Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß 6

Eric Becher las das Schreiben des tahitianischen Präsidenten Omai aufmerksam durch. Er rief bei seinem Freund und Kollegen Max Malin in Berlin an, um ihn zu fragen, ob er ebenfalls Post aus Polynesien erhalten habe. Malin war nicht da, also nahm er den Brief erneut zur Hand:

»Sehr geehrter Herr Becher!
Im Namen meines Volkes darf ich Sie ganz herzlich nach Tahiti einladen. Anlass ist der für September geplante Versöhnungskongress in der Universität von Faaa, zu dem die URP über zweihundert Weise unserer Zeit gebeten hat: wissenschaftliche Vordenker, Theologen und Mystiker sowie Psychologen und Aktivisten. Ziel des Kongresses ist es, gemeinsam darüber nachzudenken, wie man die Auswirkungen einer kollabierenden industriellen Welt so abfedern kann, dass genügend Energien und Ressourcen übrig bleiben, um auf der Asche des ausbeuterischen Systems eine zukunftsfähige Gesellschaft zu bauen.
Wir freuen uns auf Sie!«
Dem Brief lag ein Flugticket von Air Tahiti Nui bei. Die Maschine startete am siebzehnten April in Frankfurt, also in genau vierzehn Tagen. Becher schaute auf den Stempel. Das Schreiben war sieben Wochen unterwegs gewesen. Dass sich Tahitis Präsident des guten alten Postwegs bedient hatte, wertete Becher als Indiz dafür, dass es sich um eine Einladung von besonderer Wichtigkeit handeln musste, da sie offenbar dem Zugriff der digitalen Schnüffler entzogen werden sollte. Und so stand sein Entschluss fest: Er würde die lange Reise auf sich nehmen.

Während Mike Kühling wieder seinen redaktionellen Verpflichtungen in London nachging, saß Cording noch immer in dessen Ferienhaus und dachte darüber nach, wohin es ihn auf diesem brennenden Planeten als Nächstes ziehen würde. Er hatte die freie Auswahl, niemand redete ihm rein. Dass er sich bisher nicht entscheiden konnte, deutete er positiv. Zeigte es doch, wie sehr ihm die perverse Neugier abhandengekommen war, mit der er in den letzten Jahren in der verkappten Hoffnung unterwegs gewesen war, bei der Ausübung seines »Dienstes« ein Ende zu finden. Warum hatte es ihn immer wieder in die Dependancen der Hölle gezogen, warum brauchte er das Gift, die Seuchen und die Unruhen so nötig wie die Luft zum Atmen? Warum hatte er jahrelang Feuer am Fuß?
Gelegentlich fragte er sich, ob er seine Reportertätigkeit überhaupt wieder aufnehmen sollte. Hatte er noch die Kraft dafür? Er konnte sich sehr gut vorstellen, in diesem Dörfchen sesshaft zu werden, sich Hühner zu halten oder Ziegen und auf dem Weg zum Wirtshaus den Spruch am Ortseingang wie ein Mantra aufzusagen: »Uns fahlt nicht.« Aber er stand Mike gegenüber im Wort und er würde es auch halten.
Inzwischen hatte er wieder begonnen, seine Gedanken in einer Art Tagebuch festzuhalten. Aber die meiste Zeit verbrachte er damit, die Materialien zu sichten, die ihm sein Chefredakteur in schöner Regelmäßigkeit zukommen ließ, da sich Tirol, wie viele andere URP-Regionen auch, schon vor längerer Zeit vom Internet abgekoppelt hatte. Vielleicht sollte er sich um ein Visum für ECOCA bemühen, wo in Kürze ein Schauprozess gegen den ehemaligen US-Präsidenten Barack Obama stattfinden würde, der vom »Gerechtigkeitskommando« in einer spektakulären Aktion entführt worden war. Das Gerechtigkeitskommando war eine Spezialeinheit der Ökodiktatur, vor dem kein Verantwortlicher der spätkapitalistischen Ära sicher war.
