Musik
Guillaume Tell - Staatsoper Hamburg

Kräftige Buhs für die Regie: Roger Vontobel nimmt für Rossinis „Guillaume Tell“ in der Hamburgischen Staatsoper den Gründungsmythos der Schweizer Eidgenossenschaft komplett auseinander. Das funktioniert prima. Aber was soll daraus in den Köpfen des Publikums entstehen? Ein unbefriedigender Premierenabend, der viele Fragen offen lässt.

Was will uns der Schweizer Regisseur Roger Vontobel, ein studierter Hamburger, der hier Schauspielregie gelernt hat, mit seiner Inszenierung von Rossinis Grand Opéra „Guillaume Tell“an der Hamburgischen Staatsoper eigentlich erzählen? Wie skeptisch er selbst als Schweizer sämtlichen Gründungsmythen der Eidgenossenschaft gegenübersteht, weil die hinten und vorne nicht stimmig sind? Weil sie zu Farbe und pathetischer Geste im Dienst des Beharrens auf nationalem Raushalten erstarrt sind? Oder dass bei Freiheitskämpfen Blut fließt und Freiheitskämpfer deswegen von Grund auf verdächtig sind? Dass, wenn es um Politik geht, das individuelle Streben nach Glück sowieso immer verliert? Dass dieser Wilhelm Tell besser Gesslers Hut gegrüßt hätte, damit der Konflikt zwischen Besatzern und Besetzten hätte friedlich gelöst werden können, indem Arnold Melchthal in dieser Oper die Habsburger-Prinzessin Mathilde heiratet?

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Es ist eine durchweg unfrohe Geschichte, die er uns da vorführt. Ein trinkfreudiges, schon zu Beginn gut angeschickertes Völkchen, das von ziemlich verbissenen Demagogen wie Tell, Melchthal und anderen gegen die habsburgischen Besatzer zum Kampf fast getragen werden muss. Und das konsequente Scheitern der Utopie, ein ordentlicher Schweizer mit Widerstandshintergrund könne eben doch eine Habsburger-Prinzessin lieben? Am Ende wird die Freiheit gefeiert, während am Bühnenrand das Blut der Unterdrücker fließt.

Das alles spielt vor einer gewaltigen panorama-artig halbrunden Kopie des Gemäldes „Einmütigkeit“ des Schweizer Nationalmalers Ferdinand Hodler, das pathetisch aufgeladen an den Rütli-Schwur zu erinnern scheint, in Wahrheit aber brav im Neuen Rathaus zu Hannover hängt und dort seit seiner Entstehung auftragsgemäß den Moment überhöht, an dem sich die Bürger dieser Stadt im Jahr 1533 zum reformierten Glauben bekannten.

Mit Tell selbst ist es nicht besser: Eine historische Figur dieses Namens lässt sich nur in Sagen, nicht in der Geschichte finden. Und Äpfel von Köpfen geschossen wurde in allerlei Sagen schon früher. Natürlich darf man da der vielfach verherrlichten Geschichte, die Friedrich Schiller dramatisierte und Rossini sich für seine letzte Opernkomposition nochmal theatergerecht hinbiegen ließ, auf den Zahn fühlen: Was erzählt sie uns wirklich über die Schweiz? Und was über uns?

Eine gesicherte, wenig neue Erkenntnis wäre, dass sich die Menschen ihre Mythen so zurecht feilen, wie sie sie gerade brauchen. Auch die großen, die heroischen Momente.

Ein Besatzersoldat bohrt Tells Pfeil in den Apfel
Bei Vontobels „Guillaume Tell“ ist die Titelfigur der Restaurator eben jener gemalten „Einmütigkeit“, die Gessler von seinen Schergen bald schwarz übermalen lässt und die der Chor am Ende in großer Geste als lebendes Tableau nachstellt. Was Folgen für die Darstellung hat: denn die Habsburger inklusive ihres Statthalters werden am Ende einfach mit Theaterblut-Pinselstrichen aus dem Leben befördert, während die Schweizer ihre „liberté“ feiern. Und weil Vontobel dieser Befreiung eher skeptisch gegenübersteht, kann auch die ikonographische Befreiungstat keine heroische sein, sondern bestenfalls eine wirre, skurrile Theaterfantasie: Ein habsburgischer Offizier trägt den Pfeil von Tells Armbrust zum Ziel und durchbohrt den Apfel.

