Musik

Postmoderne Nomadin und transkulturelle Geschichtenerzählerin des 21. Jahrhunderts – die gesangliche und intellektuelle Künstlerkarriere von Etta Scollo verspricht seit Jahrzehnten anspruchsvolle Unterhaltung und bewegende Momente, die unser Herz berühren. Jetzt wird die gefeierte musikalische Migrantin zwischen den Welten des Pop, Jazz, Folk, Chansons, Blues und Italo-Soul sechzig.

 

Die in Catania geborene und aufgewachsene „Stimme Siziliens“ ist vor allem im deutschsprachigen Raum längst ein Geheimtipp, den die Spatzen von bundesdeutschen, österreichischen und Schweizer Clubdächern pfeifen. Ihre selbst komponierten Alben, oft in Gemeinschaftsarbeit konzipierten Kulturprojekte und in wechselnden Konstellationen vorgetragenen Lieder sind Glanzlichter der „World Music“. Sie plädieren auf eindrucksvolle Weise für Empathie, kulturelle Tradition und einen europäischen ‚Humanitarismus‘, der seine Lehren aus Lampedusa und der abendländischen Geschichte im Zeichen menschlicher Gefühle, fließender Melodien und flexibler Grenzen zieht.


Die am 27. Mai 1958 als Tochter eines linksliberalen Anti-Mafia-Anwalts und leidenschaftlichen Jazzmusikers auf Sizilien geborene Sängerin und Komponistin Etta Scollo lebt heute „zwischen“ Berlin und Sizilien – oder anders ausgedrückt: sowohl in ihrer großstädtischen Wahlmetropole Berlin als auch an der beschaulichen ostsizilianischen Meerküste im Wechsel, wenn sie nicht gerade auf Tour ist, versteht sich. Also direkt am Puls Europas. Alles eine Frage der Variation und Betrachtungsweise.


Von dem in Italien vielseitig aktiven, bekannten und geschätzten italienischen Cantautore („L‘arca di Noè“, dt. „Die Arche Noah“, 1982), Musiker, Filmregisseur (etwa vom Beethoven-Film „Musikanten“, 2005), parteilosen Politiker und Maler Franco Battiato (geb. 1945) – seines Zeichens ebenfalls einer virtuosen Mischung vieler Stilelemente vom New Wave über Beat und Rock bis hin zur italienischen Unterhaltungs- und Experimentellen Musik verpflichtet – stammt die Umschreibung Scollos als die „Strahlende Etta“ („La Stampa“, 15.5.2009). Eine schwer einzuordnende Künstlerin sei sie, die Trägerin vom „Weltmusikpreis Ruth“ (2007) und „Premio Rosa Balistreri – Alberto Favara“ (2008), kommentiert ihr sizilianischer Landsmann anlässlich der 22. Internationalen Buchmesse 2009 in Turin, nur um sie im gleichen Atemzug zum „neuen Stern des Crossover“ zu küren. – Eine Adelung aus dem Munde Battiatos.


Das ist jetzt neun Jahre her. Tatsächlich zeichnet sich der Lebensweg von Etta Scollo als eine sowohl biographisch als auch künstlerisch überraschende, ebenso abwechslungs- wie spannungsreiche, zunehmend thematisch wie stilistisch deutlich sich herausformende Bewegungskurve ab: Nachdem sie als Sieben- oder Achtjährige zwar schon erste zaghafte musikalische Gesangsversuche unternahm, eigentlich aber Nonne werden wollte und sich von ihrer Mutter für die Erstkommunion ein entsprechend schlichtes weißes Kleid hatte schneidern lassen, zieht es die junge Sizilianerin mit 18 Jahren der Liebe wegen zunächst von Catania aus dem tiefsten Süden des Stiefelstaats nach Turin, Norditalien, wo sie frisch verheiratet ein Kunst- und Architekturstudium aufnimmt. Doch schon nach einem Jahr trennt sich das Paar wieder. Von Turin aus ist es für die auf das Leben, auf fremde Kulturen und Sprachen neugierige Scollo nur noch ein Katzensprung nach Wien. Am Konservatorium der österreichischen Hauptstadt erhält sie ihre wegweisende Gesangs- und Tanzausbildung, bevor eine intensive Reise- und Entdeckungsphase quer durch Europa und die USA folgt. 1983 wird sie mit dem 1. Preis des Diano Marina Jazz Festivals in Italien ausgezeichnet, und nur fünf Jahre später sprengt ihre italienische Cover-Version von „Oh, Darling“ (1988) – dem 1969 von John Lennon und Paul McCartney komponierten Welthit – die österreichische Hitparade, die sie wochenlang als Nummer eins anführt. Ihre erste goldene Schallplatte wandert ins Regal, und ab jetzt steht für Scollo fest: Sie wird, ist, nein, war schon immer nur eins – Musikerin.