Obama, inzwischen vierundsiebzig Jahre alt, wurde vorgeworfen, in seiner Amtszeit das verhängnisvolle Monsanto-Schutzgesetz unterzeichnet zu haben, welches sicherstellte, dass der auf Biotechnologien spezialisierte Konzern auch gegen den Willen der obersten Gerichtshöfe genmanipuliertes Saatgut vertreiben durfte. Damit war den Bundesstaaten die Möglichkeit genommen, sich gegen den Agrarmulti zu wehren. Amerikas Farmer waren nun endgültig zu Sklaven der Agrarindustrie mutiert, sie hatten quasi per Dekret hinzunehmen, dass ihr Land als Experimentierfeld für gentechnische Experimente missbraucht wurde.
In der Anklageschrift, die Cording auszugsweise vorlag, hieß es wörtlich: »Mit dem Monsanto Protection Act hat die amerikanische Regierung dem eigenen Volk den Krieg erklärt.« Klang martialisch, war aber in der Sache durchaus zutreffend. Denn bereits damals war bekannt, dass die von Monsanto produzierten transgenen Maissorten und Breitbandherbizide mit dem Wirkstoff Glyphosat, besser bekannt als Roundup, die Böden innerhalb weniger Generationen auslaugen und den landwirtschaftlichen Ertrag dauerhaft senken würden. Somit war Monsanto, oder besser das Monsanto-Schutzgesetz, neben den immer häufiger auftretenden Dürreperioden mitverantwortlich für die dramatischen Nahrungsengpässe, mit denen die Vereinigten Staaten zu kämpfen hatten.
Cording verwarf den Gedanken, Mike zu bitten, sich in der Botschaft ECOCAs um einen Platz als Prozessbeobachter zu bewerben. Sie würden der Bitte nicht stattgeben. Die Tatsache, dass er schon einmal in ECOCA war, dürfte auch nicht helfen. Damals war er ja nicht als Journalist unterwegs gewesen, er gehörte der Delegation Maevas an, die vom Ökorat eingeladen war. Vielleicht sollte er sich in den Süden Europas aufmachen, wo mit Andalusien, Katalonien und der Provence drei bedeutende URP-Regionen auf der Kippe standen.
Er musste daran denken, was die Mitglieder des Ökorats in Eugene prophezeit hatten: angesichts der dramatischen Entwicklungen auf dem Planeten würden noch viele Staaten dem Beispiel ECOCAs folgen. Damals waren sie geneigt, die Aussage als rhetorische Retourkutsche zu bewerten, immerhin hatte Maeva das Ansinnen des Rats auf eine Mitgliedschaft in der URP gerade abgelehnt. Inzwischen stellte sich die Situation anders dar. Je mehr Druck eine URP-Region von außen auszuhalten hatte, desto drastischer gestaltete sich häufig die Gesetzgebung im Inneren. Die URP-Regionen rund um das Mittelmeer schienen besonders anfällig zu sein für eine radikale ordnungspolitische Lösung, wie sie ECOCA propagierte. Wenn es im Süden Europas zu einer Art Dominoeffekt kommen würde, war die gesamte Idee gefährdet, die auf Tahiti einst ihren Anfang nahm.
Cording fand die Vorstellung, nach Andalusien zu reisen, um die Stimmung dort zu eruieren, recht attraktiv. Er würde noch eine Nacht darüber schlafen und sich dann mit Mike austauschen.
Jetzt aber war es Zeit für das Skatturnier im Wirtshaus Gannerhof von Innervillgraten.

Für die beiden Deutschen Becher und Malin waren Zimmer im Hotel reserviert, während ein Großteil ihrer Mitreisenden bei tahitianischen Familien Unterkunft fanden. Als Hotel konnte man die Anlage in der Nähe der Universität von Faaa eigentlich nicht bezeichnen. Rezeption, Lounge, Restaurant und Konferenzräume befanden sich in einem von Palmen umsäumten Hauptgebäude, dessen Dach durch zwei sich diametral gegenüberliegende Pyramiden dominiert wurde, die, wenn man sie von innen wahrnahm, den Geräuschen eine Art Schalldämpfer aufsetzten, sodass auch noch das schrillste Kinderlachen weich und geschmeidig klang. Das Gebäude befand sich direkt am Strand, nur wenige Meter vom Meer entfernt, in das zwei lange, sich verzweigende Holzstege hineinragten, an deren Seiten die auf Stelzen stehenden »Overwater-Bungalows« andockten wie Blüten an eine Rispe. Ihre Dächer bestanden aus geflochtenen Kokosblättern, die kunstvoll ineinander verschoben waren.
