihrer Beziehung ist längst abgekühlt, man organisiert das Leben zwischen Notwendigkeit und Enttäuschung. Und träumt weiter, jeder für sich. Zur Familie gehört auch ein kleines Kind.

Plötzlich kommt das Leben ins Rutschen
Die beiden Einkommen reichen für eine schöne Altbauwohnung mit Altmietvertrag im Viertel. Und für den kleinen Luxus nebenbei, der weniger Luxus ist als Manifestation des Dazugehörens zu einer Gruppe, die es leidlich geschafft hat und sich doch plötzlich in einer prekären Situation wiederfindet: Georgs Job wird gestrichen, Isabell bemerkt ein Zittern in ihrer Hand – sie kann nicht mehr Cello spielen. Plötzlich kommt ihr Leben ins Rutschen. Werden sie sich die Wohnung weiter leisten können? Wie weit kommt man mit Arbeitslosengeld? Was sagen die Freunde? Soll man hinaus aufs Land ziehen, weil’s dort billiger ist? Hält die oft so sprachlose gewordene Beziehung das aus? Die beiden beginnen einen Balanceakt auf der Suche nach sich selbst, nach einem gangbaren Weg.

„Es ist die Suche nach einer Haltung zu dem, was da gerade passiert“, sagt die Autorin. „Die prekären Jobsituationen, die Aufwertung der Stadtviertel – man hat das Gefühl, man wird dazwischen zermalmt. Gerade Leute, die dachten, ihr Leben geht doch gerade erst los, sie haben ein Kind, jetzt kommt noch ein zweites, und jetzt müsse alles rund laufen. Bisher war das doch auch so: Wenn man irgendwo im Job angekommen war, würde es die nächsten 20 bis 40 Jahre gut gehen, man selber konnte kann den Weg bestimmen. Stattdessen wächst jetzt die Idee von Scheitern.“

Den Roman einer ganzen Generation haben Kritiker Kristine Bilkaus Buch genannt. „Wenn man das so sagen will, geht es wohl um die aus der Generation Praktikum, die nun sehen, dass es kaum noch Entwicklungsmöglichkeiten gibt, dass sich die ganzen offenen Türen verschließen, nach all den Praktika und befristeten Verträgen. Ihr Leben wird nicht einfacher, sondern immer komplizierter. Da muss alles optimal laufen, vor allem ich selber. Wenn ich umgeben bin von Unsicherheit, darf ich selber kein Unsicherheitsfaktor mehr sein. Und kostet Kraft, da sind viele schon erschöpft. So wie mein Protagonist, der sich im Internet Häuser auf dem Land anguckt, weil er so eine Sehnsucht nach Einfachheit und Sicherheit hat.“

Dass „Die Glücklichen“ ein so erfolgreiches Roman-Debüt geworden ist, liegt einerseits an der präzisen und sensiblen Beschreibung seelischer Befindlichkeiten und daran, dass sie trotz aller Problemschwere sprachlich ausgesprochen elegant, mitunter sogar witzig, und glaubwürdig schildert. Auch wenn über die dunklen Ecken der Seele gesprochen wird, steht niemand am Pranger; was erzählt wird, hat hohen Wiedererkennungswert – und Tiefgang dazu. Der Erfolg liegt aber auch an der Art, wie die Autorin die Umgebung der Hauptfiguren zeichnet. Kristine Bilkau hat natürlich viele Beobachtungen aus ihrer Umgebung verarbeitet, doch die Namen „Hamburg“ oder „Schanze“ fallen an keiner Stelle; sie beschreibt ein Stadtviertel, das so in vielen Großstädten existieren könnte. Und sie beschreibt vor allem, warum ein solches Viertel als Heimat empfunden wird, die Zugehörigkeit und soziale Eingebundenheit vermittelt. „Das sagt sich so leicht: Ja, dann zieh doch woanders hin. Aber das ist nicht so leicht. Zum Glück ist mein Viertel resistenter und die Aufwertung hier ein bisschen entschleunigt.“

