Musik
Carmen ohne Folklore

Als geradlinige Geschichte eines Außenseiters will Jens-Daniel Herzog die Begegnung von Don José und Carmen an der Hamburgischen Staatsoper erzählen.
Die Neuinszenierung von Bizets populärem Klassiker dirigiert Alexander Soddy, Elisabeth Kulman singt die kompromisslose Titelheldin.

Eine Feier des Lebens: Als Don José seine Strafe im Gefängnis abgesessen hat, empfängt Carmen ihn mit einer Unbedingtheit, die kein Morgen kennt. Das Geld, was er gespart hat, wird sofort ausgegeben: „Komm, wir verfuttern den Mammon!“, ruft sie dem zögernden Liebhaber zu. Und dann geht es ins nächste Geschäft: Wein, Süßwaren, Delikatessen, alles wird sofort und ohne Bedenken besorgt und verzehrt. Carmen verführt den braven Soldaten aus gutem Hause zum ultimativen Genuss: „Wir verbrachten den ganzen Tag mit Essen, Trinken und dem Übrigen“, bilanziert er lakonisch.

So erzählt es eine kleine Episode in Prosper Mérimées 1845 erschienener ‚Carmen’-Novelle, die Georges Bizet dreißig Jahre später als Vorlage diente. Viele prägnante Details hat der Komponist übernommen – etwa Carmens Tanz mit den zerbrochenen Tellerscherben –, das eingangs beschriebene intime Fest ist nicht dabei. Doch es bringt Carmens Faszination auf den Punkt: Sie wirkt durch ihre Augenblicksmentalität und ist der radikale Gegenentwurf zum Spießertum mit Sparbuch. Carmen postuliert die Freiheit des Individuums jenseits aller gesellschaftlichen Zwänge. Dieser grenzenlosen Autonomie verfällt auch Don José. Doch er kann den sozialen Spielregeln nicht entkommen.

Mérimées Novelle berichtet weniger von erotischer Glut unter der Sonne Andalusiens als vom Abstieg eines Mannes, der zum Mörder wird und dafür sterben muss. Vor seiner Hinrichtung legt er seine Begegnung mit Carmen offen, die sein Leben an einen Wendepunkt brachte. Diese Perspektive hat auch Regisseur Jens-Daniel Herzog interessiert: „Merimées Novelle rekonstruiert ja die Geschichte eines Mordes. Don José begeht quasi Selbstmord, indem er jemand anderes umbringt. Damit wirkt er auf mich fast wie eine Wozzeck-Gestalt: ein geächteter Außenseiter, vor allem mit seinem eigenen Begehren beschäftigt, das er abtöten muss. Für den Zuschauer ist er der psychologisch interessantere Charakter, der auch zur Identifikation einlädt. Carmen dagegen ist bewusst eine völlig ungreifbare Figur.“

Mit ‚Carmen’ setzt die Staatsoper Hamburg ihre Neubefragung der Repertoireklassiker fort. Nach den sehr erfolgreichen Neudeutungen von ‚La Traviata’ und ‚Madama Butterfly’ wird nun auch die fast 35 Jahre alte Inszenierung von Piero Faggioni ausgetauscht. Mit seiner ebenso schlüssigen wie spannenden Regie bei Telemanns Barockoper ‚Flavius Bertaridus’ hat Jens-Daniel Herzog vor zwei Jahren an der Dammtorstraße gezeigt, dass er selbst die verwickeltesten Konstellationen geradlinig und scharfsichtig inszenieren kann. Einen Standpunkt, den er gemeinsam mit seinem Ausstatter Mathis Neidhardt auch für ‚Carmen’ verfolgen wird: „Wir wollen die Geschichte ohne Folklore vor allem pur und direkt erzählen. Das Milieu ist eine Studie des gesellschaftlichen Verfalls: Die Zigarettenfabrik, in der Carmen arbeitet, dient als letzte ökonomische Ressource dieser Gegend. Und als sie geschlossen wird, bleibt nur noch ein leerer Raum des Feierns für die, die nichts mehr haben. Da es an geregelter Arbeit fehlt, hält man nach ›Zusatzgeschäften‹ wie Schmuggel und Diebstahl Ausschau.“