Damals präsentiert sich die junge Etta Scollo dem Publikum noch ganz im Stil einer formbaren Gianna Nannini-Alternative. Der Videoclip zu „Oh, Darling“, der Scollos Durchbruch in Österreich dokumentiert, vermittelt dem Filmbetrachter sowohl auf ästhetischer als auch auf narrativer Ebene bereits einige Kernmotive der sizilianischen Kulturnomadin: Abreise, Ankunft, Abschied, Heimweh, die Liebe – die sich in Augenblicken der Freude, Schönheit, Freiheit, Erotik, Melancholie, Nähe und Distanz, sowie in dem Wunsch nach fließenden Gefühlen, Kommunikation, Verbundenheit und gegenseitigem Austausch verdichtet – und das Phänomen der Migration im Allgemeinen. Nach diesem unverhofft populären Erfolg tourt Scollo durch die Clubszene in Deutschland, Österreich und der Schweiz und macht sich in der mitteleuropäischen kreativen Subkultur einen Namen. Anfangs setzt sie die von der österreichischen Euro-Popmusik der späten 1980er-Jahre vorgegebene Stilrichtung fort. Doch bald mischen sich subversive, fremde und ambivalente Elemente in ihre Kompositionen: italienische Volksmelodien verbinden sich mit Soul-Klängen, Worte mit Tönen, sizilianische Tradition mit europäischer Avantgarde. In den 90er-Jahren wendet sich Scollo endgültig von einer Pop-Karriere ab und eignet sich gezielt Techniken der klassischen Musik an, experimentiert um die Jahrtausendwende im Filmbereich (Kim-Ki-Duk: „Bad Guy“, 2001), liest viel, arbeitet mit ihrer Band an diversen Auftrittsformaten, übt sich mit ihren Ensemblemitgliedern im Spiel von ungewöhnlichen oder historischen Instrumenten wie dem Muschelhorn oder einer Gitarre aus dem 18. Jahrhundert und sucht nach weiteren Genres und lyrischen Einfällen. Jazz-Fusion, Funk, Punkrock, Mittelmeermusik, minimalistische Strukturen, symbolische Musikvisualisierungen und Sprecheinlagen verweben sich allmählich zu einem Storytelling, das seinen ersten konzisen ästhetischen Ausdruck im Album „Casa“ (dt. „Haus“, 2003) findet.