Eric Becher hatte es sich auf einer Couch in der Lounge bequem gemacht und fragte sich hingesunken, ob er je wieder fähig sein würde, seine müden Glieder in eine aufrechte Position zu bringen, oder ob er auf ewig dazu verdammt war, dem attraktiven weiblichen Dienstpersonal zusehen zu müssen. Die Reise hatte über siebzig Stunden gedauert, da fühlte sich der Körper an wie eine steif gefrorene Gummipuppe. Beim Abflug in Frankfurt waren sie zunächst nur achtunddreißig Gäste an Bord gewesen, honorige Geistesgrößen aus ganz Europa. In Delhi, Singapur und Sydney stiegen dann weitere bedeutende Menschen hinzu. Man kannte sich untereinander, zumindest vom Hörensagen. War schon eine außergewöhnliche Gesellschaft. Wenn Ethnologen, Bioniker, Quantenphysiker, Chaosforscher, Systemtheoretiker, Kosmologen, Kulturwissenschaftler, Futurologen, Umweltjuristen, Baumschützer, Ökophilosophen, Schöpfungstheologen und Nahtotforscher sich in ihren Gesprächen thematisch auf Gott und die Welt beschränkten, wenn sie über den Wolken kontrovers das Gewicht des Universums ausloteten, wenn genügend Zeit blieb, um die Begriffe Gut und Böse neu zu definieren, wenn sich zuguterletzt alle darüber einig waren, dass am Ende das Wort Gottes am Anfang stand (wobei der Begriff Gott noch einmal für heftige Auseinandersetzungen sorgte), dann war das ganz großes Bordkino, dann war so ein Flug alles andere als langweilig, zumal niemand wusste, was sie auf Tahiti erwarten würde.
»Unsere Bungalows sind bezugsfertig«, hörte er Malin sagen, »oder ziehst du es vor, hier zu bleiben, bei all den schönen jungen Tahitianerinnen …? Gott, siehst du fertig aus.«
Er reichte Becher die Hand, der sich ächzend erhob. Auf dem Weg zum Ausgang blieben sie vor einer Stellwand stehen, auf der die Bilder des ehemaligen SOFITELs zu sehen waren, das sich vor nicht einmal zwanzig Jahren an dieser Stelle befunden hatte. Das Luxushotel war, wie sie der Schrifttafel entnahmen, eines der ersten Gebäude, die nach der ökologischen Wende auf Tahiti abgerissen worden waren. Beim Anblick dieses Monsters mit den tausend Balkonen glaubte Becher sich in die Steinzeit versetzt. Die Vorstellung, dass der Betonbrocken einmal diese zauberhafte Bucht verschandelt hatte, überforderte ihn.
Ein anderes Foto zeigte die Frontansicht der Fünfsterneherberge. Vor der Einfahrt, in der sich ein Reisebus an den nächsten reihte, stand ein steinerner Gott (Tiki) in den Blumenrabatten und hielt sich den Bauch. Die Figur war ebenfalls vom Gelände verschwunden, sie war wieder dort, wo sie hingehörte: auf einem Marae. Was es mit diesen heiligen Stätten auf sich hatte, würde er bald in Erfahrung bringen. Schließlich waren sie bereits darüber informiert worden, dass sie übermorgen zu einer solchen aufbrechen würden.
Becher schlurfte den Steg aufs Meer hinaus, öffnete die Tür zu seinem Bungalow, löste die Knoten des Moskitonetzes und ließ sich aufs Bett fallen. Er wusste nicht einmal, welche Farbe die Wände hatten. Sie waren aus Holz und eigentlich wäre braun die logische Antwort gewesen.

