Theater - Tanz
Salzburger Marionettentheater - 100 Jahre jung

Jim Knopf, Kater Mikesch, Pinocchio – die meisten Erwachsenen verbinden Puppentheater wohl mit Kindheitserinnerungen, dabei hat die Welt der bewegten Figuren höchst anspruchsvolle Facetten.
Bestes Beispiel ist das Salzburger Marionettentheater, das in diesem Jahr 100 geworden ist. Gegenwärtig tourt die Traditionsbühne mit ihrer neuen Produktion „Alice in Wonderland“ durch Amerika, denn dort gelang ihr vor gut 60 Jahren der internationale Durchbruch. Daheim wird sie derweil mit einer großen Ausstellung geehrt: Das Salzburg Museum zeigt „100 Jahre Salzburger Marionettentheater“ – einen atmosphärisch dichten Überblick über Leben und Werk des Theatergründers Anton Aicher (1859-1930).

„Die Seele der Puppen liegt in den Händen. Der Atem geht über die Hände in die Figur“. „Alice“-Regisseur Hinrich Horstkotte kennt die Leitsätze von Gretl Aicher (1928-2012) auswendig. Bis zu ihrem Tod hatte die alte Dame, die in dritter Generation das Unternehmen führte, ihr Wissen an junge Kollegen weitergegeben. Und der gebürtige Bonner gehört seit Kindertagen zu den gern gesehenen Gästen des Hauses. Horstkotte erinnert sich noch gut an die Enkelin des Bildhauers und Theatergründers Anton Aicher. Ihre Virtuosität am Führungskreuz sei legendär gewesen, lobt der freischaffende Opern- und Theaterregisseur, der heute in Berlin lebt: „Marionetten sind wie Musikinstrumente. Wer es am besten kann, hat am längsten geübt“.

Galerie - Bitte Bild klicken
Bis zu zehn Jahren würde es dauern, bis ein Puppenspieler in dem renommierten Haus eine Hauptrolle übernehmen dürfte. Und wer einmal eine der bis zu sieben Kilo schweren Puppen und ihre Bewegungen beherrscht, der würde sie immer wieder bedienen. So war Gretl Aichers Paraderolle der Papageno aus Mozarts „Zauberflöte“ - seit der Premiere 1951 in Boston ein Bestseller im Repertoire. In rund 7.000 Vorstellungen, so schätzt der Regisseur, hätte die langjährige Theaterchefin die Strippen des Vogelfängers gezogen und zwar so genial, „dass es schwer zu glauben ist, dass die kleinen Figuren nicht aus Fleisch und Blut sind“, wie die Chicago Daily Tribune einst schrieb.

Bei der jüngsten Produktion „Alice“ ergeht es den Zuschauern kaum anders. Sobald das Licht ausgeht und der Vorhang auf, entfaltet das Stück, das im September im Stammhaus an der Salzburger Schwarzstraße Premiere feierte, einen geradezu magischen Sog. Gebannt folgt man den surrealen Abenteuern des Mädchens, das in einen Kaninchenbau fällt und dort dem Märzhasen, dem verrückten Hutmacher, der Herzogin, der Herzkönigin und vielen anderen merkwürdigen Gestalten begegnet. Die Figuren entwickeln ein so vitales Eigenleben, dass man mitunter sogar vergisst, dass es sich hier „nur“ um Puppen handelt und die Stimmen vom Band kommen.
„Genau das ist auch unser Ziel“, sagt Hinrich Horstkotte vergnügt: „Wir arbeiten mit der Illusion und hoffen das Publikum einzulullen“. Der vielseitig talentierte Künstler, der neben Regie auch Bühnenbild und Dramaturgie studierte, entwirft bei seinen Produktionen in der Regel die Ausstattung gleich mit. Auch die Figurinen zu „Alice“ stammen von ihm. Realisiert haben die Entwürfe dann zwei sächsische Holzbildhauer. Meister ihres Faches, wie man unschwer erkennen kann, denn herausgekommen sind unerhört ausdrucksstarke, skurrile Typen, insbesondere die Herzogin, die an einen alternden Rockstar erinnert, sowie die grausame Königin, deren Vorbild unverkennbar Queen Victoria war.

Vor „Alice“, so Hinrich Horstkotte, habe er am Salzburger Marionettentheater bereits Engelbert Humperdincks Märchenoper „Hänsel und Gretel“ (2003), sowie Shakespeares „Sommernachtstraum“ (2001) auf die Bühne gebracht. „Ich bin halt infiziert vom Puppentheater“, erklärt er. „Ich habe als Schüler selbst eine Bühne gehabt und viel gespielt, mittlerweile aber leider kaum noch Zeit dazu“.