Zu diesem Zeitpunkt ist die temperamentvolle Sängerin und Gitarristin längst aus Wien weitergezogen und hat an anderer Stelle ein neues Dach über dem „Haus“ gefunden: Sie steuert ihren nächsten Hafen in Hamburg an, wohin sie 1997 zu ihrem damaligen Lebensgefährten zieht. Fernab von Catania entdeckt sie ihre Heimatinsel aus der Entfernung wieder und macht sich gemeinsam mit ihren Gruppenmitgliedern in „Casa“ auf die musikalische Spurensuche „ihres“ Siziliens, nach dem sie sich einerseits sehnt und von dem sie sich andererseits durch den Umzug nach Norddeutschland geographisch weiter denn je entfernt. Ab jetzt geht es Schlag auf Schlag. Kurz nach „Casa“ veröffentlicht Scollo schon ihre nächste CD „Canta Ro‘“ (dt. „Sing, Rosa!“, 2005), die sie als Hommage an die sizilianische Analphabetin und preisgekrönte Volkssängerin der 1960er- und 70er-Jahre Rosa Balistreri (1927-1990) konzipiert und mit dem Symphonischen Sizilianischen Orchester, dirigiert von Angelo Faja, aufnimmt. Nicht minder aufwändig sind ihre weiteren Alben in dieser „sizilianischen“ Werkphase. Aus ihren anthropologischen, ethnologischen, geschichtlichen und kulturellen Studien zum „Kosmos“ Sizilien ergeben sich weitere historisch und literarisch inspirierte CD-Projekte. So etwa Scollos Chanson-hafte Live-Aufnahmen von gesungenen Geschichten, Gedichten und Legenden Les Siciliens Scollo CoverSiziliens in „Les Siciliens“ (dt. „Die Sizilianer“, 2007). Oder das Album „Il fiore splendente“ (dt. „Die strahlende Blume“, 2008) – eine weitere Hommage an die sizilianische, dieses Mal jedoch ältere Geschichte, und zwar an die arabisch-sizilianische Dichterwelt des 9. bis 12. Jahrhunderts. Sie steht für eine Ära, so die Musikerin und Projekt-Arrangeurin im Begleit-Booklet, in der ein Geist der Toleranz zwischen Völkern mit unterschiedlichem religiösem, kulturellem, ethnischem und sprachlichem Hintergrund herrschte und in der diese Gesellschaft über zwei Jahrhunderte lang friedlich zusammenlebte. An der CD haben verschiedene Vertreter der Pop- und zeitgenössischen Musik mitgearbeitet – darunter Franco Battiato, Giovanni Sollima, Markus Stockhausen und der in Apulien lebende, libanesische Sänger Nabil Salameh. Ein Trend, den Scollo – sich selbst und ihren Mitstreitern stets treu bleibend – fortführen und auch auf Kooperationen mit deutschsprachigen Künstlern ausweiten wird. Darunter: die Schauspieler Joachim Król, Rolf Becker und Udo Samel, der Komponist zeitgenössischer Musik Hans-Joachim Hespos, der Polyinstrumentalist Frank Wulff, die MusikerInnen Cathrin Pfeifer, Susanne Paul, Hinrich Dageför und Ferdinand von Seebach, der Schriftsteller Joachim Sartorius, oder auch der von Papst Ratzinger geförderte Benediktinermönch Willigis Jäger, der sich für die Vermittlung zwischen christlicher und buddhistischer Mystik eingesetzt hat.


Was sie an ihrer Heimatinsel so fasziniere? Scollos Antworten auf diese Frage geben erhellende Einblicke in ihr fundiertes Geschichts- und Kulturbewusstsein, aber auch in ihr konstruktives Innenleben. Sizilien sei, so bemerkt die – in einem englischsprachigen Interview (von Alejandro Luque in „Times of Sicily”, 3.7.2015), ihrem noch „jungen” Alter zum Trotz, zu einer „authentischen Enzyklopädie traditioneller sizilianischer Musik” erklärten – „Cuntista” (sizilianische Geschichtenerzählerin, als die auch Rosa Balistreri galt), seit jeher ein Ort des Durchgangs, der Passage und Fremdbesetzung gewesen. Fast immer zogen diese Fremden nordwärts weiter, nachdem sie die Inselkultur um einige Neuerungen bereichert hatten. Die Sizilianer absorbierten alles, so Scollo, behielten aber gleichzeitig ihre „Essenz” und eigenen „Konnotationen” bei. Daraus entstand zum einen eine weitaus „introvertiertere” Mentalität als dies etwa bei den „extrovertierten” Neapolitanern der Fall sei. Zum anderen entfaltete sich auf diesem fruchtbaren, global-lokalen (=„glokalen“) Nährboden eine ebenfalls „introvertierte”, „individualistische” Musik, die sich historisch etwa in den „Cunti”, den für die Inselgeschichte charakteristischen Liedern über die französischen Paladine, die traditionell von nur einer Person vorgetragen wurden, Bahn brach. Oder in den Choralgesängen zu religiösen Anlässen sowie in den auf dem Land bei der Oliven-, Mandel- oder Getreideernte insbesondere von den Frauen praktizierten Gruppengesängen, um die Arbeit produktiver, angenehmer und unterhaltsamer zu gestalten. Eine „Musik des Leidens” zwar, aber auch eine verspielte Musik voller Schalk, Überschwang und Witz.


