Theater - Tanz
Lasst mich in Ruhe St. Pauli Theater Hamburg

So ernste, intensive und gesellschaftskritische Stücke wie Klaus Pohls „Lasst mich in Ruhe!“ sind eine Seltenheit am St. Pauli Theater. Die von Ulrich Waller inszenierte Uraufführung beginnt als komödiantischer Mutter-Tochter-Konflikt mit viel Musik, wandelt sich aber unversehens in ein tiefgreifendes, berührendes Drama um die Kernfragen des Lebens.

Die Spielregeln unserer Gesellschaft sind sonnenklar: Bildung, Bildung, Bildung. Abitur und Studium, alles mit Bestnoten möglichst, sind der Schlüssel zum Erfolg! Doch was macht man mit Kindern, die einfach nicht funktionieren wollen? Die rumflippen, Tagträumen, in der Schule versagen und ganz offenbar überhaupt nicht zu schätzen wissen, was für Opfer die Eltern – in diesem Fall die alleinerziehende Mutter – bringen, um den Nachwuchs den bestmöglichen Start ins Berufsleben zu ermöglichen?

Lasst mich in Ruhe!Der Schauspieler, Dramatiker und Autor Klaus Pohl („Karate-Billy kehrt zurück“) hat mit Marta, der Putzfrau aus Moldawien, den Prototyp einer grundgütigen fleißigen Frau geschaffen, die in Deutschland den sozialen Aufstieg, zumindest das kleinbürgerliche Glück sucht. Ihre Tochter Charlotte (französisch ausgesprochen, ohne „e“ hinten, darauf legt sie Wert) soll es einmal besser haben und studieren, vielleicht Bauingenieurwesen, das wäre für Marta das Größte. Doch die in Deutschland geborene Charlotte pfeift auf bürgerliche Ideale. Sie will lieber – so stellt sich der Teenager anfangs in einem eindrucksvollen Monolog vor – kiffen, chillen und ffff… fliegen. Das Malen nicht zu vergessen. Kunst ist ihre Leidenschaft. Mit ihrer ersten Liebe, dem seelenverwandten Fritz, genannt Sioux, hat Charlotte dann auch eine echt coole Zeit, erscheint im Pyjama im Unterricht, treibt ihre Lehrer in den Wahnsinn – und sprudelt über an Kreativität.

Als ihre Tochter von der Schule fliegt, ist für Marta Schluss. Die Schulärztin hat ADHS diagnostiziert, Ritalin scheint die Lösung zu sein. Mit der Droge will die Mutter das, was sie sich in ihrem bürgerlichen Wertesystem als Glück ihrer Tochter vorstellt, erzwingen. Ihr neuer Freund Klaus unterstützt sie dabei und finanziert Charlotte einen zweijährigen Internatsaufenthalt. Die Tochter kehrt so verwandelt zurück, als hätte sie eine Gehirnwäsche hinter sich. Doch die Fassade der smarten jungen Frau im Business-Look, die jetzt in Harvard Medizin studiere will, bröckelt schnell. Charlotte ist drogensüchtig. Ohne Ritalin geht gar nichts mehr, der Absturz ins Bodenlose ist programmiert.

Lasst mich in Ruhe! Eva Mattes, die den osteuropäischen Akzent anfangs fast übertreibt, findet rasch die richtige Tonlage und wird im Laufe des Abends immer mehr zur rumänischen Mamuschka. Ergreifend, wie sie zum Schluss Martas innere Zerrissenheit zeigt: Einerseits in tiefer Sorge um die Tochter, andererseits will sie den neuen Mann in ihrem Leben, der ihr Liebe und materielle Sicherheit verspricht, nicht verlieren. Stephan Schad spielt diesen Klaus als windigen, großmäuligen Versicherungsvertreter, der sich immer stärker in das Leben der Frauen einmischt, aber auch zunehmend ernsthafter und solider wirkt. Dennoch zweifelt man an seiner aufrichtigen Liebe zu Marta, zumal da noch Martas Freundin Jela (Anne Weber) ist, deren Reize er nicht wiederstehen kann.
Vor allem aber beeindrucken die beiden Nachwuchsschauspieler an diesem empfehlenswerten Abend: Edda Wiersch ist eine großartige Charlotte. Als rotzig-überdrehte Göre ebenso überzeugend, wie als verbissene, verzweifelte Studienanwärterin. Von dieser jungen Schauspielerin wird man hoffentlich noch viel sehen. Und Vincent Lang ist ein ebenbürtiger Partner, der als dichtender Romantiker Sioux alle Zuschauerherzen gewinnt.

Einziger Kritikpunkt: Die Inszenierung von Ulrich Waller. Abgesehen davon, dass ständig Kulissen auf der Bühne (Nina von Essen) umhergeschoben werden, was für permanente Unruhe sorgt, wirkt auch die Form etwas unausgegoren: Immer wieder wird die Handlung unterbrochen durch musikalische Einlagen, mal Balkan-Folklore, mal Schlager, mal Rap. Alles so nett und gefällig, als wolle Waller das heftige Stück als harmlos-unterhaltsamen Liederabend tarnen. Inszenatorisches Ritalin für die Stammkundschaft des St. Pauli Theaters sozusagen. Denn natürlich sind Eva Mattes und Anne Weber auch gesanglich ein Genuss und einige Lieder laden sogar zum Mitklatschen ein. Der Schluss jedoch ist außerordentlich ernst und man fragt man sich unweigerlich: Was ist das für eine perfide Gesellschaft, die ihre Kinder aus lauter Leistungssucht in die Drogenabhängigkeit treibt?

„Lasst mich in Ruhe!“

Zu sehen bis 27. April 2019
Mit: Vincent Lang, Eva Mattes, Stephan Schad, Anne Weber, Edda Wiersch
Musiker: Jakob Neubauer, Gabriel Coburger
Regie: Ulrich Waller | Bühne: Nina von Essen | Kostüme: Ilse Welter
im St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29-30, 20359 Hamburg

Preise:
Sonntag bis Donnerstag: 19,90 € bis 49,90 €
Freitag und Samstag: 19,90 € bis 59,90 €

Karten und Infos unter www.st-pauli-theater.de


Abbildungsnachweis:
Header: Lasst mich in Ruhe! – v.l.n.r.: Eva Mattes, Edda Wiersch © Moog Photography
Im Text: Lasst mich in Ruhe!, G. Coburger, E. Mattes, J. Neubauer und A. Weber © Kerstin Schomburg
und E. Mattes und E. Wiersch © Kerstin Schomburg

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