Was Wunder, der Opern-Regisseur ist ein gefragter Mann. Rund 60 Werke (u.a. an den Opernhäusern in Berlin, Chemnitz, Dessau und Wien) hat er seit den 1990er-Jahren in Szene gesetzt, vergangene Spielzeit erst Smetanas „verkaufte Braut“ am Stadttheater Bremerhaven.
Nach den Vor- und Nachteilen von Schauspiel- und Puppentheater befragt, braucht Hinrich Horstkotte auch nicht lange zu überlegen: „Normalerweise muss ich mir meine Besetzung zusammensuchen, beim Puppenspiel kann ich sie mir tatsächlich erschaffen - genau so, wie ich sie mir erdacht habe“.
Der kreative Prozess braucht jedoch seine Zeit: Zwei Jahre Vorlauf erforderte „Alice“ - weitaus mehr als jede „normale“ Theaterproduktion.
Da Zeit und Geld auch auf einer Marionettenbühne knapp bemessen sind, werden die Puppen bei kleineren Produktionen mitunter auch recycelt, ergänzt Intendantin Barbara Heuberger. Bei einem Bestand von über 1.000 Puppen sei es in der Regel keine Schwierigkeit, die passende Besetzung zu finden.

Heuberger, die vor einem Jahr die Theaterleitung übernahm, ist die erste Theaterchefin, die nicht zur Aicher-Familie gehört. Der Bühne ist sie jedoch schon lange verbunden und natürlich kennt sie auch ihre bewegende Geschichte aus dem Effeff: Seit Mozarts Singspiel „Bastien und Bastienne“, dem Stück, mit dem „Professor Anton Aichers Künstler-Marionettentheater“ 1913 eröffnete, seien 150 Produktionen herausgekommen, erzählt die sympathische Salzburgerin. Märchen, Komödien und klassische Dramen, vor allem aber Opern, die der Salzburger Bildhauer-Professor anfangs im Kreise seiner Künstlerkollegen zeigte.

Bis in die 1950er-Jahre hätte bei allen Inszenierungen der Hans Wurst, der von Aicher geschaffene Salzburger Kasperl, als anarchischer Geist und frecher Kommentator im Mittelpunkt gestanden, weiß Heuberger, heute hat die Figur im Museum ihren Ehrenplatz.
Die ersten Jahre waren äußerst schwierig. Die Personalkosten trieben die kleine Privatbühne, die auch heute nur projektbezogene Subventionen erhält, mehrfach an den Rand des Ruins. Heute zählt das Haus noch neun festangestellte Puppenspieler, die sich auch um Technik, Musik und Licht kümmern. Damals jedoch wurde jede Figur live von Sängern, Sprechern und einem kleinen Orchester begleitet. Das Ensemble war riesig und man kann sich vorstellen, wie schwer es war, so ein Theater über den Ersten Weltkrieg, die unruhigen 20er Jahre inklusive Weltwirtschaftskrise und die Zeit des Nationalsozialismus zu erhalten.

Die Finanzlage entspannte sich erst nach einer grundlegenden Rationalisierung zu Beginn der 50er-Jahre. Hermann Aicher (1902-1977) hatte 1926 die Bühne von seinem Vater übernommen und mit großem Engagement den Schwerpunkt Oper ausgebaut. Vor allem trieb er die Gastspiele voran, tourte 1937 durch Deutschland - ein Gastspiel fand auch in der Hamburger Kunsthalle statt – danach durch Holland, Belgien und den Balkan. Ein Ausnahmeereignis war 1936 das monatelange Gastspiel in Russland, ein Jahr später traten die Marionettenspieler in Paris auf und gewannen bei der Weltausstellung eine Goldmedaille. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges wurde die kleine Bühne als Propagandainstrument und Fronttheater eingesetzt, ab 1944 dann für ein Jahr geschlossen. Hermann Aicher gab nicht auf, gleich nach Kriegsende spielte er für die Alliierten, reiste Anfang der 50er Jahre nach Amerika und lernte dort die neue Aufnahmetechnik mittels Tonband kennen. Aicher erkannte sofort die große Chance, die in dem Medium lag, rationalisierte seine Produktionen und stellte sie komplett auf Tonband um. Nun konnte er seine Stücke mehrsprachig einstudieren, Aufführungen auf Englisch, Italienisch, Spanisch oder welcher Sprache auch immer, waren kein Problem mehr – und der internationale Erfolg sollte nicht lange auf sich warten.

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eroberte das Salzburger Marionettentheater die Welt – erst die USA, dann Japan, später Südafrika und Australien. Seit 2009 gastieren sie selbst im arabischen Raum. Erst im vergangenen Jahr wurde Sergej Prokofieffs Oper „Peter und der Wolf“ für eine Aufführung in Oman auf Arabisch synchronisiert.