So sei die sizilianische Kultur, schwärmt Scollo, ein übervolles Reservoir an „poetischen und musikalischen Bildern”, voller „Spannungen, Rhythmus und Wohlklängen”, aus dem sie zwar schöpfe, aber aus dem sie sich weder bediene, um Mimikrie zu betreiben, noch um Kitsch zu erzeugen. Sie habe Rosa Balistreri daher auch weder nachahmen noch parodieren noch in ein Remake verwandeln wollen. Vielmehr gehe es ihr darum, Stereotype bewusst zu vermeiden und originelle Einheiten aus einer vertrauten Nähe heraus zu kreieren, indem sie Gefühle in Musik „übersetze”. Musik sei für sie, so Scollo, ein Mittel um zu lernen, zu wachsen und um ihr Wissen zu erweitern. Ohne die Realitäten beschönigen zu wollen, beabsichtige sie, die Abgründe und den Schmerz Siziliens auszuloten, nicht unbedingt damit sie oder der Zuhörer mehr „verstehe”, sondern damit ihre Musik beiden etwas “geben” könne, wodurch sie im Inneren wie eine Pflanze wachsen und ihr eigenes Leben von innen heraus verändern könnten.

 

Lunaria Scollo CoverWie das Album „Lunaria“ (dt. etwa: „Mondgeschichte“, 2014) zeigt – mit dem Etta Scollo das gleichnamige theatralische Märchen des sizilianischen Schriftstellers Vincenzo Consolo (1933-2012) vertont hat – steht für die Künstlerin in diesen Jahren die Verbindung von Musik und Literatur im Mittelpunkt des Interesses. Doch in jüngster Zeit gesellen sich zu diesem motivischen Grundstock immer wieder auch Aspekte aus Politik und Zeitgeschehen, die die innige Beziehung, die die Wahlberlinerin zwischen Musik und Sprache herzustellen weiß, anreichern und bekräftigen.
Etta Scollos vorerst letztes Album „Il passo interiore“ (dt. „Der innere Schritt“, 2018), das pünktlich zu ihrem 60. Geburtstag soeben am 5. Mai erschienen ist, versammelt Texte aus rund einem halben Jahrtausend, die u.a. auch politischen Quellen eine philosophische, spirituelle und humanistische Dimension abgewinnen. Im Sound eines „singenden Erzählens“, der Renaissance-, Barock-, Bänkelsang und „Improvisationen des modernen Jazz“ bündelt („Jazzhouse Records“, Freiburg), leiht Etta Scollo etwa Interviews mit einer Witwe, deren Tochter und einem Überlebenden des Grubenunglücks im belgischen Kohlebergwerk Marcinelle, wo heute ein UNESCO-Bergwerkmuseum als Gedenkstätte steht, von 1956 ihre bewegte, erschütternde Stimme. Die Texte, die sie dem Buch von Paolo di Stefano „La catastròfa“ von 2011 entnommen und zu Musik gemacht hat, fängt sie auf der CD zu einer aus drei Balladen bestehenden Trilogie über die Bergleute und das belgische Minenunglück ein, bei dem 262 Kumpel unter Tage, davon 136 italienische, mehrheitlich aus den Abruzzen stammende Gastarbeiter, starben. Scollos musikalische Inszenierung fokussiert ihre dramatischen Lebensgeschichten und verschütteten Hoffnungen mit Hilfe der noch lebendigen Erinnerungen einiger Familienangehöriger und verschafft ihnen dadurch gesamtgesellschaftliches Gehör.