Ein verschlossener Tresor – das Fragezeichen der Zukunft
Und es gibt Geheimnisse in dem Buch. Der Grund für das Zittern von Isabells Hand wird nicht wirklich aufgeklärt. „Das illustriert ihr Lebensgefühl in einer Phase der Umbrüche, sie ist Mutter geworden, das Viertel verändert sich, in ihrem Orchester werden Stellen gekürzt", erklärt Bilkau. Verschlossen bleibt aber auch weiterhin der geheimnisvolle alte Tresor in einem Zimmer der beiden. „Ich finde, der muss zu bleiben. Ich sehe meine Protagonisten in der Wohnung herumwuseln, und im Hintergrund ist immer dieser geschlossene Tresor, die beiden haben ihn liebgewonnen wie ein Bild, das an der Wand hängt. Er ist aber auch wie ein Fragezeichen. Ein schönes oder ein bedrohliches, das Fragezeichen der Zukunft, an der man sich abarbeitet: Wie werden wir leben, wie lange wird unser Glück halten?“

Am Schluss gibt es bei Isabell und Georg nicht Friede, Freude, Eierkuchen. „Es ist trotzdem in gewisser Weise ein versöhnlicher Schluss. „Sie wird ein weit geöffnetes Herz haben, für alles, was kommt. Heute, zumindest, kann sie es so empfinden“, lauten die letzten beiden Sätze des Romans. „Mir ging es nicht darum“, sagt Kristine Bilkau, „zu zeigen: Was wird denn jetzt aus ihnen? Sondern: Was geschieht mit ihnen in ihrem Inneren.“

Mit ihrer Haltung zu dem Erfolg ihres Romandebüts ist Kristine Bilkau im Reinen: „Es ist wunderbar, es gibt mir Sicherheit, mich auf das zweite Buch zu konzentrieren. Und es ist schön, Resonanz zu haben, nicht nur die Kritiken, sondern auch, was man von Lesern hört. Wenn man auf dem Spielplatz von einer anderen Mutter angesprochen wird: Ich habe ihr Buch gelesen und finde es toll.“ Dann die Lesungen und Diskussionen. Das tut gut. Umso mehr, als sie nicht als Schriftstellerin vom Himmel gefallen ist.

Spricht sie normal schon bedächtig, wird sie wortkarg, wenn sie über sich sprechen soll: Hamburgerin, Nordlicht, Mann und ein Sohn, der bald in die zweite Klasse kommt. 40 Jahre alt, „Spätzünderin – aber das ist am Ende ja egal“. „Geschrieben hab ich zwar immer schon, auch während des Studiums. Aber heimlich, ich habe davon nichts rausgegeben, das war unterm Radar von anderen Leuten, auch Freunden weil es mir noch so unausgereift erschien.

Dann hat sie 2008 einen Text zum Literaturwettbewerb „open mike“ in Berlin geschickt, wurde Finalistin, traf interessierte Agenten und Lektoren. Da war dann die Tür offen, und die Resonanz hat mich dann weitergetrieben. Ich habe auch eine Schreibwerkstatt mitgemacht, da lernt man eine Menge, auch das Aushalten von Kritik.“ Das journalistische Schreiben, mit dem sie Geld verdient, „das ist halt ein Beruf“, sagt sie, „schreiben mit gewissen Regeln, nötig für meine Mischkalkulation. Aber aus meiner Sicht ist es interessanter, wenn man schreiben kann ohne diese Regeln. Ich bin froh, dass es so gelaufen ist und dass ich mein zweites Buch schreiben kann.“ Das zweite Buch handelt von...? Kristine Bilkau wehrt die Frage gleich ab: „Das ist noch zu nebulös, da will ich nix zu sagen.“

Kristine Bilkau: Die Glücklichen
Luchterhand, 304 Seiten.


Mit Dank an Hinz & Kunzt, das Hamburger Straßenmagazin, für dessen aktuelle Ausgabe dieser Text geschrieben wurde.


Abbildungsnachweis:
Header: Kristine Bilkau. PR/Luchterhand Literaturverlag
Buchumschlag