Auch Tells andere Heldentaten bleiben außer Sichtweise, man hört nur davon: die Rettung eines Schweizer Hirten, der einen Soldaten mit der Axt erschlug, aus dessen Händen er seine Tochter gerettet hat (die in dieser Inszenierung eher auf der Reeperbahn zuhause ist und selbst nicht abgeneigt ist) ebenso wie die Flucht aus Gesslers Gefangenentransportboot.

Der Volksaufstand am Ende – angeheizt durch prinzipientreue, aber hartherzige Antreiber. Zu denen sich der von Gessler als Geisel erschossene greise Melchthal als misstrauischer blutiger Wiedergänger gesellt, immer darauf bedacht, seinem lebendigen Sohn – Freud, ick seh dir trapsen – auf die Finger zu schauen, damit er es sich nicht in den Armen Mathildens zu gemütlich einrichtet. Schon zuvor war Melchthal, tatteriger und mit Sauerstoff versorgter Freiheitsheld von früher, eher eine schwache Erinnerung an große Tage und Taten. Und die Verabredung zum Aufstand ist ein nächtlicher Pfadfinder-Treff, bei dem alle mit ihren Taschenlampen-Lichtkegeln dekorativ im Nebel herumstochern.

Am Ende sind alle Tell-Geschichten zerstört, der viel zu oft wabernde Nebel hat sich fast verzogen, und von der Schweizer Utopie ist soviel übrig geblieben wie zu den Zeiten, als ein rotes „J“ in deutschen Pässen Schweizer Grenzbeamten half, unerwünschte Flüchtlinge abzuweisen. Vontobels Misstrauen hat schon berechtigte Wurzeln. Aber Rossinis Oper ist auch ein leichtes Opfer, von dem nicht viel bleibt, wenn allem Märchenhaften und Befreiungsmythischen darin der Teppich unter den Füßen weggezogen wird.

Nun hat Rossinis letzte, 1829 entstandene Oper hat außer in der vierteiligen Ouvertüre nicht mehr viel mit seinen quirligen italienischen Bühnenwerken zu tun, denen man zwischen den großen Erfolgen immer wieder auch Austauschbarkeit und Schablonenhaftigkeit vorwarf. Immer wieder dunkelt seine Musik romantisch ab, er malt seine Charaktere melodisch komplexer aus als früher, sie sind weniger plakativ, dafür emotional glaubwürdiger. Berühmt ist sie auch wegen ihrer romantischen Naturdarstellungen, die Rossini immer wieder einflicht – da zeigt er das Land, um das hier gekämpft wird.

Von Natur ist im Bühnenbild von Muriel Gertner nichts zu sehen. eine angedeutete Rotunde, das gewaltige Gemälde, ein Malergerüst und eine vielsinnige Absperrung „Attention Restauration“. Das steht für das alle Szenerien: Dorf, tiefes Tal, abgelegene Gegend, Marktplatz, Hütte des Melchthal, Felsgegend – ein praktisches Nichts, das vor allem dem Staatsopernchor in seiner tragenden Rolle viel Freiheit bei seinen Großauftritten gibt, zu denen er – sicherer Posten auch dieser Inszenierung – von Eberhard Friedrich bestens vorbereitet und ungemein spielfreudig antrat.

Doch der Chor und die Philharmoniker im Graben wurden nach der Ouvertüre nur mit wenig Esprit geführt, so als misstraue auch Dirigent Gabriele Ferro der der musikalischen Theaterkunst des späten Rossini. Über weite Strecken dominieren behäbige Tempi, zumindest im ersten Teil häufig Wackler zwischen Orchester und Chor – das passiert, wenn die oft tief gestaffelt stehenden und gern noch aufgeteilten Sängermassen droben auf der Bühne nicht kleinteilig mitgenommen werden. Größere Spannungsbögen, wie sie Rossini, vor allem aber sein „Tell“ doch erfordert? Fehlanzeige. Obwohl bereits gekürzt, stellt sich so im langen ersten Teil hier und da schlichte Langeweile ein – bei Rossinis Musik eigentlich gar nicht möglich, bei Vontobel und Ferro schon.

