Theater - Tanz
Anna Karenina - Foto - Kiran West

John Neumeiers jüngstes Ballett bei den 43. Ballett-Tagen in Hamburg umjubelt.

Es ist mitunter durchaus von Vorteil, eine Uraufführung zu verpassen. Mit etwas Abstand und in anderem Kontext schälen sich Stärken und Schwächen dann umso stärker heraus. In diesem Fall ist die dritte Vorstellung von „Anna Karenina“ während der 43. Hamburger Ballett-Tage gemeint, Neumeiers jüngster Ballettschöpfung zur Musik von Peter Tschaikowski, Alfred Schnittke und Cat Stevens (am Pult der prächtig aufgelegten Philharmoniker: Simon Hewett).

Zwei Tage nach dem fulminanten Gastspiel des Chinesischen Nationalballetts brachte die Aufführung im unmittelbaren Vergleich jedenfalls überdeutlich zum Ausdruck, was den Hamburger Ballettchef und seine Compagnie so einzigartig macht: Das tiefenpsychologische Durchdringen ihrer Rollen. Während die technisch atemberaubenden Chinesen in ihren traditionellen Choreografien noch weitgehend emotionale Abziehbilder lieferten, lotete die Hamburger Compagnie (wieder einmal) alle Aggregatszustände der Seele aus. Allen voran Anna Laudere in der Titelrolle! Ihre Zerrissenheit zwischen der Liebe zu ihrem Sohn und der Liebe zu Wronski war zutiefst berührend. Laudere ist nicht nur eine wunderbare Tänzerin, sie ist auch eine beeindruckend gute Schauspielerin.

Ja, John Neumeier ist zweifellos ein Grübler und Denker. Ein zutiefst emotionaler Mann, der seine Gefühle nicht verhehlen kann. Bloße Technik hat ihm nie gereicht, immer ging es ihm darum, das Seelenleben seiner Protagonisten möglichst wahrhaftig und differenziert zum Ausdruck zu bringen. Mit „Anna Karenina“ ist ihm das vielleicht besser gelungen als je zuvor. Es ist die Weisheit des Alters, die Erfahrungen eines ganzen Menschenlebens, so scheint es jedenfalls, die in dieses Stück eingeflossen sind.

Der Auftakt ist ungewohnt laut: Karenin (Ivan Urban), dieser papiertrockene Staatsbeamte und Ehemann, steht hier als Spitzenpolitiker auf dem Podium und lässt sich von einer tobenden Menge als kommender Präsident feiern. Ganz offenbar hat der letzte Wahlkampf in den USA seine Spuren hinterlassen, zumindest den US-Amerikaner Neumeier dazu inspiriert, Leo Tolstois berühmten Roman in die Gegenwart zu verlegen. Dieser Kunstgriff verdeutlicht auch sehr schön, warum Anna in ihrer Ehe so unglücklich ist: Auf der Tribüne sind sie und der gemeinsame Sohn nur das schmückende Beiwerk – und zu Hause überflüssig und störend, während der nazistische Machtmensch Karenin hinter seinen Akten verschwindet. Was Wunder, dass sie sich in den gutaussehenden Grafen Wronski verliebt. Für Edvin Revazov eine Paraderolle, nicht nur, weil er in jeder Hinsicht das Gegenteil von Karenin verkörpert (lässig, locker, jungenhaft), auch, weil er Anna Laudere lange Zeit privat sehr nahestand. Man spürt seine Wärme und Hingabe in den Pas de deux mit der Geliebten.

Die Dreiecksbeziehung von Anna und ihren beiden Männern stehen bei Tolstoi im Fokus, doch sie sind in diesem vielschichtigen Roman
nicht die einzigen Unglücklichen: Annas Bruder, Fürst Oblonski (Dario Franconi), betrügt seine Frau Dolly (ausdrucksstark Patricia Friza). Dollys Schwester Kitty ist unsterblich in den Grafen Wronski verliebt und findet, nach schwerer Krise, Krankheit und Läuterung, ihr Glück mit dem Gutsbesitzer Levin, den Kitty anfangs abgewiesen hat. Drei Paare also, drei dicht miteinander verwobene Handlungsstränge, die alle drei um Liebe und Leidenschaft, Ehe, Familie und die mit ihr verbundenen Moralvorstellungen kreisen.

Hamburgs Ballett-Chef, der auch für Bühne, Licht und Kostüme verantwortlich zeichnet (Ausnahme: das AKRIS-Kleid von Anna), verdeutlicht diese Handlungsstränge mit wunderbar ineinanderfließenden Bildern und sich auflösenden Szenen, in denen die Zeitgleichheit der Geschehnisse, wie auch die Dissonanzen in den Beziehungen zum Ausdruck kommt. Alles scheint hier im Wanken, alles in der Auflösung und im Umbruch begriffen: Während sich Spannungen und Missstimmungen zwischen Anna und Karenin im Vordergrund zuspitzen, läuft sich Wronski im Hintergrund schon mal warm. Während Anna Wronski begegnet, freut sich Kitty (hinreißend getanzt von Emilie Mazon) auf ihre vermeintliche Verlobung mit dem Grafen. Nichts passt hier wirklich und das scheint nicht nur Zustand der drei Paare zu betreffen, zu denen Neumeier fulminante Pas de deux geschaffen hat. Das scheint der Zustand dieser Gesellschaft zu sein, die irgendwie komplett aus den Angeln gerät.

Einen krassen – vor allem musikalischen – Kontrapunkt gibt es allerdings doch: Die Welt des Großgrundbesitzers Levin. Vielleicht hat Neumeier Levins schlichtes Gemüt an die Bauern im Mittleren Westen erinnert, vielleicht waren es romantische Jugenderinnerungen – jedenfalls tanzt der großartige Aleix Martinez im rotkarierten Rockefeller-Hemd zu den Hits von Cat Stevens. Das wird auf die Dauer allerdings etwas penetrant: Während Levins Träumereien zu „Moonshadow“ noch überraschend amüsant sind und auch „Sad Lisa“ gut zu der verzweifelten Kitty passt, fällt Neumeier zu „Morning Has Broken“ dann nur noch ein in Ehrfurcht erstarrtes Sensen-Ballett ein. Man hätte jaulen mögen bei so viel Kitsch. Sorry, Mr. Neumeier, aber das war wirklich too much.
Fazit: Ein sehr sehenswerter, nachhaltig intensiver Ballett-Abend mit kleinen Ausrutschern. Aber was soll’s, Cat-Stevens-Fans werden begeistert sein.

Anna Karenina
Ballett von John Neumeier, inspiriert von Leo Tolstoi
Musik: Peter I. Tschaikowsky, Alfred Schnittke, Cat Stevens / Yusuf Islam
Choreografie, Bühnenbild, Licht und Kostüme: John Neumeier
Anna Karenina trägt AKRIS – Albert Kriemler
Mitarbeit am Bühnenbild: Heinrich Tröger
Video und Grafik: Kiran West


Nächste Vorstellung: Samstag 23.09.2017, 19.00 - 22.15 Uhr | Großes Haus
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis:
Headerfoto: Kiran West

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