Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß 05

Mike Kühling hatte Cording dazu bewegen können, ihn zu einem Interview mit dem japanischen Dissidenten Akiyama Kobayashi zu begleiten, das dem EMERGENCY-Magazin nach monatelangen Bemühungen endlich gewährt worden war. Aber nur dessen Chefredakteur, darauf hatte der Japaner bestanden. Kobayashi wohnte im Engadin, im Städtchen Maloja, nahe der italienischen Grenze. Ein Interview mit diesem Mann, der als eine der zentralen Gestalten jener Wissenschaftsclique galt, die Japan vor drei Jahren durch einen elektronischen Staatsstreich von der Zivilisation abgekoppelt hatte, wäre, so spekulierte Kühling, die ideale Fingerübung, um Cordings fatale Schreibblockade aufzuheben.
Bis auf ein belangloses Gespräch mit der BBC kurz nach seiner Ankunft in Europa hatte sich Kobayashi mit Informationen über sein Heimatland bisher bedeckt gehalten. Alles, was man über die Zustände im fernöstlichen Inselstaat wusste, stammte aus Erzählungen von Flüchtlingen, die von der koreanischen Marine im Ostchinesischen Meer aufgegriffen wurden. Sie berichteten übereinstimmend von einer unübersehbaren Zahl von Opfern, die der Staatsstreich gefordert hatte und immer noch forderte, von Willkürmaßnahmen und Massenmorden. Schon bald machte das Wort vom „Land der Toten” die Runde, wenn von Japan die Rede war.
Das Haus des Professors lag zu Füßen eines bewaldeten Hanges. Sie wurden bereits erwartet. Eine Haushälterin führte sie hinein. Im Flur streiften sie die Schuhe von den Füßen und folgten der Frau in den schlichten Wohnraum. Auf dem Parkett befanden sich zwei rechteckige Tatamis, einige Kissen sowie ein flacher Holztisch. Vor den beiden Fenstern filterten Stellwände das Tageslicht. Das zwischen lasierten Holzrahmen gespannte Shoji-Papier gab dem grellen Sonnenlicht einen angenehm milchigen Anstrich.
„Guten Tag, die Herren!”
Kobayashi, der aus dem Nebenzimmer getreten war, führte die Handflächen aneinander und verbeugte sich. Er war barfuß und trug den schwarzen Haori, eine traditionelle, bis auf Schenkelhöhe reichende Kimonoüberjacke. Seine Beine steckten in weiten, seidengrauen Hosen, die ihn noch kleiner wirken ließen, als er ohnehin schon war. Die drei Männer setzten sich im Schneidersitz um den Tisch, während die Haushälterin den Tee servierte.
„Wir werden niemals mehr erfahren, wie Tee wirklich schmeckt”, bemerkte der Professor, als er seinen Gästen einschenkte. „Die großen Teemeister sind achtzehn Jahre in die Lehre gegangen, bis sie das Geheimnis der richtigen Zubereitung beherrschten”, fügte er hinzu und stellte die Kanne zurück aufs Stövchen. „Der Tag in den Teeschulen begann morgens um fünf. Zunächst wurden die Gärten gesäubert und die Böden geschrubbt. Danach übte man sich in der Disziplin der Teezeremonie. Die Teezeremonie, müssen Sie wissen, war eine Kunst.”
„Wieso war?”, fragte Kühling.
„Weil wir das Wasser nicht mehr haben. Die Zeremonie suchte nach der innersten Seele des Wassers. Das beste Wasser befand sich in der Mitte eines Sees. Und dort durfte es nur zur Stunde des Tigers abgeschöpft werden, zwischen drei und vier Uhr morgens. Das ist die Zeit, wo die bösen Geister ruhen und das Wasser seinen reinsten Zustand erlangt.” Er schaute versonnen zu Boden. „Wasser ist lebendig. Das haben die Menschen leider vergessen …”
Cording fragte sich, ob sie nicht an der falschen Adresse waren. Nach allem, was man über Japan in Erfahrung gebracht hatte, war es nach dem verheerenden Erdbeben von 2032, das die an der Nordküste gelegenen Atomkraftwerke Shimane, Takahama, Mihami, Ohi und Shika schwer beschädigt hatte, zu ausgeklügelten Virenattacken auf Datenbanken und Computernetzwerke von Regierung und Großunternehmen gekommen. Innerhalb kürzester Zeit versank das Land der aufgehenden Sonne und Supergaus in ein zivilisatorisches Chaos. Die gesamte Infrastruktur einer hochtechnisierten und vernetzten Welt hatte den Boden unter den Füßen verloren. Und dieser Mann, der sich so bedauernd über die verloren gegangene Tradition der japanischen Teezubereitung äußerte, sollte zum inneren Kern des Revolutionsrats gehört haben? Eines Rats, dessen „Aufräumarbeiten”, wie die Verantwortlichen des Terrorregimes ihre Tätigkeit selbst nannten, an Grausamkeit und Menschenverachtung nicht zu überbieten waren.