Es versprach ein strahlend heller Morgen zu werden, als die hundertachtundachtzig Gäste nach und nach auf dem Marae Taputapuatea eintrafen. Die Dämmerung zog ihre türkisfarbene Schleppe ein und legte einen tiefblauen Himmel frei, der die scharfkantige Trennlinie, die ihm der unaufgeregte Ozean diktierte, klaglos akzeptierte. Es gab ja auch andere Tage, an denen der Horizont von stürmenden Wolkenformationen regelrecht zerstampft wurde.
Die drei knorrigen Bäume, von denen einer an der Stirnseite, die anderen beiden an den Flanken des von hüfthohen Natursteinmauern umgebenen Quadrats den Winden trotzten, schienen die himmlische Ruhe ebenso zu genießen wie die Seevögel, die sich in ihrem Astwerk niedergelassen hatten, von wo aus sie die sich formierende Versammlung mit schräg gestellten Köpfen von oben herab betrachteten.
Wenige Minuten, nachdem der letzte Gast seine Position rund um den unbehauenen, drei Meter hohen Obelisken gefunden hatte, betrat Omai die heilige Stätte. Er war barfuß, ein um die Hüfte gewickelter Pareo war alles, was er trug. Stolz und aufrecht steuerte er durch die Reihen auf den Obelisken zu, vor dem er solange ausharrte, bis das Gemurmel sich ins Flüstern verflüchtigte, um schließlich ganz zu ersticken.
»Iorana!«, begrüßte Omai seine Gäste. »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen, dass Sie unserer Einladung gefolgt sind. Mein besonderer Dank gebührt den Medizinmännern und Schamanen jener Völker, die noch nicht Mitglied der URP sind: den Matsigenka aus Peru, den Kayapo aus Brasilien, den Igorot von den Philippinen, den Oromo aus Äthiopien und vielen anderen, denen von ihren Nationalstaaten keinerlei Rechte zugestanden werden. Ihre Völker sind psychisch verwundet. In diesen beklagenswerten Zustand hat sie die Enteignung ihrer traditionellen Lebensräume gebracht und der daraus folgernde Verfall ihrer Bräuche. Es ist jedoch wichtiger denn je, die Traditionen zur Geltung zu bringen, die durch den Lauf der Geschichte beiseitegeschoben, massakriert oder eliminiert wurden. Die Vielfalt der Rassen, Kulturen, Bräuche und Religionen sollte der Welt eine Quelle des Reichtums und kein Grund zur Trennung sein.
Sinn und Zweck unseres Zusammentreffens ist es, gemeinsam darüber nachzudenken, welche Lösungen es geben könnte, um eine aus dem Gleichgewicht gebrachte Welt vor dem totalen Kollaps zu bewahren. Die technologischen und sozialen Konzepte, die bislang vorgeschlagen werden, mögen wichtig sein, aber sie stellen noch lange nicht die fundamentale Frage, welche Vorstellungen wir Menschen überhaupt von der Natur und unserer Rolle darin haben. Und solange diese Frage nicht explizit beantwortet wird, werden wir auf diesem Planeten von einer Krise in die nächste stolpern, von einem Notfall zum anderen.