Scollo arbeitet lange und gründlich an ihren Liedern. So ging der „Suite per Lampedusa“ (dt. „Suite für Lampedusa“, in: „Il passo interiore“) das öffentlich vorgetragene, deutsch-italienische Lied „Sconosciuto – Unbekannt“ voraus, mit dem Scollo einen kontrapunktischen Gegendiskurs zu dem im peripherischen Ostdeutschland um sich greifenden Euroskeptizismus und Rechtspopulismus setzen wollte. Anlässlich der 2017 stattgefundenen Einweihung der von Heidrun Hannusch kuratierten Künstlerinstallation und Fotoausstellung von Carsten Sander „Lampedusa 361“ in Dresden, die anschließend nach Düsseldorf weiterwanderte, widmet Scollo ihre zur Vernissage am 12. Februar 2017 in der Dresdner Semperoper dargebotene Komposition explizit allen namen- und heimatlosen Flüchtlingen, die in den letzten Jahren im Mittelmeer auf tragische Weise – oftmals „Unbekannt“ – ertrunken sind. Deren Asche wurde auf die Friedhöfe, die mittlerweile große Flächen der Insel Lampedusa bedecken, sowie auf hier eilig errichtete, verstreut ausgewählte und teilweise anonym durchnummerierte Grabstätten (z.B. mit der beliebigen, titelgebenden Nummer „361“) verteilt, um sie zur letzten Ruhe zu betten. Nach der Unterstützung der Dresdner Initiative wiederholt Scollo ihren Auftritt auf der Düsseldorfer Ausstellungseröffnung am 8. Juli 2017. Hier rezitiert sie in einem zehnminütigen Singsang die Worte, die die Bürgermeisterin von Lampedusa Giusi Nicolini im November 2012 aufgebracht, ja wütend an die Weltöffentlichkeit richtete: Auf Lampedusa gäbe es nicht mehr genug Gräber, um die vor der Küste ertrunkenen Flüchtlinge zu beerdigen. Eine Frage der Menschenwürde und transkulturellen Solidarität, sowohl für Nicolini als auch für Scollo, so die klare Botschaft.


Wenn die sizilianische Berlinerin – oder, je nachdem: Berliner Sizilianerin – Scollo in Nicolinis politischem Appell eine Geste der „Poesie“ erkennt und daran anknüpfend für eine „zeitlose Humanität“ eintritt sowie für eine solche „genuine Emotionalität“ – wohlgemerkt – „wie sie die Musik hat, keine impulsive, gewalttätige“ („Jazzhouse Records“, Freiburg), so will uns Scollo damit sagen, dass ein „Innerer Schritt“ notwendig sei, um unser größtes „Kapital“ am Leben zu erhalten. Mit diesem höchsten Kapital oder „Gut“, diesem „Schritt“, dieser Introspektion oder Grauzone zwischen Leben und Tod dürfte Scollo, allen kulturellen Werten voran, ein „Innehalten“ meinen, das Raum lässt für Gefühl und Authentizität. Schließlich besticht sie selber durch genau diese Qualitäten menschlicher Wärme, mit der sie Künstler aus den verschiedensten Richtungen hinter den Kulissen versammelt und mitten im Rampenlicht zusammenführt, das Publikum verzaubert und aus der Erinnerung an leidvolle menschliche Erfahrungen immer wieder musikalisch Hoffnung zu erwecken vermag.


Doch ob es um das Grubenunglück in Marcinelle, das Flüchtlingsdrama auf Lampedusa oder das Schicksal des Holocaust-Überlebenden Shlomo Venezia im Lied „Shema Adonay“ geht, das Scollo in Form einer Lamentatio – dunkel eingeleitet von Tara Boumans Klarinette – über die Verse des zeitgenössischen sizilianischen Dichters Sebastiano Burgaretta komponiert hat: Vergangenheit und Gegenwart, friedlicher Alltag und großes Unglück, tiefer Schmerz und zugewandte Gesten der Liebe liegen in ihrer Vorstellungswelt so nah beieinander, dass sie sich ergänzen, ja vervollkommnen zum großen Tableau eines oder „des“ Lebens. Etta Scollos Plädoyer für Humanität leuchtet wiederum – wie könnte es anders sein – ganz im Licht der Liebe auf. Sie stellt einen ästhetischen Kernaspekt dar, in dem Melancholie und Lebenslust idealtypisch ineinandergreifen. Die vitalisierende Bedeutung vom Leben und der Liebe, die, wenngleich sie ihr beide vergänglich erscheinen, den Menschen doch über sich selbst hinauswachsen lassen können, hat die italienische Wahldeutsche gemeinsam mit dem deutschen Schauspieler polnischer Abstammung Joachim Król in Form von mal romantischen und tragischen, mal ironischen und frivolen Geschichten, Liedern und Gedichten aus Italien unter dem Motto „Parlami d’amore – Erzähl mir von der Liebe!“ vorletztes Jahr auf die Bühne gebracht. Und schon sprach die – beiden Künstlern offensichtlich wohlgesonnene – Presse von dem „kongenialen Bühnenpaar“ Scollo-Król („Neuss-Grevenbroicher Zeitung“, 15.1.2016).

