Theater - Tanz
Im Gespräch: Claus Friede mit den Regisseuren Madeleine Koenigs und Christopher Weiß

„Treffpunkt Borgfelde“ heißt ein Theaterprojekt, das am 15. Mai 2010 einmalig in Hamburg-Borgfelde aufgeführt wird und in Kooperation mit dem Hamburger Sprechwerk von einem vierköpfigen Künstlerteam bestehend aus Madeleine Koenigs (Regie), Christopher Weiß (Regie), Kai Fischer (Video) und Susanne Eigenmann (Recherchen) mit den Einwohnern Borgfeldes umgesetzt wird.

Der Stadtteil wird an einem Theaterabend zur Bühne und alle Hamburger Bürger sind eingeladen, einen der unbekanntesten und kleinsten aller Hamburger Stadtteile zu entdecken.

Claus Friede traf die beiden Regisseure und sprach mit Madeleine Koenigs und Christopher Weiß.

Claus Friede (CF): Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Theaterprojekt?

Im Gespräch: Claus Friede mit den Regisseuren Madeleine Koenigs und Christopher WeißChristopher Weiß (CW): Dieses Projekt hat sich seit längerem entwickelt. Madeleine und ich waren auf der „Was.Ihr.Wollt-Akademie“, wo wir uns auch kennen gelernt haben und arbeiteten mit Tom Stromberg. Wir probierten unterschiedliche Formen des Theaters und des Theatermachens aus. Irgendwann waren wir an dem Punkt angelangt, dass wir mit Theater ganz nahe am realen Leben sein wollten. Unser Abschlussprojekt namens „Fettschweif“, das wir am Maxim Gorki Theater in Berlin durchführen konnten, war dann auch pures Leben. Wir wollten die kleinen alltäglichen Sünden auf die Bühne bringen und dort verarbeiten...

CF: Was sind denn „kleine alltägliche Sünden“?

Madeleine Koenigs (MK): Wir sind bei dem Stück von der These ausgegangen, dass jeder Mensch, nicht nur jeder Künstler das Recht hat, seine persönlichen und privaten Themen auf der Bühne zu verarbeiten. Eine kleine alltägliche Sünde war, dass jemand einen Liebesbrief geschrieben hatte...

CW: ...es war ein Liebesbrief oder eigentlich eine ausgedruckte E-Mail mit erotischen Inhalt, die uns jemand gab. Die Mail kam nachts bei einem Mann an. Er las die Mail und ging dann schlafen. Am nächsten Morgen war eine zweite Mail von der Frau da, mit der Aufforderung: Lösche die Mail von heute Nacht. Er tat dies aber nicht. Das war seine kleine Sünde!
Er gab uns den Ausdruck und wir haben seine Sünde dann auf der Bühne verarbeitet – für ihn. Das hat aber nicht bedeutet, dass wir die Liebesmail vorgelesen haben, sondern wir griffen das Grundthema auf und haben den Brief auf der Bühne immer wieder ein wenig geheimnisvoll umspielt...

MK: ...ein paar Textstellen haben wir schon vorgelesen und das für uns Interessante war, dass nicht nur der Empfänger der Mail im Publikum saß, sondern auch die Senderin.

CW: Ein anderes und etwas profaneres Beispiel war, dass wir von einer Frau erfuhren, dass sie ihr Auto namens Willi – es hatte einen Namen...

CF: ...viele Autos in Deutschland haben einen Namen...

CW: ...genau! Na, dieses Auto war eine Dreckschleuder. Aber sie hing an ihm, weil es ihr erstes Auto war. Der Konflikt, zwischen gefühlsbetonter Erinnerung und ökologischer Untragbarkeit, war dann für uns das Bühnenthema.
Die kleinen Dinge und Themen auf die Bühne zu bringen und nicht nur die großen war unser Anliegen und ist es auch bei „Treffpunkt Borgfelde“. Wir gehen in den privaten Alltag und dort ist uns zu Beginn der jeweiligen Theaterarbeit kein Thema zu profan.

MK: Darauf folgte dann der nächste Schritt mit einem Theaterprojekt in Frankfurt/Oder. Wir haben uns beim UNITHEA Theaterfestival beworben und ein Konzept eingereicht, in dem wir baten: Sucht uns eine Wohngemeinschaft, dort wollen wir vier Wochen lang mit den Bewohnern leben und deren Themen verarbeiten. Dabei ging es dann nicht mehr um kleine Sünden. Der Ort war diese Wohnung und die Themen waren all jene, die in der WG tagtäglich auftauchen. Es gab keinerlei Einschränkungen. Wir haben zunächst mit den Mitgliedern der WG gearbeitet und am Ende war dort auch die Aufführung. Die Zuschauer sind in die Wohnung gekommen und in jedem Raum hat dann ein Bewohner sein Thema dargestellt.
Hier in Hamburg sind wir dann noch einen Schritt weitergegangen und haben uns gefragt, was man in einer Wohnung machen kann. Das müsste auch mit einem Stadtviertel wie Borgfelde funktionieren. Wir wollten die Vielzahl und Unterschiedlichkeit der Themen fokussieren.