In den vergangenen 30 Jahren wäre das Salzburger Marionettentheater so viel gereist, erzählt Barbara Heuberger, dass das einheimische Publikum, insbesondere das junge, etwas zu kurz gekommen sei. In Zukunft wollen sie sich wieder mehr auf ihr prächtiges Stammhaus konzentrieren. Seit nunmehr 40 Jahren ist das Theater in dem Festsaal zu Hause, der 1893 ursprünglich für das Hotel Mirabell errichtet wurde.

Hier spielten renommierte Sänger und Sängerinnen, Dirigenten, Erzähler und Orchester große Produktionen ein und Bühnenbild-Legende Günther Schneider-Siemssen (Karajans Lieblingsbühnenbildner) nutzte die Miniaturbühne jahrelang als Experimentierfeld für die Salzburger Festspiele: Hier brachte er die ersten Projektionen und Holografien heraus, die später international Furore machten. Der wohl berühmteste „Gast-Arbeiter“ aber war Sir Peter Ustinov, der als Erzähler in den 1990er Jahren fünf große Mozart-Opern begleitete.

Zum aktuellen Repertoire gehören noch vier: „Die Entführung aus dem Serail“, „Don Giovanni“, „Figaros Hochzeit“, sowie die unverwüstliche „Zauberflöte“, die eigentlich jeden Tag auf dem Programm stehen könnte, wie Barbara Heuberger sagt, so sehr sei sie von Salzburg-Besuchern nachgefragt.

Natürlich sind Papageno und seine hölzernen Freunde in die Staaten mitgereist, auch in Amerika ist die Produktion ein Highlight. Mehr als sechs Tonnen Fracht wurde verschifft, nun sind mehrere LKWs unterwegs, um die fünf Gastspiel-Stücke zu transportieren. Neben „Alice“ und der „Zauberflöte“ ist noch Wagners „Ring“ (auf zwei Stunden gekürzt) dabei, „Hänsel und Gretel“, sowie das Musical „The Sound of Music“, der zweite Dauerbrenner im Repertoire.

Wie anspruchsvoll der Spielplan im Laufe der Jahrzehnte war, wie ausdrucksstark bemalt und kostümiert die zahlreichen kleinen Darsteller – davon zeugt nun die Auswahl in der Jubiläumsschau im Salzburg Museum: Der Mephisto aus „Doctoris Johannis Fausti“ (1914), Gräfin Almaviva aus der „Hochzeit des Figaro“ (1983) oder Coppelis aus „Hoffmanns Erzählungen“ sind nur drei von über 40 Puppen, die das anspruchsvolle Programm des Salzburger Marionettentheaters repräsentieren.

Anstatt stur der Chronologie zu folgen, entwickelten Chefkurator Peter Husty und sein Team aus den Buchstaben des Namens Aicher unterschiedliche Themenkomplexe: So steht beispielsweise das A für den Anfang, die Ausbildung des aus der Steiermark stammenden Künstlers an der Wiener Akademie - und das „E“ für Erfolg. Und bei diesem Thema kommt man unwillkürlich auf das spektakuläre Russland-Gastspiel 1936 zurück, für das eigens „Der sterbende Schwan“ einstudiert wurde – die Rolle, die Choreograf Michel Fokine 1905 für Primaballerina Anna Pawlowa schuf und die weltweit zum Inbegriff des formvollendeten Spitzentanzes wurde.

Es war wohl Hermann Aichers größte Herausforderung, diese Tänzerin in Holz nachzuempfinden. Festgehalten ist der Entstehungsprozess in einem historischen Film, der nun im Salzburg Museum „die zweite Geburt der Pawlowa“ dokumentiert, wie eine russische Zeitung schrieb. Fünf Spieler waren notwendig, um diese große Marionette zu bewegen, Arme, Beine und Kopf zu koordinieren. Wie man in dem Film sieht, wurde dafür eigens eine echte Tänzerin engagiert, die vor der Bühne vortanzte.

Nie wieder wurde das Bewegungsrepertoire einer einzelnen Puppe so detailliert ausgearbeitet und nie wieder nahm das Ensemble so große Strapazen und Risiken für eine Gastspielreise auf sich. „Der sterbende Schwan“ wurde ein triumphaler Erfolg und gilt heute noch als Meilenstein in der Geschichte des Salzburger Marionettentheaters.


Fotonachweis: Copyright alle Isabelle Hofmann

Header: Barbara Heuberger mit Marionetten
Galerie:
01. Hinrich Horstkotte (rechts) mit Herzogin und Holzschnitzer Udo Schneeweiss
02. Puppenspielerin Heidi Hölzl mit Köchin aus Alice
03. Das Weiße Kaninchen aus “Alice”
04. Filmausschnitt mit Tänzerin
05. Kurator Peter Husty
06. und 07. Blick in den Marionettenfundus