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Horst Rückert Das Blendwerk. Von der ‚Colonia Dignidad´ zur ‚Villa Baviera'

Wer greift sich da nicht an den Kopf: Es gibt Menschen, die sich bewusst verkrüppeln lassen, geistig und moralisch.
Sie fügen sich einer einzigen Person, die im Namen Gottes die Außenwelt, die Liebe, die Ehe, das Individuelle als Teufelswerk bezeichnet und zum Verzicht auf materielle Gaben und auf ein solidarisches Miteinander aufruft. Was Wunder, wenn z.B. ein Ehepaar nebeneinander im Bett liegt und – ohne sich zu berühren – wochenlang auf ein Kind wartet. Als Frau und Mann nach Wochen erfahren, was zu tun sei, schreien sie auf und beschimpfen den schönsten und menschlichsten Akt als Teufelswerk.

Diese beiden und hunderte andere Bewohner einer deutschen Siedlung in Chile unterwarfen sich „festen Ritualen, um sich öffentlich von Sünden zu reinigen...“ Mehr noch: Wer sündigte, wurde verprügelt. Bei besonderen Vergehen gab es Elektroschocks. Kinder wurden vom Gründer und Führer der Gemeinde missbraucht, selbstverständlich unter größter Verschwiegenheit. Trotz harter Arbeit wurden Löhne nicht gezahlt, Freizeit und Urlaub gab es nicht, auch kein Fernsehen und Radio, weder Zeitungen noch Zeitschriften. Männer und Frauen lebten getrennt voneinander. Während der Militärdiktatur Pinochets gab es im Gelände der Siedlung bis 1978 unterirdische Tunnel, Waffen und Sprengstoffe. Politische Gefangene wurden gefoltert. Die „Colonia Dignidad“ war … „ein Aktionszentrum der chilenischen Militärdiktatur, die sich in einem Krieg gegen den internationalen Terrorismus wähnte“.

Horst Rückert: „Das Blendwerk. Von der ‚Colonia Dignidad´ zur ‚Villa Baviera´“. So nachzulesen in einem aufsehenerregenden Buch von Horst Rückert mit dem Titel „Das Blendwerk. Von der ´Colonia Dignidad´zur ´Villa Baviera´“. Der Autor begab sich 2006 auf die Spuren dieses von den Bewohnern und anliegenden chilenischen Menschen zwar wohlwollend hingenommenen aber im eisigen Keller der Verschwiegenheit versunkenen menschenverachtenden Lagers. Er wurde fündig und recherchierte außerordentlich gründlich.
Die Rede ist zunächst von Paul Schäfer, geboren am 4. Dezember 1921 in Deutschland. Er geriet bereits als junger Mann in Verdacht, ihm anvertraute Jugendliche sexuell missbraucht zu haben. Er sah sich als „der wahre Nachfolger Jesu, er empfange seine Wahrheit direkt von Gott“. Dieser im Jahr 2005 in Chile verhaftete „Vertreter Gottes“ und Verbrecher wurde bereits Anfang der sechziger Jahre in Deutschland wegen Kindesmissbrauch per Haftbefehl gesucht, flüchtete mit Kindern und Helfern nach Chile und baute dort sein autoritär geführtes Imperium der Gewalt und Alleinherrschaft auf und starb 2010 in Argentinien.
Hinter 2,80 Meter hohen insgesamt 8.000 Betonpfählen, abgetrennt von der Welt der Chilenen, vegetierten die Siedler im Glauben, der Führer und Gründer der Sekte brächte – das war Anfang der 1960er Jahre - „seine kleine Gemeinde aus dem von bolschewistischer Unterdrückung bedrohten Westdeutschland in das leere Land im Süden Chiles, das zu kultivieren und fruchtbar zu machen der Auftrag Gottes“ sei. Das nach außen verkündete Programm des Lagers „Colonia Dignidad“, wie es sich nannte: Wohltätig zu sein, „armen und kranken Leuten zu helfen“. Das Blendwerk bestand darin, so heißt es im Klappentext, dass diese hermetisch abgeriegelte Siedlung vierzig Jahre lang „ein Musterbild deutscher Tüchtigkeit und Ordnung“ bot.