Ein Lichtblick des Abends kam aus dem Opernstudio
Bleiben die Sänger, da kann dieser Tell durchaus punkten: Mit einem Arnold (Yosep Kang), der die mörderische Tenor-Partie grandios bewältigt und dem es niemand übel nimmt, dass man hier und da die enorme Anstrengung mithört, wenn die Spannung für Millisekunden nachlässt. Mit einer Matilde von Habsburg, der Quanqun Yu einen erlebbaren Charakter gibt. Auch wenn ihr kräftiger Sopran-Vollton an diesem Abend sicher nicht ganz in Topform war, manchmal das letzte Spürchen an Intonation vermissen ließ und auch etliche Koloraturen daneben tupfte.

Solide, aber keine Charismatiker sind der Tell von Sergei Leiferkus und der Melchthal von Kristinn Sigmundsson. Allerdings lässt ihnen die Regie auch nicht wirklich Raum zur Entfaltung. Grundsolide ist Katja Piewecks Hedwig Tell.

Der wirkliche Lichtblick des Abends kommt aus dem Internationalen Opernstudio. Es ist die junge österreichische Sängerin Christina Gansch, die Tells Sohn Gemmy spielt. Sie ließ aufhorchen, denn sie sang sich die Seele aus dem Leib, ihr sah man Sing- und Spielfreude in jedem Moment an, und ihr großer Sopran trug über Chor, Orchester und die übrigen Solisten. Extra-Klasse – und das ist erst der Anfang! Die Sponsoren des hauseigenen Opernstudios (das mit zwei weiteren Sängern auf der Bühne vertreten war) dürfen sich mal wieder auf die Schulter klopfen.

Das Ergebnis des Abends: Beifall bis starker Beifall (Kang, Yu, Gansch), ehrlich erarbeitete, laute, so hartnäckige wie unmissverständliche Buh-Attacken gegen das Regie- und Ausstattungsteam.

Wenn sich die Aufregung gelegt hat, darf das Publikum eine ganze Reihe von Vontobels Denkaufgaben mit auf den Weg nach Hause nehmen. Hat er nun die topaktuelle Opernproduktion zur derzeitigen Restauration der europäischen Nationalstaaten und zum Begräbnis der europäischen Idee auf die Bühne gebracht? Oder nur ein Proseminar über Schweizer Mythenkritik zu schöner Musik? Oder einfach eine Menge alter Klischees durch kaum weniger alte – Champagnergläser, Konfetti-Wolken, Bühnennebel, dramatisch erhobene Schwurhände – ersetzt? Antworten verweigert er: „Ich gebe dem Publikum nichts vor, es geht doch darum, was in ihren Köpfen entsteht“, sagt er in einem Abendblatt-Gespräch.

Ein gefährliches Spiel – was, wenn eine Inszenierung so verquer daherkäme, dass sie es den Köpfen allzu einfach macht, die Idee entstehen zu lassen: „Guillaume Tell – so what?“

Guillaume Tell
Oper in vier Akten von Gioachino Rossini. Regie: Roger Vontobel.
Hamburgische Staatsoper. Dammtorstraße 28, in 20354 Hamburg
Nächste Vorstellungen: 9.3., 12.3., 16.3., 19.3., 22.3., 26.3. jeweils 19.00 Uhr. Kartentelefon: (040) 3568 68.
Weitere Informationen


Abbildungsnachweis: Alle Fotos Brinkhoff/Mögenburg
Header: Guillaume Tell. Yosep Kang
Galerie:
01. Bruno Vargas, Vladimir Baykov, Katja Pieweck, Christina Gansch, Sergei Leiferkus
02. Alin Anca, Yosep Kang
03. Kristinn Sigmundsson, Yosep Kang, Alin Anca, Sergei Leiferkus, Chor der Hamburgischen Staatsoper
04. Guanqun Yu
05. Yosep Kang, Kristinn Sigmundsson, Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper
06. Sergei Leiferkus, Chor und Extrachor der Hamburgischen Staatsoper, Statisterie