„Darf ich raten, was Sie von mir wissen wollen?”, wandte sich der Professor an Kühling. „Sie möchten wissen, ob ich die japanische Revolution gut heiße, ob ich einverstanden bin mit den Härten, die sie mit sich bringt. Richtig?”
„So ist es.”
„Nun, ich will Ihnen die Antwort nicht verhehlen. Ja, ich stehe dazu, ohne Einschränkung.”
„Ohne jede Einschränkung?”
„Schweren Herzens, zugegeben. Aber immerhin bemühen wir uns, den letzten Rest irdischen Lebens zu erhalten, das ist doch schon mal was. Wir sprechen vom Überleben. Vom Überleben des Planeten wohlgemerkt, mit all seinen von uns geschändeten Kreaturen. Die Zivilisationskultur gehorcht ausschließlich der Gier – von oben nach unten, von innen nach außen, auf individueller wie auf gesellschaftlicher Basis. Sie beruht auf der systematischen und absoluten Vermeidung von Verantwortlichkeit. Es ist allerhöchste Zeit, ihr das Genick zu brechen. Das ist ein Notwehrreflex, meine Herren!
Die Frage lautet doch: Wie geht man mit einer Spezies um, die sich derart blind in den kollektiven Untergang wühlt und dabei alles andere Leben aus dem Gleichgewicht reißt? Lässt man sie gewähren oder versucht man sie mit Gewalt daran zu hindern, ihren tödlichen Wahn auszuleben? Natürlich wäre es sehr viel angenehmer, wenn wir diesem zerstörerischen Trieb mit einem veränderten Bewusstsein begegnen könnten, wenn es gelänge, unsere Herzen in Ordnung zu bringen, wie Maeva es propagiert hat.
Ich habe die Entwicklung der URP sehr genau verfolgt. Vor dem Hintergrund der kollabierenden Naturhaushalte nehmen sich ihre Bemühungen allerdings wie ein schlechter Witz aus. Die Ablehnung von Gewalt ist nichts anderes als eine Alibiveranstaltung, mit der man sich moralische Absolution erteilt. Eine solch friedliche Haltung hat nichts mit den Realitäten zu tun. Für Experimente dieser Art bleibt uns schlicht keine Zeit. Die japanische Revolution ist zur historischen Wahrheit geworden, damit ist sie per se gerecht. Und da sie sich in erster Linie gegen die Menschen richtet, wird sie von den Menschen auch missverstanden und verteufelt. Aber man muss die notwendige Operation auch wollen, wenn man am Leben hängt, nicht wahr, meine Herren? Noch Tee?”
Cording schüttelte den Kopf, er war extrem ungeduldig geworden. Sie waren doch nicht gekommen, um sich die propagandistischen Statements eines Menschenverächters und Massenmörders anzuhören! Er befürchtete, dass sich Mike mit diesen zynischen Allgemeinplätzen zufriedengeben könnte. Mike mochte ein guter Chefredakteur sein, ein guter Journalist war er nicht. Also musste er irgendwie einen Weg finden, das Gespräch an sich zu reißen, ohne seinen Vorgesetzten bloß zu stellen. Da er aber noch nie ein großer Taktiker gewesen war, tat er, was er immer getan hatte bei seinen Recherchen: Er fragte direkt und unverblümt nach.