Unser sozio-ökologisches Gesellschaftsmodell, Ihnen allen auch als Tahiti-Projekt bekannt, ist nur bedingt auf den Rest der Welt übertragbar, wie die Schwierigkeiten innerhalb der URP beweisen. Es ist nicht leicht, sich den Steinschlägen eines zusammenbrechenden globalen Wirtschaftssystems zu entziehen. Aber das darf uns nicht daran hindern, noch konzertierter, noch konsequenter, noch kreativer daran zu arbeiten, die Menschheit wieder zu Bewusstsein zu bringen.«
Omai hielt einen Moment inne. »Ich hatte Ihnen eine Überraschung versprochen«, sagte er schließlich. »Eine Überraschung, die Hoffnung macht. Hier ist sie!«
Er deutete auf den Durchgang, der sich im Rücken seiner Zuhörer in der hinteren Mauer des Maraes befand. Dort stand eine schlanke Frauengestalt, eingehüllt in einen eng anliegenden, in der Taille gebundenen gelb-schwarzen Pareo, der über der linken Schulter zusammen geknotet war, während die rechte Schulter freilag. Um den Hals trug sie eine mehrfach gewundene Kette aus schwarzen Perlen, ihr Gesicht verbarg sie unter einem feinen Gazeschleier. Sie war barfuß wie Omai und, wie dieser wenige Minuten zuvor, schritt auch sie nun behutsam durch die Reihen, um sich der Versammlung am Obelisken zu stellen. Tahitis Präsident hatte sich inzwischen unter die Gäste gemischt und die Bühne dieser rätselhaften Person überlassen, die sich langsam, fast provozierend langsam, ihres Schleiers entledigte. Während das Publikum noch rätselte, wer die Frau sein mochte, deren tätowiertes, blaustichiges Gesicht in der Sonne glitzerte, steckte die sich eine Tiareblüte ins Haar.
»Maeva!«, begrüßte das rätselhafte Wesen die Anwesenden. »Maeva bedeutet in unserer Sprache ›Willkommen‹«, fügte es lächelnd hinzu, »seien Sie also willkommen! Maeva ist aber auch ein tahitianischer Mädchenname. Ich trage diesen Namen, ich heiße Maeva. Ich war bis zu meinem Tod Vorsitzende der URP, der eine oder andere von Ihnen mag sich vielleicht an mich erinnern …«
Es wurde gespenstisch still auf dem Marae, selbst die Seevögel hielten den Schnabel. »Die Tatsache, dass ich hier vor Ihnen stehe, habe ich meinem Bruder zu verdanken«, hörten die Versammelten die Frau sagen. »Nach dem Attentat in Bolivien war er der Meinung, dass mein Leben nicht mehr sicher sei. Also nahm er mich aus der Schusslinie und ließ meine Feinde glauben, ich sei einem Flugzeugabsturz zum Opfer gefallen. Ich war damals nicht gefragt worden. Omai wusste, dass ich mich geweigert hätte, an einem solchen Täuschungsmanöver teilzunehmen.
Im Nachhinein muss ich allerdings gestehen, dass die Aktion unserer Sache eher genutzt hat. Die URP hat einen enormen Zulauf erhalten in den letzten Jahren. Das ist zuallererst der Magie eines Mythos’ geschuldet: dem Maeva-Mythos. Und dieser Mythos wird weiter leben. Wir können ihn sogar befeuern, indem wir hinausgehen in die Welt und behaupten: Maeva lebt! Die Menschen werden das immer auf ihre Ideen beziehen, nie auf die Person. MAEVA LEBT! Das hört sich gut an. Das fühlt sich auch gut an …«, schloss sie lachend, was bewirkte, dass ihre Zuhörer aus der kollektiven Erstarrung erwachten und sie mit donnerndem Applaus überschütteten.
Maeva hörte dem Sturm, den sie entfacht hatte, eine Weile gerührt zu, dabei blickte sie lächelnd zu Steve hinüber, der neben Rajani Bala in der ersten Reihe saß. »Omai sprach davon«, begann sie erneut, »dass es nicht leicht ist, den Steinschlägen eines kollabierenden weltweiten Wirtschaftssystems zu entkommen. Aber vermutlich braucht es diese Steinschläge, vermutlich braucht es diese Verletzungen und Härten, damit sich die Menschen wieder daran erinnern, dass ihr Leben erstickt wird unter der Decke der Zivilisation, einer Zivilisation, die keinerlei Verbindung zu den Mysterien der Schöpfung zulässt. Eine solche Bestandsaufnahme tut weh. Verstand und Intellekt beiseitezulassen, zu akzeptieren, dass die materielle Welt, so wie sie wahrgenommen wird, eine Illusion, ein Betrug ist, tut weh.