CF: Jetzt ist der Name des neuen Projekts schon gefallen. Was ist „Treffpunkt Borgfelde“ genau?

CW: Wenn man in den Stadtteil kommt, ist er zunächst einmal unspektakulär, relativ klein und relativ unbekannt. Wie auch bei der WG wollen wir, dass die Darsteller die Borgfelder selbst sind. Wir fingen an zu recherchieren und in der Historie zu graben, haben Aufrufe an die Bewohner gestartet und uns nach Institutionen umgeschaut. Bereits nach kurzer Zeit konnten wir feststellen, wie unglaublich vielfältig das Stadtteilleben ist, wie die Vernetzungen sind, welche Kommunikationen stattfinden und welche kreativen Nischen sich die Anwohner geschaffen haben. Wir sind beispielsweise auf einen Internet-Radiosender in einem Wohnzimmer gestoßen, privat betrieben, und wir stellten dann fest, welche unsichtbaren kreativen Potentiale in Borgfelde schlummern. Wir sind dann auch auf einen Gospelchor gestoßen...

MK: ...wir kamen uns vor wie Kommissare. Da geht man zum Bäcker und fragt: Was gibt es hier für Geschichten, wie ist Deine Geschichte, Deine Biographie? Dem Aufruf und der Bitte „Was ist Eure Geschichte“ folgten erstaunlich viele. Neben kleinen Unternehmen, die für sich werben wollten, erhielten wir viele Reaktionen von Privatleuten. Gleich am ersten Produktionstag kam eine alte Dame zu uns. Sie kam mit einem Brief an, in dem sie – oh, jetzt darf ich nicht zu viel verraten – Hm… Also in dem sie ihr Alter und ihre Wohnung zum Thema machte: Und das sehr persönlich...

CW: ...sie hat sich hingestellt und den Brief verlesen. Allein das war einer der großartigen Momente. Sie kam zu uns und sagte: „Ich weiß nicht, ob das überhaupt wichtig genug ist. Sie machen hier ein Theaterprojekt und ich weiß jetzt gar nicht...“ Das war richtig rührend. Und klar, Ihr Thema ist wichtig! Ihre Worte zeigten uns in dem Moment auch die Berührungsangst zum Theater, die erst einmal überwunden werden muss. Ich kam mir in den Gesprächen und der Recherche eher vor wie ein Vertreter für Theater und ich musste den Leuten klarmachen: Eure Geschichten sind hier an der richtigen Stelle...

MK: ...wir mussten wie Vertreter unser Geschichte verkaufen, um deren Geschichten zu bekommen. Wir fordern ja auch sehr viel ein: Geschichten und Spielräume. Wir haben zwei Privaträume, die wir bespielen dürfen und am Aufführungstag insgesamt bestimmt eine Menge Leute, die da durch gehen werden.



CF: Das hört sich nach „Jäger und Sammler“ an. Wie kultivieren Sie nun das Material, was entsteht in welchen Einzelschritten?

Im Gespräch: Claus Friede mit den Regisseuren Madeleine Koenigs und Christopher WeißMK: Wir haben unsere Arbeit aufgeteilt: Die ersten drei bis vier Wochen hatten wir für das Sammeln und Jagen verplant, nun sind wir bei den Proben. Dadurch, dass wir 15 Spielorte haben und jede Szene eine eigene Form hat, ist dieser Bereich besonders komplex. Eine Szene ist musikalisch, die nächste ist textlich fokussiert und wieder die nächste ist eine Installationsarbeit.

CW: Das ist dem Konzept geschuldet, weil sowohl die Menschen unterschiedlich sind als auch deren Geschichten. So muss jeweils eine eigene Form entwickelt werden, die aber im gesamten Kontext auch stimmen müssen.

CF: Auch die Orte, an denen die Szenen stattfinden, haben ihre eigene Geschichte. Werden die in einer bestimmten Art berücksichtigt?

MK: Wir versuchen bei einigen Szenen, Orten deren Geschichte wiederzugeben, beispielsweise in einer Wohnung, aber es gibt auch Brüche. In einem Bunker wollen wir nicht den Bunker oder Krieg thematisieren, sondern mit ganz anderen assoziativen Geschichten den Ort brechen...

CW: ...man kann nicht alles erzählen in unserem Projekt und wir sind auch in unseren künstlerischen Entscheidungsprozessen nicht festgelegt, wir können überhöhen oder Ort neu definieren.

CF: Bei Ihrer Erzählung über die alte Frau, die dem Aufruf gefolgt ist und dann ihren Brief vorgelesen hat, habe ich mich gefragt, ob „Treffpunkt Borgfelde“ nicht auch eine evidente soziale Ausrichtung hat...

CW: Ja, es ist ein soziales Theaterprojekt...

