Literatur
Dana von Suffrin Foto © Gerald von Foris

Die Gewinnerin des Debütpreises des Buddenbrookhauses und des Lions Clubs Lübeck-Hanse für 2019 steht fest: Dana von Suffrin erhielt den mit 2.000 Euro dotieren Preis für ihren ersten Roman „Otto“.
Die promovierte Historikerin und Komparatistin nahm den Preis, der alle zwei Jahre vergeben wird, im Audienzsaal des Lübecker Rathauses entgegen.

Die Jury lobt vor allem die sprachliche Eleganz und gelungene Umsetzung der Holocaust-Thematik mit Ernst und Witz, teilweise auch mit groteskem Humor. „Es ist die Ambivalenz der Emotionen, die für ein außergewöhnliches Leseerlebnis sorgen“, so Laudator, Jurymitglied und Feuilletonist Jürgen Feldhoff. Mit ihrem Roman-Debüt habe sich die Autorin auch um die Erhaltung der Siebenbürger Sprache verdient gemacht. „Was ist Literatur? Was kann sie bewirken?“, fragte Jürgen Feldhoff und gab die Antwort mit einem Zitat von Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki: „Es gilt, mit guter Literatur zu unterhalten, freilich auf intelligente Weise. Denn durch Literatur lernen wir uns selber besser verstehen.“ „Otto“ sei ein lesernaher Roman im allerbesten Sinne des Wortes. Begleitet wurde die festliche Veranstaltung musikalisch von den „Lubeca Klezzmers“.

Dana von Suffrin „Otto“  „Es ist ein historischer Roman, ein Familienroman, ein Psychothriller, aber auch ein Schelmenroman“, befand Jürgen Feldhoff. „Familie ist eine Wurzel und eine Verpflichtung“, betonte Birte Lipinski, Leiterin des Buddenbrookhauses. „Otto ist eine Lektüre, die sowohl erschüttert als auch erheitert.“ Anhand des Wortes „Bitte“ stellte Birte Lipinski eine Verbindung zwischen Thomas Manns Roman „Buddenbrooks“ und Dana von Suffrins Roman „Otto“ her: „Eine Wendung kommt in beiden Romanen immer wieder vor, die schöne Bitte.“ So überschlägt sich Kaufmann Bendix Grünlich geradezu mit Bitten, als er um die Hand von Tony Buddenbrook anhält. Dana von Suffrins Otto ist geradezu ein Meister der schönen Bitte. Wobei jede seiner Bitten wie eine Forderung wirkt. Immer wieder fragt er Timna, ob sie sein Leben aufschreiben kann, „eine schöne Bitte“, wie er das nennt. Sie hat es getan. Und so führt uns die Geschichte dieses Mannes, die uns Timna alias Dana von Suffrin erzählt, von Rumänien über Israel nach München. Hier lebt Otto inzwischen allein (nach seinem Krankenhausaufenthalt zu zweit, weil umsorgt von Pflegerin Valli aus Ungarn) in einem kleinen Reihenhaus fern der Innenstadt.
Erzählt wird die Lebensgeschichte eines Mannes, einer Familie. Aber auch, was es heißt, wenn ein starrköpfiger jüdischer Familienpatriarch zum Pflegefall wird. „Otto, Ingenieur, gebürtig in Rumänien, Herr über ein Reihenhaus und zwei unglückliche Töchter, war schon eine Heimsuchung, bevor er ins Krankenhaus kam. Als er entlassen wurde, geschah, was niemand für möglich gehalten hatte: Es wurde noch schlimmer.“ Dieser zentrale Satz taucht schon nach wenigen Leseseiten auf. Otto, Siebenbürger Jude ohne KZ-Erfahrung, Soldat in Israel, dann im Ruhrpott und in München zu Hause, Familientyrann, einst schöner Mann, jetzt alter Knacker - dies alles und mehr ist Otto, zweimal verheiratet, zweimal geschieden. Er „schaut aus wie Hollywood-Schauspieler, aber dafür benimmt er sich wie ein Rindvieh und isst wie ein Schwein“, charakterisiert ihn seine zweite Frau, Ex-Frau Ursula.
Ursula ist die Mutter von Timna und Babi, den beiden so unterschiedlichen Schwestern. Babi, der alle Gesetze, mit denen sich Leute maßregeln, ganz fremd sind, die immer müde ist, seit „die hektisch mit den Kugelschreibern klickenden Psychologen ihr drei verschiedene Tabletten verschrieben hatten“. Timna, Ottos jüngste und Tochter, Doktorin der Philosophie, autofiktionales Alter Ego der Autorin, ist Ottos Lieblingstochter: „Mich beleidigte er nur selten, während er meine Schwester häufig nur mit Arschloch ansprach.“ Was für eine Familie! Familienpatriarch Otto war mal Maschinenbau-Ingenieur. Zu Beginn des Romans liegt er im Krankenhaus. Kaum, dass er wieder sprechen kann, zwingt er seine Töchter, ihn jeden Tag zu besuchen. Was auch geschieht. Doch dann kehrt Otto nach Hause zurück. Schon immer war er aufbrausend, manipulativ, distanzlos und von wahnwitzigen Einfällen beseelt – aber jetzt ist er auch noch pflegebedürftig. Seinen erwachsenen Töchtern macht er unmissverständlich klar: Ich verlange, dass ihr für mich da seid. Und zwar immer!