In diesem improvisierten Überlebenskampf trifft Don José, der fremde Soldat, auf die Zigeunerin Carmen. Georges Bizets letzte und bei weitem populärste Oper war ein Auftrag der Pariser Opéra-Comique und sollte ursprünglich tatsächlich ein heiteres Stück werden. Durch die Stoffwahl wurde die Gewichtung zwar verschoben – doch geblieben ist die Leichtfüßigkeit, Brillanz und Transparenz von Bizets Komposition. Mit einem berühmten Aperçu von Nietzsche: „Diese Musik schwitzt nicht.“ Sie behauptet nicht – wie es seinerzeit zahllose Wagner-Epigonen taten – mehr zu sein, als sie ist, bekennt sich zu klaren Formen und direkter emotionaler Anrede ohne schwurbelndes Pathos. Umso seltsamer, dass man ausgerechnet »Carmen« schon kurz nach der Uraufführung als schicksalhaft dräuendes, morbides Femme-fatale-Klischee missverstand. Viele ‚Carmen’-Inszenierungen der jüngeren Zeit haben versucht, dieses gleichwohl übermächtige Bild zu korrigieren, und ihnen folgt auch Jens-Daniel Herzog: „Bizet verdichtet die psychischen Zustände seiner Figuren auf das Knappste. Diese Direktheit finde ich großartig. Wir haben uns ja auch für die originale Version mit Dialogen statt der nachkomponierten Rezitative entschieden, um diesen falschen Schwulst, der das Stück immer noch umgibt, ganz abzukratzen.“

Am Pult wird sich darum auch Alexander Soddy kümmern. Der junge englische Dirigent kehrt nach seinen höchst erfolgreichen ‚Lehrjahren’ an der Staatsoper Hamburg nun zurück, nachdem er in München, Berlin und nun als GMD im österreichischen Klagenfurt reüssierte. Mit der verwickelten Quellenlage von Bizets Oper, die nach dem frühen, plötzlichen Tod des Komponisten durch wohlmeinende Hände oft ‚korrigiert’ wurde, hat er sich eingehend beschäftigt. Und auch Alexander Soddy favorisiert eine luzide, vitale »Carmen«-Lesart. Zur Seite steht ihm dabei eine junge Sängerriege: Mit besonderer Spannung wird das Hamburg Debüt der österreichischen Mezzosopranistin Elisabeth Kulman erwartet. Sie gilt als charismatische Bühnenpersönlichkeit mit farbintensivem Timbre und hat keine Furcht, anzuecken – was ihr für die Darstellung der Carmen sicher nicht schadet. Nikolai Schukoff, zuletzt als Parsifal zu Gast, übernimmt den Don José, der beliebte Ensemblebariton Lauri Vasar den Rivalen Escamillo.

Unter den Anregungen der Novelle Mérimées, die Bizet zu ganz neuen Szenenkomplexen ausbaute, ist auch der Stierkampf des Toréadors Escamillo. Bei Mérimée nur kurz erwähnt, weitet Bizet ihn zu einem großen, farbigen Chortableau mit elektrisierender Musik. Die Stierkampf-Begeisterung der Massen sieht Jens-Daniel Herzog durchaus vergleichbar mit der heutigen Funktion des Sports als sozialem Kitt, als Refugium derer, denen sonst wenig bleibt. Das archaische Ritual des Stücks ist für ihn dennoch nicht der Stierkampf, sondern der Mord an Carmen: „Don José vollstreckt damit fast so etwas wie einen Ehrenmord: die männliche Rache an der sich verweigernden Frau. Ein merkwürdig obsoletes Ritual einer untergegangenen Welt, in der sich die gesellschaftlichen Bindungen bereits aufgelöst haben.“

Ausdrücklich verwahrt sich der Regisseur gegen die Deutung, dass Carmen eine leere Projektionsfläche für erotische Fantasien der Männerwelt ist. „Ich möchte wirklich die ganz individuelle Begegnung von Carmen und Don José erzählen“, sagt Jens-Daniel Herzog. „Es ist seine Carmen, die da kommt – nicht die Carmen für alle. Und er spielt diese Begegnung, die ihn so aus der Bahn geworfen hat, wieder und wieder durch.“


Georges Bizet: "Carmen" in der Hamburgischen Staatsoper, Großes Haus, Dammtorstraße 28, 20354 Hamburg
in französischer Sprache mit deutschen Übertiteln
Inszenierung: Jens-Daniel Herzog. Bühnenbild und Kostüme: Mathis Neidhardt. Licht: Stefan Bolliger. Chor: Eberhard Friedrich. Dramaturgie: Hans-Peter Frings, Kerstin Schüssler-Bach

Es singt der Chor der Hamburgischen Staatsoper.

Vorstellungen:
SO, 19.01.2014 18:00 Uhr
MI, 22.01.2014 19:00 - 22:30 Uhr
SO, 26.01.2014 18:00 - 21:30 Uhr
MI, 29.01.2014 19:00 - 22:30 Uhr
SO, 2.02.2014 16:00 - 19:30 Uhr
FR, 7.02.2014 19:00 - 22:30 Uhr
SO, 9.02.2014 18:00 - 21:30 Uhr
MI, 12.02.2014 19:00 - 22:30 Uhr

Preise: 7,- bis 176,- € (P)

Dieser Artikel erscheint in Kooperation mit der Hamburgischen Staatsoper, Kerstin Schüssler-Bach ist dort Dramaturgin.
Fotonachweis: (c) Hamburgische Staatsoper
Header: Elisabeth Kulman. Foto: (c) Julia Wesely