„Herr Professor, der japanische Revolutionsrat hat jeden Kontakt zur Außenwelt abgebrochen, Reisen ins Land sind nicht gestattet. Die gesamte Informationstechnologie ist offenbar außer Kraft gesetzt. Einzig die Aussagen der Flüchtlinge geben Auskunft über die Zustände in Japan. Sie kennen die Vorwürfe, die im Netz kursieren. Was ist dran an diesen an Dramatik kaum noch zu überbietenden Schilderungen?”
„Nun”, entgegnete Kobayashi lächelnd, „ich verfolge das nur gelegentlich, aber was ich lesen und sehen konnte, entsprach bisher immer der Wahrheit.”
Cording hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einem so schonungslosen Eingeständnis, das sich anfühlte wie ein Schlag ins Gesicht. „Dann sind die biochemischen Eingriffe ins Trinkwasser der Millionenmetropolen Tokio, Yokohama, Osaka, Nagoya, Kobe, Sapporo und Kyoto kein Gerücht?”
„Nein. Von den Millionenstädten ist einzig Hiroshima ausgenommen. So viel Takt muss sein.”
„Dann ist vielleicht auch wahr, dass die Armee im Land systematisch nach Menschen fahndet, die vor der Revolution wichtige Positionen in der Energiewirtschaft, in der Robotik, im Bergbau, in der Auto- und Flugzeugindustrie, der Petrochemie, der Informationsbranche, der Biotechnologie und Tierproduktion, in der Pharmaindustrie, den Wirtschaftswissenschaften, dem Vermessungswesen, der Bautechnik sowie in allen anderen Bereichen inne hatten, die dem ausbeuterischem System, wie es heißt, zugearbeitet haben.”
„Auch das ist richtig. Wir nennen das Programm ‚Japan ohne Kopf’.”
„Was geschieht mit diesen Menschen?”
„Sie werden bei den Aufräumarbeiten in unseren Atomruinen beschäftigt.”
„Das bedeutet ihren sicheren Tod…”
„Früher oder später ist das so.”
„Ihnen ist schon klar, dass es sich hier um einen staatlich verordneten Massenmord handelt…”
„Selbstverständlich. Ein Massenmord unter anderem auch an jenen Mathematikern und Physikern, die uns das Leben aus der Hand genommen haben durch das, was sie künstliche Intelligenz nennen. Künstliche Intelligenz – schon einmal darüber nachgedacht, meine Herren? Diese industrielle Revolution ist die tiefgreifendste, die es auf dem Planeten je gegeben hat. Weil es eine Revolution ist, die etwas mit dem Denken tut. Mit dem Gehirn tut. Mit dem Vorstellungsvermögen tut. Mit der künstlichen Intelligenz wurde die neue Atombombe erfunden und keiner hat es bemerkt!”
Cording wusste nicht, über was er sich mehr wundern sollte: über die erbarmungslose Offenheit seines Gesprächspartners oder über die Schrecknisse, von denen er gerade erfuhr.
„Was ist mit den Seuchen, die sich übers ganze Land ausgebreitet haben? Und wie ernähren Sie die Menschen in diesem Chaos?”
„Die Seuchen und der Hunger sind Revolutionswerkzeuge, ebenso wie die Bürgerkriege, die durch sie entfacht werden”, erwiderte Kobayashi. „In all diesen Fällen hält sich die Obrigkeit heraus. Was Medikamente und Lebensmittel betrifft: Sie stehen allein den Soldaten zu, ihr Job ist schwierig genug. Ich schätze Ihre journalistische Arbeit, Mister Cording, aber in unserem Fall scheinen Sie noch immer nicht begriffen zu haben, worum es eigentlich geht.
Wir eliminieren. Man bezeichnet uns auch gerne als die Roten Khmer der Ökologie, wir haben nichts dagegen. Wir streichen eine Fehlentwicklung der Evolution aus den Annalen der Schöpfungsgeschichte. Zugunsten aller anderen Kreaturen, und dazu zähle ich neben den Tieren auch Pflanzen und Flüsse, die unter dieser arroganten Spezies nur deshalb zu leiden haben, weil sie sich ihre natürliche Unschuld bewahren. Glauben Sie an die Wiedergeburt? Nein? Aber Sie glauben an den Tod. Jeder Mensch, der sein Leben im Zuge unserer Maßnahmen verliert, wäre ohnehin gestorben, und das angesichts der wütenden Naturkatastrophen, der Atom- und Chemieunfalle nicht gerade unter erklecklichen Umständen.