MK: ...und wie wir eben sagten, wir sind Kommissare und Verkäufer, genauso sind wir auch hier und dort Sozialarbeiter. Aber dieses Thema ist sensibel, weil wir unbedingt vermeiden wollen, dass es eine Art Voyeurismus gibt oder sich jemand bloßstellt und zu sehr öffnet.

CF: Wie sind denn die künstlerischen Maßstäbe? Wo beginnt Voyeurismus, ab wann stellt sich jemand bloß und wer entscheidet dann, welcher Prozess abgebrochen wird?

CW: Unsere Arbeit ist in einem Prozess und wir müssen situativ entscheiden. Aber das ist Teil des Konzepts und es gibt diese Punkte, wo wir merken, hier bringt es keinen künstlerischen Mehrwert und wir müssen einen anderen Weg finden. Wir lehnen auch einige Dinge radikal ab. Auch unser jeweiliges Gegenüber muss sich auf uns einlassen und hier und da flexibel sein.
Wir arbeiten aber in einem Künstlerkollektiv und das ist gut, weil wir die Entscheidungen gemeinsam abwägen.

CF: Welches Interesse könnten die Bewohner von Wandsbek, Barmbek, Eimsbüttel oder Blankenese haben, sich mit Borgfelde zu beschäftigen?

MK: Borgfelde ist ein Mikrokosmos, einzigartig. Zwar ganz zentral gelegen, aber von seiner Wahrnehmung her Peripherie. Ganz anders als St. Georg!
Auf der anderen Seite findet man aber natürlich auch fast alle Zustände, die es in anderen Stadtteilen gibt.

CW: Die Themen sind aber nicht speziell Borgfelde, sondern auch für andere Gebiete und Menschen gültig. Das ist Teil unserer künstlerischen Arbeit, das spezielle im Allgemeinen zu zeigen und umgekehrt. Außerdem handelt es sich hier um Kommunikationsmodelle. Vergleichbare Themen in andere Räume gesetzt wirken anders. Die Kommunikation über Kunst in diesen Räumen ist ganz anders als auf einer Bühne, wir bewegen uns zwischen Realität und Fiktion, zwischen Dokumentation und Kunst. Wenn eine Frau auf einer Wiese staubsaugt, dann ist der öffentliche Raum plötzlich mit einer fantastischen Situation konfrontiert und provoziert Phantasie bei den Menschen.

CF: Ja, schöne Idee und Szene. Da sehe ich sofort Bilder dazu: Meine Nachbarin saugt die Kippen von der Wiese...

MK: Manchmal muss sich die Perspektive nur um einen Zentimeter verschieben und man bekommt etwas ganz Neues. Es wäre unser Wunsch, eine Alltagspoesie zu schaffen. Wir wollen damit erreichen, dass die Besucher, die sich von Spielort zu Spielort bewegen, auch die Zwischenräume füllen und den normalen, alltäglichen Raum anders wahrnehmen.

CF: Es gibt in der Bildenden Kunst den Begriff des „Mappings“, der Netzwerke eines Raumes erfassen soll. In diesem Sinne kann es als Instrument zum "Lesen" von Landschaften und Orten, aber auch von sozialen Beziehungsgeflechten verstanden werden. Können Sie etwas mit diesem Begriff anfangen?

MK: Wir haben den Begriff bei unserer Arbeit bisher nicht benutzt, aber wenn ich Sie richtig verstehe, dann erstellen wir ein „Mapping“ zwischen den Borgfeldern. Wir ziehen Verbindungen zwischen inhaltlichen und örtlichen Einheiten.

CF: „Treffpunkt Borgfelde“ findet an einem einzigen Tag statt, am 15. Mai. Wie ist das mit den Kapazitäten? Es können ja sicherlich nur eine begrenzte Anzahl von Zuschauern in die Wohnung oder zum Bäcker...

MK: Das Kapazitätsproblem lösen wir durch einzelne Gruppen mit jeweiligen Stadtführern. Wir dürfen nicht mehr als 140 Zuschauer einladen. Und man muss sich vorher anmelden, damit wir wissen, wie viele kommen wollen.


„Treffpunkt Borgfelde“
Sa 15.05.2010, 17:00 Uhr

Künstlerisches Team: Madeleine Koenigs, Kai F. Fischer, Christopher Weiß, Susanne Eigenmann, Rebekka M´Baidanoum, Anna-Lena Wendt
Karten zu 12 € (bei Reservierung 11 €, ermäßigter Preis 9 €)
Hamburger Sprechwerk Kartentelefon: 040 - 2442 3932
Treffpunkt und Kartenkasse vor dem Café Smögen, Klaus-Groth-Straße 28, Hamburg
Gefördert wird das Projekt von der Initiative „Anstiften - 50 Impulse für Hamburg“ der Körber-Stiftung Hamburg.

Mehr Informationen unter: www.facebook.com

Fotos: © Kai Fischer
Header: Madeleine Koenigs und Christopher Weiß vor dem Hamburger Sprechwerk
alt