Musik

Mit rauher Stimme rief Dizzy Gillespie: „Here I am, in Berlin again – I’m yours: Take me!“ Und strahlte sein Publikum an.

Ein Angebot, das man nicht ablehnen konnte. Der 63-jährige Altmeister spielte nicht nur ebenso mitreißend wie lächelnd die Klassiker seiner Weltkarriere, sondern er mochte seine Zuhörer sogar. Alter Charmeur. Leider nicht Alte Schule. Denn en vogue war damals die Haltung des anderen großen Trompeters und ehemaligen Weggefährten, desjenigen, der dem Publikum seit 1970 den Rücken zukehrte. Manche tun es dummerweise heute noch.


„Jugend jazzt“-Wettbewerb in Hamburg, 22./23. September 2008. Ein guter Jahrgang mit knapp 50 Solisten, Combos und Bigbands, junge Musikerinnen und Musiker, alle mit Lust und Kraft, viele mit erstaunlicher Technik, einige bereits mit musikalischer Persönlichkeit (bitte unbedingt merken: Martin Gebert, ein begnadeter 17 Jahre junger Pianist). Unter ihnen ein schwarzgewandeter Trompeter, der sich mit seinem Quartett an „A Night in Tunesia“ herantraut und sich durch die Wahl dieses Stückes mit seinen sperrigen Akkordwechseln das Wohlwollen der Juroren bereits im Vorfeld sichert. Nach vier Versionen von „Blue Bossa“ freuen sich die fünf Kollegen über den Nachweis, dass das Realbook mehr als sechs Seiten aufweist. Aber dann: Die Ansage ist vernuschelt, Blick und Haltung sind abweisend, die Mundwinkel hängen. Eine Studie über den kleinen Schritt, der von Lässigkeit zur Nachlässigkeit führt. Wie viel Zuwendung also darf das Publikum verlangen? Oder darf man sogar an ein Wort erinnern, das Musiker gerne für sich in Anspruch nehmen? Es lautet: Respekt.
 

Es gab im Jazz einmal eine Stilistik, den Cool Jazz, die jungen Hörern gar nicht mehr leicht zu erklären ist, heute, da das Adjektiv nur noch als Attitüde lebt. An dieser Attitüde kranken viele Jazz-Musiker. Die Sonnenbrille ist das Acessoire dieser Haltung, Ausdruck größter Distanz zum Publikum. Sie scheint auf die Kränkung aus alten Tagen zu reagieren, als in den Jazzkellern so lange und so ungeniert zur Musik geplaudert wurde, bis Ornette Coleman 1960 die berühmte Parole „Let’s try to play the music and not the background“ knurrte. Es war historisch dringend notwendig, die Seriösität des Jazz zu verteidigen und den Jazz in der Region der so genannten „klassischen Kunstmusik“ zu verankern. Coltranes Schlagzeuger Elvin Jones brachte es auf den Punkt, als er wie viele andere auf die berühmte Frage der Baronesse Nica nach den drei Wünschen antwortete: „Uneingeschränktes Akzeptiert- und Anerkanntwerden unserer Musik als einer eigenen Form von Kunst.“ Der berechtigte Anspruch wird noch heute in den Nachtsendungen der Rundfunk-Jazzredakteure kleingeredet, wenn im getragenen Bariton eine „Komposition von Charlie Parker“ angekündigt wird. Dessen musikalischem Erfindungsreichtum und energetischem Spiel gebührt Verehrung zu Recht. Aber muss wirklich von „Komposition“ gesprochen werden, wo sich zwischen Intro und Coda immer wieder die gleichen 32-Takter durchnudeln, wo formal nur sehr wenige Jazzmusiker über das Variationsverfahren des Barock hinausgelangt sind?

 



Die von der Klassik importierte Ernsthaftigkeit war – als Folge der Trotzreaktion, die an ihrer Wiege stand – eine Behauptung und wurde zur Pose, weil man glaubte, sie müsse sich im Auftritt manifestieren, nicht in der Arbeit, die diesem vorausgeht. Der Ernst wurde heilig und am Ende zogen die meisten die Sonnenbrillen auf. Wer die Blues Brothers kennt, weiß, wie viel Ironie in dieser Geste stecken kann; wer in einem Jazzkonzert gewesen ist, wie viel Bierernst. Und das angesichts eines Kernrepertoires, das noch immer hauptsächlich auf Broadway-Musical und Hollywood-Schmonzetten zurückgeht, Gattungen mithin, die nur dort wirklich gut sind, wo sie die Hinwendung zum Publikum mit einem Augenzwinkern paaren. Ohne seriöses Arbeiten geht auch hier nichts. Aber es kommt der Moment, in dem die Musiker vor ihr Publikum treten, und spätestens jetzt interessiert sich niemand mehr dafür, wie lange man darüber nachgedacht hat, eine scheintote 2-5-1-Verbindung zurück ins Leben zu rufen. Jetzt ist die Lust am Spiel angesagt, die Lust am Leben. Und dafür gibt es ein Zeichen, das seit Jahrhunderten und in allen Herren Ländern verstanden wird: ein Lächeln.
  

Vor wenigen Wochen ist in einigen glücklichen deutschen Großstädten Sonny Rollins wieder aufgetaucht. Ein Jahrhundert-Tenorist, wie man weiß, aber kein begnadeter Moderator. Auch er mit Sonnenbrille, auch er zuweilen in Miles‘ Kreisform, mit dem Rücken zum Publikum. Und doch sind es nicht allein seine Soli, in denen der 78-Jährige pure Lebensfreude ausdrückt, ist es nicht allein das „Oh Tannenbaum“, das er schelmisch in eine Schlussfermate schmuggelt. Nein, Rollins, dessen Gang der eines alten Mannes geworden ist, wendet sich immer wieder dem Publikum zu, und wer hinsieht, erkennt: er tänzelt. Er lächelt mit den Beinen. Das genügt vollkommen. Niemand muss heute noch, wie einst Dizzy Gillespie, das alberne „Salt Peanuts“ skandieren.

(Christoph Becher ist Musikwissenschaftler, persönlicher Referent des Generalintendanten der Elbphilharmonie Hamburg und begeisteter Jazzmusiker.)