Musik
Hengelbrock inszenierte Purcells „Dido and Aenaeas“

Wie lange soll eine Oper dauern? Bei Purcells „Dido and Aenaeas“ braucht es gerade mal 55 Minuten plus Prolog und Epilog, um einen ganzen Kosmos von Liebe, Traumatisierung, Ängsten, Abweisung und Verzweiflung bis zum Tod zu durchmessen. Hinreißend und anrührend vorgeführt auf Kampnagel von Thomas Hengelbrock mit vorzüglichen Sängern und Instrumentalisten und dem wahrscheinlich herzzerreißendsten Pianissimo des ganzen Hamburger Musikfests.

Henry Purcells „Dido and Aenaeas“, die Oper eines wohl gerade mal 25 Jahre alten Genies, ist ein herzzerreißendes Drama um Liebe und Pflicht. Es packt auch heute noch – mehr als dreihundert Jahre nach seiner Entstehung – sein Publikum ganz unmittelbar. Einmal, weil es selten so schwungvoll und leidenschaftlich, so tänzerisch-fröhlich und gewitterdüster gespielt wird wie in der Fassung, die Thomas Hengelbrock mit seinem Balthasar-Neumann-Chor und -Ensemble im Rahmen des 2. Internationalen Musikfests Hamburg auf die große Bühne von Kampnagel brachte.
Und dann auch, weil es ganz direkt Bezug zur Gegenwart hat: Dido und Anaeas sind Flüchtlinge, beide haben ihre Ehepartner durch Mord und kriegerische Gewalt verloren. Sie treffen sich in Didos Exil, wo sie sich mit Karthargo eine starke Stadt geschaffen hat, während Aenaes nach der Flucht aus dem brennenden Troja noch dem göttlichen Auftrag nachhängt, Rom zu gründen. In dieser Situation trifft beide der Blitzschlag der Liebe. Doch es ist eine verletzliche, eine traumatisierte Zuneigung, und es braucht nur ein bisschen Hexenwerk, und die Liebenden in Zweifel, Trennung und den Tod zu stürzen.

Hengelbrock zeichnet bei dieser Produktion, die bei den Salzburger Festspielen 2015 Premiere hatte und nach Hamburg noch in Wiesbaden zu sehen ist, für Konzept, Regie und die musikalische Leitung verantwortlich. Und wertet dabei die Rolle der Zauberin, gespielt von Johanna Wokalek, kräftig auf – sie erscheint mit selbst verfasstem Prolog und Epilog als dunkle Seite der Dido, als Verkörperung des Aufruhrs ihrer Gefühle, ihrer Zweifel und ihrer Verletzungen und selbstzerstörerischen Wut. So werden die 55 Minuten Purcell eingerahmt und zu einem mit 75 Minuten fast abendfüllendem Spektakel erweitert, und die Zauberin erscheint nicht mehr wie Kai aus der Kiste, sondern ist psycho-logisches Element der Handlung. Der Chor bringt’s auf den Punkt: „Große Seelen fügen sich selbst Leid zu und verschmähen die Hilfe, die sie am meisten ersehnen (Great minds against themselves conspire and shun the cure they most desire).“
Es ist ein kleine, sparsame und feine Inszenierung. Auf der fast leeren Bühne reichen ein paar Felsbrocken und vier Feuerschalen, um optische Haltepunkte zu bieten. Florence von Gerkan hat dieses ‚Weniger ist Mehr’ entworfen und auch die Multifunktionskostüme für Solisten und Chor, die im Tanz wild schwingen können, in der Hexennacht schaurige Hüllen werden und sonst den Blick aufs Geschehen konzentrieren.

Nahe beim Herzstillstand: das Pianissimo von Kate Lindsey
Johanna Wokalek ist nicht nur düster deklamierende Hexe und spielerischer Widerpart von Dido, sondern wagt sich auch mit rauchiger tiefer Stimme aufs Terrain der Sänger, was besonderen Effekt macht.
Der Balthasar-Neumann-Chor hat viel zu tun in dieser Opernminiatur, er spielt quasi als lebendes Bühnenbild mit und singt so präzise und schlank und textverständlich, dass es eine Freude ist zuzuhören. Aus seinen Reihen sind auch die kleineren Solistenparts besetzt, die allesamt auf hohem Niveau gesungen wurden.
Benedict Nelson sang einen Aenaeas, der leider nicht immer die stimmliche Spannung halten konnte, was aber letztlich gut zu dem keineswegs heldisch auftretenden Krieger passte. Aber neben dieser Dido, der grandiosen amerikanischen Mezzosopranistin Kate Lindsey, hätte es jeder Aenaeas schwer gehabt. Sie überzeugte mit absolut perfekter Stimmkontrolle auch in vertrackt fast instrumental geführten Passagen, bis hin zum nahe beim Herzstillstand angesiedelten Lamento „When I am laid in earth“, für das sie ein kaum noch gehauchtes vibratoloses Pianissimo von höchster Intensität fand, das so schlicht wie atemberaubend schön über ihre Lippen kam – allein diese kurzen Momente hätten den Besuch dieser Oper mehr als gerechtfertigt.

Das Balthasar-Neumann-Ensemble spielte sich unter Hengelbrock in einen wahren Barockrausch hinein, die Musik nach alten Tanzrhythmen kam so schwungvoll daher wie auf einem höfischen und noch ein bisschen wilder, wie in den Londoner Tavernen, wo sich Seeleute die Kante geben. Und die Musiker werden selbst Teil der Inszenierung, wenn sie den Liebestod von Dido im völligen Dunkel spielen – auswendig und mit größter Spannung im Verlöschen aller Liebe. Ein weiterer Höhepunkt des an Höhepunkten nicht eben armen zweiten Hamburger Musikfests. Und ein Opernabend, dem trotz der ungewöhnlichen Kürze nicht ein Hauch von dem gefehlt hat, was einen großen Opernabend ausmacht.



Abbildungsnachweis:
Header: Dido und Aeneas, 2015. Kate Lindsey, Balthasar-Neumann-Chor und -Solisten. Foto: Monika Rittershaus