 

Etta Scollo CoverStets tatkräftig begleitet vom Trio Susanne Paul (Cello), Cathrin Pfeifer (Akkordeon) und Hinrich Dageför (Mandoline, Mandola, Portugiesische Gitarre sowie diverse Trommeln) trägt Scollos Stimme durch das Repertoire und erschließt sich immer neue Facetten und Möglichkeiten der Zusammenarbeit an der deutsch-italienischen Schnittstelle „zwischen“ verschiedensten kulturellen Sparten. Längst reicht ihre Aktionsfläche von der Musik und Literatur, über die Geschichte und Politik, hin zum Schauspiel, zur bildenden Kunst und Architektur. Vom Solo bis zum Orchestralen dehnt Scollo ihr Musikspektrum beständig aus und gilt heute in Berlin, wo sie seit nunmehr 15 Jahren – nachdem die Liebe erneut ihre Weichen gestellt hat – lebt, als „eine der besten Botschafterinnen italienischer Musik“ (Charlotte Pollex in „Stilbruch“ (rbb), 22.4.2018). In Zeiten, in denen das Gründungsmitglied der ehemaligen EWG Italien, wo vor gut 60 Jahren die „Römischen Verträge“ (1957) die politische Zukunft unseres Kontinents einst in Rom besiegelten, öffentlich über einen Austritt aus der EU nachdenkt, zeigt Scollo, „dass diesem Europa der Märkte das menschliche Gefühl fehlt“ (wie sich Rüdiger Schaper treffend ausdrückt in „Der Tagesspiegel“, 7.2.2017). So scheint für die Musikerin Scollo bei allem politischen Engagement über das „Europa der Märkte“ eindeutig das „Europa der Gefühle“ zu siegen. Dementsprechend geht es ihr in „Il passo interiore“ insofern um einen inneren Dialog, dass nur dieser am Ende Empathie (d.h. Frieden) hervorbringen und nachhaltige Veränderung (d.h. Fortschritt, Zusammenhalt, Entwicklung bzw. Verbesserung) bewirken kann, denn, so kündigt „Il passo interiore“ an: „Jeder Veränderung in unserem Leben geht ein innerer Schritt voraus, den wir immer ganz alleine gehen müssen“.


So gesehen, ist Scollos Werk zwar durch ihr weltoffenes Elternhaus, ihr Reisefieber und ihre Neugier auf das Fremde, die Abwechslung und auf kulturelle Herausforderungen zu Gunsten eines postmodernen Nomadentums enorm gereift. Herausgekommen ist trotz aller äußerer Einwirkungen dennoch eine Spielart deutsch-italienischer Weltmusik mit höchst persönlicher Note. In ihr überlagern sich paradoxerweise die Abwesenheit des Raumes und zugleich eine enge Verbindung zu ihm. Parallel dazu scheint der nunmehr dreißigjährige Weg vom Italopop-Hit „Oh, Darling“ von 1988 hin zu ihrem neuesten „Inneren Schritt“ („Il passo interiore“) anno 2018 sowohl eine überaus weite, komplexe und lange Strecke gewesen zu sein – bedenkt man die ausgiebigen mäandrischen Phasen durch die gesamte sizilianische Zeit-, Stil- und Ideengeschichte – als auch gleichzeitig eine, die der Zeit enthoben, entrückt oder entzogen ist bzw. jenseits von Zeit zurückgelegt worden ist. Scollos breite Palette transmedialer Polyphonien und mannigfaltiger Musikinszenierung kommt, was ihre Lebensreise bis dato betrifft, vielleicht in keinem anderen Video-Clip so filigran aufgefächert, so zart, stark und anrührend zum Ausdruck wie in ihrem Lied „L’ala del tempo“ (dt. „Der Flügel der Zeit“). Das Stück hat Scollo gemeinsam mit der südkalifornischen Cellistin deutsch-mexikanischer Herkunft Susanne Paul für das Album „Scollo con Cello – Tempo al tempo” (dt. „Scollo mit Cello – Zeit der Zeit”, 2015) arrangiert, ein synergetisches Musikprojekt, das – stets auf das kollaborative Miteinander einer Reihe anderer Künstler vertrauend – ausdrücklich einen Mix musikalischer Genres, verschiedener Medien und unterschiedlichster kultureller Komponenten anvisiert und im Ergebnis ein wahrlich vielschichtiges sowie hochrangiges intellektuelles und künstlerisches Top-Niveau erreicht.