Und genau an dieser Stelle müssen wir helfen. Wir müssen den Menschen helfen, die künstliche Teilung zu überwinden, die die Zivilisation zwischen der menschlichen Gemeinschaft und dem Rest des Planeten vorgenommen hat. Wir müssen den Menschen helfen, die Tricks zu durchschauen, mit der uns die herrschende Machtelite vom wahren Leben fernhält. Mit jeder Kultur, die der unersättlichen Lebensweise der Zivilisation zum Opfer fällt, werden die Träume ihrer Angehörigen ausgelöscht. Also müssen wir Orte der Zuflucht schaffen. Orte, die frei sind von Schrecken und Ausbeutung, Orte, in denen wir heilende und nährende Beziehungen entwickeln können – zu den Tieren und Pflanzen, zu unserem Land, zu den Sternen, zur Kunst, zu unseren Mitmenschen und nicht zuletzt zu uns selbst.«
Maeva unterbrach ihre Rede und wartete ab, bis sich die Sturmvögel, die aus den Ästen stoben, aufs offene Meer verzogen hatten. »Die Tragödie der Menschheit besteht darin«, sagte sie, als wieder Ruhe eingekehrt war, »dass sie anstelle des Glaubens den Aberglauben an die Wissenschaft gesetzt hat. Die Wissenschaft begreift das Leben als Versuchskaninchen, dem man seine Geheimnisse auf dem Seziertisch entreißt. Das ist dumm und anmaßend. Sie können noch so tief in den Mikro- oder Makrokosmos steigen, sie können die Dinge in Zahlen fassen oder ihnen Namen geben, dem göttlichen Mysterium kommen sie damit nicht auf die Spur. Es sind nur Zahlen und Namen, es sind nur Etiketten. Etiketten sind keine Weisheiten, Etiketten haben keine Seele. Und sie berauben uns der Ehrfurcht. Ein ehrfürchtiger Mensch akzeptiert den Zusammenhalt materieller und nichtmaterieller Existenz, er weiß, dass sich das Mysterium des Lebens niemals zu Wissen reduzieren lässt. Bewusstsein ist keine Frage des Lernens, es ist eine Frage des Verlernens geworden. Nur so erlangen wir Vertrauen, nur so werden wir frei von Angst.«
Maeva blickte sich unter den Anwesenden um, als wollte sie jede einzelne Person in sich aufsaugen. »Meine Antrittsrede als URP-Vorsitzende,« fuhr sie fort, »hatte ich mit dem Satz beendet: ›Mein sehnlichster Wunsch ist es, dass wir ein Verbund von Angstfreien werden.‹ Ich wünsche mir das mehr als zuvor, denn anders geht es nicht, wenn der Mut nicht sinken soll. Ich brauche Ihre Hilfe«, sagte sie, während sie mit den Augen das Einverständnis der Anwesenden einzusammeln schien. »Die Regionen der URP befinden sich teilweise in enormen Schwierigkeiten. Viele sind noch nicht stabil genug, um sich gegen die zersetzenden Einflüsse von außen zu schützen. Der Klimawandel hat Ströme von Armuts- und Umweltflüchtlingen in Gang gesetzt, die in den Regionen Zuflucht suchen, welche damit häufig überfordert sind. Das ist das eine.
Das andere, und das halte ich für sehr viel gefährlicher, ist die Tatsache, dass innerhalb einiger Regionen bei den verantwortlichen Politikern eine Tendenz zu radikalen Lösungen zu erkennen ist. An dieser Stelle müssen wir eingreifen, hier braucht es spirituelle Unterstützung, vor allem für die Verantwortlichen selbst. Ich werde Rajani Bala, der ich an dieser Stelle ausdrücklich für die Arbeit danken möchte, die sie als meine Nachfolgerin an der Spitze der URP geleistet hat, in Zukunft im Verborgenen beiseite stehen.
Ich möchte, dass wir heute eine verbindliche Verabredung treffen. Jeder von Ihnen sollte bereit sein, seine Kräfte auf Abruf zur Verfügung zu stellen. Welcher Art Ihre Hilfe vor Ort sein wird, das bestimmen allein Sie. Selbstverständlich werden sich auch die religiösen Amtsträger der Arioi, die Ariki, Taula und Tohungas, wie unsere Priester, Heiler und Zauberer genannt werden, an dieser Arbeit beteiligen.