Für Timna und Babi beginnt eine schwierige Zeit voll unerwarteter Herausforderungen, aber auch eine Zeit der Begegnung mit der eigenen Vergangenheit und der schrägen Familiengeschichte. Liebevoll und mit viel schwarzem Humor erzählt Dana von Suffrin, wie Timna versucht, ihre dysfunktionale Familie zusammenzuhalten, ohne dabei selbst vor die Hunde zu gehen. „Otto“ ist Hommage und zugleich Abrechnung mit einem Mann, dessen jüdische Biografie alle Abgründe des 20. Jahrhunderts beinhaltet.
So schräg Otto als Persönlichkeit ist, so kurios ist auch seine Lieblingskleidung: eine dunkelblaue, wattierte Jacke von Liedl, aus der an manchen Stellen schon die weiße Watte hervorquillt, und eine wildlederne Schiebermütze. Außerdem trägt er„immer ein kleines, kunstledernes Handtäschchen, in dem er allerlei wichtige Dokumente verstaute. Darin befanden sich sein Personalausweis, sein Führerschein, zweifache Kopien unserer Ausweise, Kopien sämtlicher Geburtsurkunden und seiner Abschlusszeugnisse. All das war natürlich eine Vorsichtsmaßnahme, falls wir deportiert werden sollten“, erzählt Ich-Erzählerin Timna. Sie verrät uns auch, dass der Vater auf dem Scheitelpunkt seines Kopfes gar keine Haare mehr hat. Und das seit fünfundsiebzig Jahren, „weil die Kinder in Rumänien damals immer von irgendwelchen Parasiten befallen wurden, die ihnen alles wegaßen, sogar die Haare und die Haut“. In Klammern gesetzt (ein wiederkehrendes, klug eingesetztes Verfahren der Autorin) schreibt die Ich-Erzählerin weiter: „Die Nazis und die Kommunisten kamen und schleppten einem das Haus und die Tanten weg; die biologischen Feinde der Juden kamen und nahmen ihnen auch noch ihre intakten Körper.“ So tragisch-komisch geht es oft zu in diesem Roman.

Die beiden Töchter vertreten beispielsweise die Ansicht: „Man darf alles“. Das hat ihnen der Vater von klein auf beigebracht. Der Vater, dessen Verhältnis zum deutschen Staat nicht immer vorbildlich war, der auch schon mal über rote Ampeln fährt, Sperrmüll stiehlt und Steuern hinterzog. „Man darf alles, Timna, sagte er, man darf sich nur nicht erwischen lassen.“ Diesen Gedanken finden die beiden Mädchen eindeutig legitim. Denn: „Wären die Deutschen nicht einfach Nazis geworden, säßen Babi und ich nun wohl in einer Industriellenvilla in Siebenbürgen und übten Chopin-Etüden an einem richtigen Flügel. Vielleicht hätten wir sogar Ballett gelernt und wären so Frauen mit Hochsteckfrisuren geworden, die auf Fotos immer die Beine überschlagen und ihr Kinn auf die Handfläche stützen.“ Weil es - wie wir wissen - anders gekommen ist, ist der Gedanke, man dürfe alles, für Babi und Timna rechtens und richtig. Demzufolge klauen sie von klein auf. Zwar schimpft die Mutter die Mädchen zunächst aus, doch nach kurzer Überlegung bittet sie die beiden, ihr doch beim nächsten Mal einen Lippenstift von Estée Lauder mitzubringen. Farbe: Koralle. Das ist traurig und komisch zugleich und wird wie so vieles andere auch von der Autorin gekonnt in Schwebe gehalten. Dass es in diesem Buch um Krankheit und Sterben, Überleben und Abschied geht, vergisst der Leser angesichts der Komik mitunter gänzlich.

Zwei Preise hat die junge Autorin bereits vor dem Buddenbrookpreis für ihren Erstlingsroman erhalten: den Ernst-Hoferichter-Preis (5.000 Euro) und den Michael Kühne-Preis (10.000 Euro). Wie gut, schön und literarisch wertvoll die 1985 in München geborene und dort lebende Autorin erzählen kann, bewies Dana von Suffrin im Rahmen der Preisverleihung mit einem Auszug aus einem Text, „der so neu ist, dass er noch nicht einmal einen Titel hat.“ Auch in diesem Text geht es um Familie, um Leben und Tod, um den Umgang mit der Vergangenheit. Wir dürfen gespannt sein!

Dana von Suffrin, Otto

Kiepenheuer & Witsch 2018
ISBN 9783462052572
240 Seiten


Abbildungsnachweis:
Header: Dana von Suffrin erhielt für ihren Roman „Otto“ den Debütpreis des Buddenbrookhauses und des Lions Clubs Lübeck-Hanse. Foto: © Gerald von Foris
Buchumschlag