Literatur
Peggy Parnass

Sie ist Hamburgs Mutter Courage: Peggy Parnass hat mit ihren Gerichtsreportagen Geschichte geschrieben.
In Ihrem Buch „Kindheit“ stellt sie sich erneut ihrer eigenen Geschichte.

Isabelle Hofmann (IH): „Kindheit“, illustriert von der brasilianischen Künstlerin Tita do Rêgo Silva mit großartigen Originalholzschnitten, ist eines der schönsten Künstlerbücher dieses Herbstes. Ihre Erinnerungen an diese Zeit jedoch sind grauenvoll. Die Nazis haben Ihre Eltern und Großeltern umgebracht. Bis auf eine Tante in Belgien, einen Onkel in London und ihren kleinen Bruder, mit dem Ihre Mutter Sie 1939 nach Schweden schickte, wurde Ihre gesamte Familie ausgelöscht. Hatten Sie nicht gesagt, dass Sie nie über Ihre Kindheit sprechen wollen?

Peggy Parnass (PP): Das habe ich auch nicht. Alles, was ich zu sagen habe, habe ich aufgeschrieben. Das war schlimm genug!

IH: Haben Sie Ihrer Freundin Tita do Rêgo Silva nichts über Ihre Kindheit erzählt?

PP: Nein. Tita hat mein Buch „Unter die Haut“ vor Jahren gelesen und mich viel später gebeten, das erste Kapitel über die Kindheit zu illustrieren.

IH: Eine schöne Idee – die aber auch alte Wunden wieder aufreißt. Warum tun Sie sich das an?

PP: Es ist eine Hymne an meine Eltern. Sie haben keinen Grabstein, sie haben jetzt das Buch. Und in „Unter die Haut“ ist auch ein Fehler. 1983 hatte ich noch gedacht, dass meine Eltern in Auschwitz vergast worden wären. In Yad Vashem habe ich später erfahren, dass sie in Treblinka ermordet wurden.

IH: Gleich zu Anfang steht, dass Sie sich nie als Kind gefühlt haben.

PP: Weil ich denken konnte. Ich wollte immer alles genau wissen, und ich habe es auch alles erfahren. Ich bin mit der Panik meiner Eltern großgeworden.
Titas Bilder treffen jeden Moment ganz genau. Ihre Kunst ist lebendig, herzlich, sprühend, überwiegend heiter. In unserem Buch hat sie aber auch das Bestialische eingefangen.

IH: Als Kind haben Sie davon geträumt, sich an den Nazis und ihren Mitläufern zu rächen, wenn Sie mal Erwachsen sind. Zum Beispiel an der Milchfrau in Eimsbüttel, die Ihre Mutter geschlagen hat. Als Sie nach dem Krieg nach Hamburg zurückkehrten, konnten Sie es nicht.

PP: Weil sie schwächer waren, zu einem Nichts geschrumpft waren. Gegen solche Menschen konnte ich nicht angehen. Konnte nur angeekelt wieder weggehen. Es ist ein nicht ausgelebter Hass.

IH: Sie haben nichts vergeben?

PP: Ich vergebe gar nichts! Die Erinnerungen klingen auch nicht ab, wie manche glauben. Es wird nichts schwächer, im Gegenteil, die Erinnerungen sind stärker geworden. Aber wenn sich die Medien hier auf jemanden wie Günter Grass einschießen, weil der bei der SS war, finde ich das einfach nur lächerlich. Der hat den Faschismus doch mit der Muttermilch aufgesogen. So jemanden an den Pranger zu stellen, stellvertretend für die Millionen Arschlöcher, das ist absurd.
Grass war damals noch ein Kind.

IH: Und die Milchfrau?

PP: War eine erwachsene Frau und hat meine Mutter verprügelt, weil sie für Ihre Kinder Milch geholt hat.

IH: Wie haben Sie auf das Grass-Gedicht über Israel reagiert?

PP: Gar nicht. Überhaupt nicht. Ich habe keine Lust, mich an der Diskussion zu beteiligen, das ist mir zu unwichtig.

IH: Und was ist mit dem Eklat in Bayreuth in diesem Sommer um den russischen Bassbariton Evgeny Nikitin und seine Runen-Tätowierungen? Er musste seine Rolle kurzfristig absagen.

PP: Absolut lächerlich! Mit solchen Symbolen macht man hier Trara, wegen tatsächlicher Handlungen gar nicht.