All diese Opfer, wären sie denn am Leben geblieben, hätten das globale Vernichtungswerk nur noch eine Weile befördert. Es braucht jetzt aber zwei, drei Zwischengenerationen, die ruhiggestellt werden müssen, damit die Erde kurz durchatmen kann. Wenn Sie an die Wiedergeburt glauben würden, was wir Japaner ja durchweg tun, dann wüssten Sie, dass wir mit der Zeit in jedes denkbare Leben geboren werden, um auf diese Weise zu einem übergreifenden Verständnis zu gelangen, das uns letztlich aus dem Leid erlöst, welches unabdingbar mit der materiellen Existenz verbunden ist. Wir werden also sowohl der Baum gewesen sein, den wir gefällt haben, als auch die Fliege, die wir unter unseren Händen zerdrücken. Wir werden die Erfahrungen eines harpunierten Wals ebenso gemacht haben, wie die eines umnachteten Kinderschänders. Wir werden Herrscher und Besiegte in uns vereinigen, jeder Schmerz, jede Freude, jeder Wahnsinn wird uns allmählich vertraut. Wir werden uns schuldig als auch unschuldig gezeigt haben.”
„Und jetzt arbeiten Sie gerade den japanischen Eliminierer ab”, entfuhr es Cording und erntete einen missbilligenden Blick seines Chefredakteurs.
„Und Sie, mein Freund”, entgegnete Kobayashi ungerührt, „Sie müssen den verständnislosen Reporter geben.”
Früher, dachte Cording, gab es mal den Internationalen Gerichtshof, vor den wenigstens einige der großen Menschenverächter gezerrt und abgeurteilt wurden, heute saß so ein Mann gemütlich in der Schweiz und legte freiwillig und unbehelligt Zeugnis ab von den Schweinereien, die er zu verantworten hatte.
„Die japanische Revolution, meine Herren, rettet auch den Menschen”, hörte er den Japaner sagen. „Ich weiß, das klingt seltsam für Sie, aber wir reißen eben auch die Wurzeln einer fehlgeleiteten Wissenschaft aus dem Boden, die an der menschlichen DNS herumgedoktert und den genetischen Code von Intelligenz, Schönheit und Gesundheit entschlüsselt hat, sodass wir unsere Kinder demnächst nach Katalog hätten bestellen können … Wie hätten wir es denn gern? Mandelaugen oder Grübchenkinn, musikalisch oder sportlich? Beides zusammen geht selbstverständlich auch. Geben Sie ihrem Kind eine Stimme. Welche Stimme darf es denn sein …”

Auf dem Weg zum Auto fragte Cording den Professor, warum er aus Japan geflohen ist, wo er doch so eine große Nummer im Revolutionsrat war.
„Ich hatte meinen Vater vor den Soldaten versteckt”, antwortete Kobayashi, „er war Direktor einer Fleischfabrik. Plötzlich galt ich als Konterrevolutionär. Und was man mit solchen Leuten bei uns anstellt, brauche ich Ihnen nicht zu sagen.”
Du kleine, miese Ratte, dachte Cording. Am liebsten hätte er dem Mann eine Kugel durch den Kopf gejagt. Einer weniger … Auf der Fahrt zurück nach Innervillgraten dachte er die ganze Zeit darüber nach, wie er sich wohl dabei gefühlt hätte. Eine schlüssige Antwort vermochte er sich nicht zu geben.

Tahitis Präsident winkte den Kriegern, die sich ihm zu erkennen gaben. Sie hatten ihre Posten in regelmäßigen Abständen entlang des Flusses bezogen, hinter dichtem Buschwerk oder im Wald – es war ausgeschlossen, dass jemand unbemerkt an ihnen vorbei kam. Omai schickte seinen Leibwächter Rudolf zurück nach Papeete und ging die letzten hundert Meter allein auf das Gästehaus zu, indem er seiner Schwester nach sechs quälenden Jahren erstmals wieder vor die Augen treten wollte. Dass Maeva von sich aus den Weg auf den Te Pari gefunden hatte, um ihrem Widersacher Rauura posthum Respekt zu erweisen, machte ihm Mut. Der Schamane hatte ja bereits seit Längerem seinen Frieden mit ihr geschlossen, da war die Hoffnung, sie aus der selbst gewählten Isolation zu locken, nicht unberechtigt.