Ich habe keinen Zweifel daran, dass eine kleine Gruppe von Menschen die Welt verändern kann. Tatsächlich ist dies die einzige Art, in der die Welt jemals verändert wurde. Machen wir den Menschen klar, dass der höchste Lohn für ihre Bemühungen nicht das ist, was sie dafür bekommen, sondern dass, was sie dadurch werden. Schließen möchte ich mit einem Satz von Aung San Suu Kyi: ›Erwarte weiterhin das Beste, aber sei auf das Schlimmste gefasst.‹ Ich danke Ihnen. Mauruuru roa …«
Kaum, dass sie geendet hatte, ging Maeva auf Rajani zu, die mit ausgebreiteten Armen auf sie wartete und sich ihrer Tränen nicht schämte.
Die exklusive Veröffentlichung bei KulturPort.De
Die nächste Folge (Feuer am Fuß 07) erscheint am Montag, 16. November 2015.
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Lesen Sie die Einführung von Hans-Juergen Fink: Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß - Reality Fiction pur vom 28.10.2015 (Literatur)


Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer "Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.

Foto Michel-Georges BernardDer Marae Taputapuatea auf der heiligen Insel Raiatea (Französisch Polynesien), wo Maeva die Schamanen der Welt um Unterstützung bittet. Foto: Michel-Georges Bernard
. Quelle: Wickipedia CC BY-SA 3.0

Dirk C. Fleck auf der Leipziger Buchmesse: Von der Ökodiktatur zum Tahiti-Projekt
„Gewiss hat sich die westliche Welt über alle Maßen für Philosophie und Politik interessiert und sich in geradezu unsinniger Weise um philosophische und politische Fragen gestritten; gewiss hat die westliche Welt auch eine wahre Leidenschaft für Literatur und Kunst entwickelt; aber nichts in ihrer ganzen Geschichte hat eine solche Bedeutung gehabt wie das Bedürfnis nach rationaler Gewissheit. Diesem Bedürfnis nach rationaler Gewissheit hat die westliche Welt schließlich alles geopfert: ihre Religion, ihr Glück, ihre Hoffnungen und letztlich auch ihr Leben.“


Michel_Houellebecq
MICHEL HOUELLEBECQ, Jahrgang 1956 oder 1958, geboren als Michel Thomas auf der Insel La Réunion (departement d'autre mer) im Indischen Ozean und aufgewachsen in Algerien ist ein französischer Schriftsteller und Filmemacher (Elementarteilchen, Ausbreitung der Kampfzone, Unterwerfung).

Abbildung: Michel Houellebecq in Warsaw (Poland), June 9, 2008. Foto: Mariusz Kubik
Quelle: Wickipedia (en) CC BY-SA 3.0



Dirk C. Fleck gehört mit Sicherheit zu denen, die den Titel “Öko-Papst” verdient haben – ein erfolgreicher Autor, nicht im klassischen Science-Fiction-Bereich, sondern in einem ziemlich neuen Literaturbereich, den ich einfach einmal “Practical World Fiction” nenne. Die beiden zentralen Werke von Dirk C. Fleck sind die Romane “Das Tahiti-Projekt” und “Mavea!” Die beiden Romane haben gemeinsam, dass sie in ihrem Charakter gleichzeitig visionär und seriös sind, seriös vor allem deshalb, weil immer der Realiätsbezug erhalten bleibt. Insofern handelt es sich tatsächlich nicht um Science Fiction, es handelt sich um einen greifbaren Traum für die Welt – Dirk C. Fleck ist ein eifrig fabulierender Träumer, der trotzdem immer auf dem Teppich bleibt, er erschafft keine Phantasmagorie, sondern er bietet eine phantastische Alternative an, die nach Umsetzung in die Realität geradezu lechzt.
Quelle: Deeplookers Blog Texte für die Schädelbasis




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