Es sind zwei gravierende Dinge, die der Autor aufdeckt: Erstens die abenteuerliche Motivierung. Da wurde den Bewohnern vorgegaukelt, sie gehörten einer auserwählten Elite an, die sich im Namen Gottes von allen menschlichen Sünden befreien würde, so von der gesamten Außenwelt. Der Führer, Herr Schäfer, wäre der Repräsentant Gottes, er sei der Vermittler, ihm hätten alle Lagerinsassen hörig zu sein. Wer dagegen opponiere, sei des Teufels und müsse streng bestraft werden. „Es gelte, sich auf das nahe Ende der Welt, auf das bevorstehende Gericht Gottes über die Menschheit vorzubereiten“. Die Bedrohung käme „aus dem kommunistischen Osten“, er sah im Traum den „russischen Stiefel“, der „Europa niedertritt“. (S. 28) Wesentliche Bestandteile dieses Glaubens waren der „religiöse Antikommunismus und die Zweiteilung der Welt in ein gutes Drinnen und ein böses Draußen...“

Horst Rückert fragt zweitens mit Recht nach der deutschen Hilfestellung für die Siedler in diesem berüchtigten Lager in Chile. Was er herausfindet, ist mager genug. Noch 1972 habe man in der Siedlung „ein Stück Auslandsdeutschtum“ gesehen. Sie würde allerdings weiterhin Deutschland mehr belasten als nützen. Die Motive und Hintergründe dieser bis 1985 währenden Zurückhaltung trotz Informationen über mögliche Verbrechen in der deutschen Siedlung sind unbekannt. „Bis heute weigert sich die Bundesregierung, Wissenschaftlern oder Journalisten Zugang zu den Akten zu geben...“ Die Entschuldigung: Man halte sich an die Regeln des Völkerrechts und respektiere die Souveränität Chiles. Der Rechtsanwalt Winfried Hempel, so der Autor, würde derzeit wegen unterlassener Hilfeleistung Prozesse vorbereiten, „in denen er die Bundesrepublik Deutschland und die Republik Chile auf insgesamt 120 Millionen US-Dollar Schadensersatz verklagen will“.
Es geht um Vergangenheitsbewältigung. Rückert plädiert für eine sehr differenzierte Ursachenforschung. Auf keinen Fall könne man dem einzelnen Verführer und Verbrecher die alleinige Schuld an Unmenschlichkeit zuordnen und sich so von Mitschuld unterschiedlicher Größe freisprechen. Die Mittäter seien ausfindig zu machen und zu bestrafen. Doch im Nachhinein wollen die älteren Lagerbewohner von „Colonia Dignidad“ nichts wissen. Sie sprechen bei ihrer Schuld nur von einem WIR, ohne in den Tiefen ihrer Seele nach eigenen willenlosen Mitmach-Attacken gegenüber hilflosen Opfern zu forschen und so ebenfalls ein eindeutiges Schuldbekenntnis abzugeben. Die Alteingesessenen seien bis heute nicht bereit, sich mit den Verbrechen der Sekte auseinanderzusetzen. Sie wollten ihre Gemeinschaft in der „Villa Baviera“ erhalten. Damit sei eine „bruchlose Verwandlung eines Folterzentrums in ein Freizeitparadies“ nicht gelungen, schreibt Horst Rückert auf Seite 224. Leid würde abstrahiert, relativiert und „in einen höheren Plan Gottes“ eingeordnet.

Dieses Unterdrückungslager präsentiere sich ab 2005 mit der „Villa Baviera“ als deutsche Touristenattraktion, wo nach wie vor deutsche Gemütlichkeit, deutsche Sitten und Gebräuche ihr bayerisches Zuhause in Chile haben, wirtschaftlich weitgehend auf eigenen Füssen stehend, aber die einstigen Mordtaten und Kindermisshandlungen nur nebenbei erwähnend.

Das Buch „Blendwerk“ deckt nicht nur vergangene Verbrechen auf. Es verweist nicht nur auf die Schuld von Mittätern. Es erinnert nicht nur an eine gründlich vorzunehmende Vergangenheitsbewältigung. Es beleuchtet vor allem die kausalen Zusammenhänge zwischen Macht, Anbetung des Gottes Markt und Manipulierung der Menschen durch Politik und bürgerliche Medien. Deutlich ablesbar u.a. am Verschweigen der wahren Ursachen sowohl der beiden Weltkriege als auch des Ukraine-Konfliktes. Ein Blendwerk neuer Art ist im Gange. Aufarbeitung, so Horst Rückert auf Seite 244, geschehe nur, um „das Funktionieren und die Entwicklung der neuen Ordnung nicht“ zu gefährden.
So nimmt der geistige und moralische Verfall – oftmals wolle man das nicht wahrhaben – seinen immer spürbarer werdenden Fortgang. Das Blendwerk Konsum, Freiheit und Demokratie, Wachstum und Bündnistreue tut das Seinige für ein sorgenfreies Wohlgefühl unter dem Motto „Mir geht es ja gut“. Grünes Licht für Verkrüppelungen „im Namen Gottes“, im Namen des Antikommunismus?

Horst Rückert: Das Blendwerk: Von der „Colonia Dignidad“ zur „Villa Baviera“

Broschiert, 256 Seiten, Verlag: A1 München; Auflage: 1 (27. August 2014),
ISBN-10: 3940666564, ISBN-13: 978-3940666567


Abbildungsnachweis:
Detrail aus Buchcover, Buchcover