Der Musikvideoclip, von einem alternativen italienischen TV-Kanal produziert, wird von Franco Battiato anmoderiert, der „L‘ala del tempo“ als eine „wunderbare Vereinigung“ von Etta Scollos Musik und Sebastiano Burgarettas Gedichten ankündigt. Auf Burgarettas gleichnamigen Lyrikband (Sebastiano Burgaretta: „L’ala del tempo“, 1995) hatte Scollo zurückgegriffen, um die geschriebenen Verse in die Welt der Musik zu übertragen und damit „alle Dichter und Sänger“ zu ehren, deren Stimmen „traditionsgebunden vorwärts in die Zukunft“ schauen in der Hoffnung, dass sich die „Stimme der Poesie“ über die „Gleichgültigkeit der Welt“ erheben möge, wie es im Video-Abspann heißt. Zusätzlich zeigt der Clip eigens angefertigte, bewegte Schwarz-Weiß-Zeichnungen und -Tuschmalereien des Künstlers Francesco Balsamo aus Catania, die mit ihrer fast transparent wirkenden Leichtigkeit und Feinheit einen effektvollen Kontrast zu Etta Scollos hinreißendem, farbigen Live-Gesang bilden. Mit der nunmehr Sechzigjährigen wollte man heute in den Chor einstimmen: „Il bimbo ch‘era in te / Non vuole muorire...!“ – „Das Kind, das in dir schlummert‘ / Es möchte nicht vergehen...!“.


Keine Frage, diese viele Menschen und Musikrichtungen umarmende und zwischen vielen Menschen und Stilen vermittelnde Komponistin und Musikerin hat einen – um Battiatos Worte aufzunehmen – absolut „strahlenden“ Zenit ihres Schaffens erreicht. Möge er „ewig“ anhalten und sich jenseits von Zeit und Raum weiterhin durch die Höhen musikalischer Sphären bis in die Unendlichkeit auf Flügeln schwingen.
Happy birthday, Etta Scollo!


Etta Scollo

Webseite mit aktuellen Tourdaten

Zum aktuellen Album „Il passo interiore“ von Etta Scollo (2018):
CD-Präsentation vom Label „Jazzhouse Records“
Kurzfilm von Luca Lucchesi zum „Making of“ der CD
Bericht über Scollos neuesten Auftritt in Innsbruck am 12. Mai 2018

Ausgewählte, im Beitrag besprochene Titel von Etta Scollo online:
„Oh, Darling!“ (aus: „I love... Austro Pop“, 1988):
Nummer-eins-Hit in Österreich 1988: Etta Scollos Musikkarriere begann mit dieser Cover-Version des gleichnamigen Beatles-Originals, hier dokumentiert von dem 40 Jahre alten Video, mit zeitgemäßer Anmoderation.

“Sconosciuto – Unbekannt” (2017):
Das von Etta Scollo gemeinsam mit Susanne Paul, Cathrin Pfeifer und Hinrich Dageför 2017 in Dresden aufgeführte Lied ist auf der Homepage der Ausstellung Lampedusa 361 frei abrufbar.

„L‘ala del tempo“ (aus: “Scollo con Cello – Tempo al tempo”, 2015):
Etta Scollo (Gesang) und Ensemble, Franco Battiato (Anmoderation), in Zusammenarbeit mit Francesco Balsamo (Illustrationen), Associazione Musicale Etnea und Zammù TV (Produktion)


Abbildungsnachweis:
Diverse CD-Cover