IH: Was meinen Sie?

PP: Die Fremdenfeindlichkeit in Deutschland. Es gab nicht nur zehn Tote in zehn Jahren, es gab viel mehr.
Wir haben ja Pause, es gibt uns ja auch nicht mehr zu so vielen.

IH: Warum sind Sie nach dem Krieg überhaupt nach Hamburg zurückgekehrt?

PP: Ich bin nicht zurückgekehrt, ich bin hängen geblieben. Ich wollte meine Cousine Urselchen besuchen, bin mit ihr an die Uni gegangen und traf dort lauter dufte Leute, alles Linke und Antifaschisten. Mit Peter Rühmkorf, Klaus Rainer Röhl und Dick Busse habe ich dann in einer Wohngemeinschaft gewohnt, eine Bühne gegründet und politisches Kabarett gemacht.

IH: Sie haben auch eine ganze Reihe von Widerstandskämpfern kennengelernt.

PP: Hätte ich diese Widerstandkämpfer nicht kennengelernt, hätte ich hier nicht leben können. In unserer Gegend, Eimsbüttel, gab es Arbeiter, die von Anfang an im Widerstand waren und die blieben es auch gegen alles, was Übel ist. In diesem Land aber werden sie nicht gefeiert und prämiiert, sondern jene, denen es viel zu kurz vor Kriegsende einfiel, dass dieser Krieg nicht mehr zu gewinnen war.

IH: Die Gruppe um Graf Stauffenberg...

PP: Die haben jahrelang klaglos hingenommen, dass Leute auf der Straße verprügelt und verschleppt wurden.

IH: Nach dem Krieg hieß es oft: „Wir wussten ja nichts…“ Haben Sie irgendjemandem geglaubt?

PP: Wer sagt, er hat nichts gewusst, der lügt. Als wir im Viehwagen abtransportiert wurden, sind die Leute hinterhergegangen. Sie wussten vielleicht nicht, wohin es ging, ich halte es für möglich, dass dieser industriell betriebene Massenmord nicht allgemein bekannt war, aber sie haben den Abtransport gesehen und viele haben sich gefreut: wenn wieder ein Platz frei war, war es leichter Karriere zu machen.

IH: Dabei fühlten sich viele Juden als Deutsche. Ihr Vater hat bei seiner Verhaftung noch die Orden aus dem Ersten Weltkrieg vorgezeigt.

PP: Er hatte an zahllose Länder Anträge zur Ausreise gestellt. Alle wurden abgelehnt, weil er Invalide geworden war. Ich habe als Kind gedacht, wenn man Deutschland platt machen würde, wäre die Welt in Ordnung. Als ich in anderen Ländern gelebt habe, habe ich sehen können, wie viele aus anderen Ländern mitgemacht haben. Als ich per Brief mitgeteilt bekam, dass meine Eltern tot waren, war es ein Schwede, der mir sagte: Freu dich doch, zwei Juden weniger.

IH: Was gab Ihnen die Kraft weiter zu leben?

PP: Meine Wut. Meine Liebesfähigkeit. Ich habe immer wieder Menschen geliebt. Freundschaft ist für mich das Allergrößte. Freundschaft ist ja auch Liebe. Etwas, wo ich mich reinkuscheln kann.

IH: Verstehen Sie die Haltung Israels heute?

PP: Israelische Politik kritisiere ich in Israel, nicht in Deutschland.
Ich verstehe die Haltung der Friedensbewegung Israels. Wie in allen anderen Ländern auch, solidarisiere ich mich mit denen, die versuchen, die Welt ein wenig besser zu machen. Ich will nirgends mit Leuten zu tun haben, die auf andere herabsehen und sie als minderwertig behandeln. Inzwischen schäme ich mich überhaupt Mensch zu sein – und das ist kein schöner Gedanke!

IH: Sie haben einmal gesagt, dass Sie sich in Israel wie eine Palästinenserin gefühlt hätten.

PP: Solange die Palästinenser die Underdogs sind und so schlecht behandelt werden, haben sie meine Sympathie. Ich kann mir aber vorstellen, dass, sollten sie zu Kräften kommen und zu Macht, dass sie dann wahrscheinlich noch rigoroser sein würden als jetzt die Israelis. Ich habe da überhaupt keine Illusionen.

