Theater - Tanz
4000 Tage im St. Pauli Theater

Aufwachen und sich an nichts mehr erinnern können – was für eine Horrorvorstellung. Der englische Autor Peter Quilter hat das Szenario einmal durchgespielt – und ein spannendes Beziehungsdrama zwischen drei Personen daraus entwickelt.
Ulrich Waller konnte für „4000 Tage“, die deutsche Erstaufführung am St. Pauli Theater, eine Starbesetzung gewinnen. Dennoch holperte es ein wenig.

Drei Wochen lag Michael (Boris Aljinovic) im Koma. Ein geplatztes Gefäß im Kopf, ein Wunder, dass er überlebte. Nun ist er wieder wach und hält seinen Partner Paul (Gustav Peter Wöhler), der Tag und Nacht an seinem Bett saß, für den Pfleger. Nicht nur die drei Wochen, 4000 Tage fehlen Michael an Erinnerungen. Genau die 11 Jahre seiner Beziehung zu Paul. Die Zeit, in denen er die Kunst, die Malerei, aufgegeben hat und zu einem ebenso unscheinbaren Spießer wurde, wie sein Partner, der Waschmittelverkäufer, einer ist.

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Michaels Mutter Carol (Judy Winter) hat Paul nie gemocht. Nicht, weil Paul schwul ist, sondern weil sie seine Mittelmäßigkeit verachtet - und weil er ihren Sohn ihrer Ansicht nach unglücklich gemacht hat.
So, und nun treffen sich die beiden Kontrahenten am Krankenbett (Altmeister Wilfried Minks hat ganz unspektakulär ein realistisches Krankenzimmer auf die Bühne gestellt) und der Kampf um die Gunst von Michael beginnt. Erst reagiert Carol verstört, als ihr Sohn sich im Jahr 2006 wähnt, dann sieht sie ihre Chance: Alles noch mal auf Los, Michael kann von vorn anfangen! Ohne Paul! Was für ein Triumph, als ihr geliebter Junge nach seinen Mal-Utensilien fragt und vehement reagiert, als Paul ihn daran erinnert, dass er die Kunst längst an den Nagel gehängt und einen Job in einer Versicherung angenommen hat. Völlig ausgeschlossen, empört sich Michael, „das hätte ich nie getan“!
Carol besorgt neue Farben, doch Paul gibt nicht auf. Liebevoll bis verzweifelt versucht er, Michaels Erinnerungen zu wecken – durch Geschichten und Fotos von den gemeinsamen Reisen in den letzten Jahren.

Mit Judy Winter, Boris Aljinovic und Gustav Peter Wöhler hat Regisseur Ulrich Waller drei Rampentiger verpflichtet, die durchaus als Idealbesetzung gelten können. Herrlich, der erste Auftritt von Wöhler! Keiner kann den verdrucksten Biedermann so gut spielen wie er. Der scheele Blick, als er feststellen muss, dass die nervige Fast-Schwiegermutter schon da ist; seine Unsicherheit, wie er mit der Situation umgehen soll; das Umtänzeln der exzentrischen, ständig rauchenden Diva wie Möchtegern-Fakir die giftige Schlange – das ist einfach super! Und dann noch der verzweifelte Versuch, eine Sandwich-Plastiktüte mit einer Hand aufzureißen. Was für eine hinreißende Slapstick-Nummer! Doch bei der Erstaufführung wurde der verbale Schlagabtausch durch massive Hänger von Judy Winter, einer lautstarken Souffleuse, die den Einsatz auch noch zwei Mal geben musste, leider unsanft unterbrochen – und das hat Wöhler offenbar auch aus dem Konzept gebracht. Jedenfalls war der „Flow“ erst einmal hin.
Dabei sind alle drei, wie gesagt, tollte Schauspieler. Judy Winter scheint die Rolle der kaltschnäuzigen Giftspritze, die ihren Sohn unbedingt wieder zu sich nach Hause nehmen will, auf den Leib geschneidert. Und Boris Aljinovic gibt nach dem Aufwachen aus dem Koma einen so zerbrechlichen Michael, als schwebe der tatsächlich noch zwischen Himmel und Erde. Es bringt Spaß, diesem Schauspieler zuzusehen, wie er mit zunehmender Genesung die Vorherrschaft in diesem Dreigestirn übernimmt und sich als leidenschaftlicher Künstler der mit großer Geste sein Wandbild produziert, schließlich gegen beide behauptet. (Wilfried Minks gelingt nach der Pause übrigens ein schöner Überraschungseffekt, indem er die hintere Wand in eine transparente Leinwand verwandelt).

Überhaupt gewinnt dieser Abend nach der Pause neue Qualitäten, entwickelt sich vom anfänglichen Boulevardstück in ein anrührendes Kammerspiel, in dem es um Liebe, Glück, Vertrauen, Einsamkeit und letztendlich auch die Frage nach dem Lebenssinn geht. Und diese Themen lassen nun wirklich niemanden kalt.

Peter Quilter: 4000 Tage

Deutsch von Max Faber
Mit: Boris Aljinovic, Judy Winter, Gustav Peter Wöhler
Regie: Ulrich Waller
Bühne: Wilfried Minks
Kostüme: Ilse Welter
Zu sehen bis zum 24. April, St. Pauli Theater, Spielbudenplatz,
Tickets (040) 4711 0666 oder www.st-pauli-theater.de


Abbildungsnachweis:
Header: Gustav-Peter Wöhler, Judy Winter, Boris Aljinovic. Foto: Jim Rakete
Galerie:
01. 4000-Tage; G. P. Woehler, B. Aljinovic, J.Winter. Foto: Oliver Fantitsch
02. Plakatmotiv 4000 Tage
03. Gustav Peter Wöhler, Boris Aljinovic. Foto: Oliver Fantitsch