IH: Die Deutschen haben ungeheure Angst, die Politik Israels zu kritisieren, weil sie befürchten, gleich wieder als Antisemiten dazustehen.

PP: Dazu fällt mir meine Rede ein, die ich neulich spontan auf der Demo in St. Georg hielt.

IH: In St. Georg, dem Stadtteil, in dem Sie leben, protestieren Sie und andere engagierte Bürger derzeit gegen den Mietwucher, der zwei Traditionsgeschäfte in der Langen Reihe bedroht. Auf der Demo antworteten Sie dem jüdischen Immobilienmakler und Grundeigentümer Frank Jendrusch, der von „antisemitischer Propaganda“ sprach.

PP: Hier, meine Rede, lesen Sie das! Das ist alles, was ich dazu zu sagen habe!
„Lieber Frank Jendrusch, Du denkst, dass wir über Dich empört sind, weil Du Buddhist bist. Oder nein – weil Du Katholik bist. Nein, ich weiß, weil Du Jude bist. Ach nein, weil Du Mohammedaner bist. Nein, weil Du Christ bist. Oder weil Du Atheist bist. Oder weil du schwul bist? Nein, weil Du hetero bist? […]
Ach, Quatsch, all das kann es nicht sein. […]
Warum empören wir uns? Weil Du ein „Halsabschneider“ bist!“

So ist es!

IH: Sie haben sich immer zu Wort gemeldet und für die Schwachen gekämpft. Für die Rechte der Frauen, für die Rechte der Schwulen…

PP: Für mich fängt Unrecht nicht dort an, wo es meine Person betrifft. Das macht das Leben sehr anstrengend.

IH: Spielt Religion für Sie eine Rolle?

PP: An unserem höchsten Feiertag, Jom Kippur, bin ich in die Synagoge gegangen. An diesem Tag soll jeder mit sich selbst ins Gericht gehen und überlegen, wo er etwas falsch gemacht hat und diejenigen um Verzeihung bitten, denen er wehgetan hat. Und er soll, wenn er kann, denen vergeben, die ihm im Laufe des Jahres wehgetan haben. Diese Idee finde ich grandios, das ist hohe Moral! Ich bin nicht gläubig, aber eine Moralistin bin ich schon.

IH: Haben Sie sich jemals überlegt, hier wegzugehen und irgendwo anders zu leben?

PP: Ja, wohin denn? Ich habe ja überall drum herum gewohnt. Wir sind zurzeit – gerade, weil die Deutschen noch ein bisschen unter Schock stehen – ganz gut dran. Mir fällt da die Geschichte vom Juden im Reisebüro ein. Man schlägt ihm ein Land nach dem anderen vor und er kann sich einfach nicht entscheiden. Zum Schluss setzt ihm der ungeduldige Reiseberater den Globus vor die Nase und sagt, suchen Sie sich was aus. Und der Jude guckt sich den Globus an und guckt und guckt und sagt dann: Haben Sie nichts Besseres?

Peggy Parnass: „Kindheit“

mit Originalholzschnitten von Tita do Rêgo Silva, Verlag Schwarze Kunst, Hamburg.


Abbildungsnachweis:
Header: Tita do Rêgo Silva (links), Peggy Parnass (rechts). Foto: Isabelle Hofmann
Nicht ohne meine Freundin: Peggy Parnass (rechts) wollte sich nur mit der brasilianischen Künstlerin Tita do Rêgo Silva fotografieren lassen, mit der sie das gemeinsame Buchprojekt „Kindheit“ realisiert hat. Peggy Parnass wuchs in Hamburg-Eimsbüttel auf, wurde 1939 mit ihrem jüngeren Bruder in einem Kindertransport nach Schweden geschickt und überlebte dort die Nazizeit in zwölf verschiedenen Pflegefamilien. Über die Umwege kam sie nach Kriegsende nach Hamburg zurück und arbeitete hier als Schauspielerin, Dolmetscherin und Filmkritikerin. Bekannt wurde sie vor allem durch ihre kritischen Gerichtsreportagen für die Monatszeitschrift „Konkret“, die auch in ihrem Buch „Prozesse“ (1978) erschienen. Als Publizistin und engagierte Bürgerrechtlerin erhielt Parnass zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Joseph-Drexel-Preis für hervorragende Leistungen im Journalismus, die Biermann-Ratjen-Medaille und das Bundesverdienstkreuz. Sie hat einen Sohn und lebt heute in Hamburg.Â

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