Maeva kam ihrem Bruder auf dem Zufahrtsweg entgegen, als habe sie ihn erwartet. „Sieh an”, sagte sie, wobei sie sich ein Lächeln nicht verkneifen konnte, „der Präsident persönlich. Was verschafft mir die Ehre?”
Omai, der auf alles gefasst war, nur nicht auf eine derart unkomplizierte Begrüßung, musste nun ebenfalls schmunzeln. „Du siehst fabelhaft aus”, sagte er, „was dir meiner Meinung nach noch fehlt, wäre ein bisschen Lippenstift…”
Maeva sah ihn einen Augenblick verdutzt an, dann prustete sie lauthals los. Omai konnte sich ihrem Heiterkeitsausbruch nicht entziehen und so standen sie von Lachkrämpfen geschüttelt in der Einsamkeit des Vaiami-Tals und genossen den Erdrutsch versteinerter Gefühle, die ihre Seelen jahrelang belastet hatten. Selbst die Sturmvögel mochten sich das Spektakel nicht entgehen lassen, ihre weißen Bäuche malten Kreise in den Himmel, als wollten sie das Revier markieren, in dem der Frieden gerade Einzug hielt.
Schließlich zogen sich die Geschwister auf die Terrasse zurück, wo Maeva ihren Bruder von den Marmeladen kosten ließ, die sie gekocht und mit Vanilleschoten aus Tahaa verfeinert hatte. Sie erzählte Omai von dem hinkenden wilden Hund, der sich ihr immer dann näherte, wenn sie sich besonders einsam fühlte, berichtete übermütig von den possierlichen Eidechsen, die sich jeden Morgen in der Küche ihr Frühstück abholten, von den Vögeln, mit denen sie im Garten Konversation betrieb und von den herrlichen und herrlich ertragreichen Brotfruchtbäumen, die sich in ihrem Garten sichtlich wohlfühlten.
In Papeete sei sie schon lange nicht mehr gewesen, verriet sie. „Ich muss nicht in die Stadt fahren, ich habe einen kleinen Freund in Tautira, er ist vierzehn Jahre alt und kauft einmal pro Woche für mich ein, Fisch, Gemüse, du weißt schon. Der Junge hat keine Angst vor mir, die Leute in Tautira aber weichen mir aus, sie halten mich nach wie vor für ein Tupapa’u.” Sie griff nach dem kleinen Handspiegel, den sie unter dem Tisch deponiert hatte, und betrachtete ihr Gesicht: „Naja”, meinte sie, „daran bin ich wohl nicht ganz unschuldig…” Dann verzog sie ihre Lippen zu einem Schmollmund und sagte: „Und du meinst wirklich, dass ein wenig Lippenstift nicht schaden könnte?” Die ironische Bemerkung sollte die Traurigkeit kaschieren, von der sie gerade überfallen wurde, bewirkte aber nur, dass sich Omai nun ebenfalls sauelend fühlte.
„Ich hab mich die ganze Zeit gefragt”, unterbrach er das Schweigen, „ob wir heute irgendetwas anders machen würden. Ich meine, ob wir heute nicht ähnlich besorgt gewesen wären um dein Leben und ob wir nicht zu ähnlich drastischen Mitteln gegriffen hätten, um dich zu schützen. Ich weiß es nicht, ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Glaub mir, niemandem von uns ist die Entscheidung leicht gefallen, dich von der Weltbühne zu nehmen, auf der deine Feinde immer dreister wurden. Unserer Meinung nach war es nur eine Frage der Zeit, wann nach dem Mordanschlag auf dem Salar de Uyuni, der zweifelsfrei dir und nicht dem armen Shark gegolten hatte, ein zweiter folgen würde. Das hat nicht nur Rauura, das hat nicht nur Rudolf, das hat auch mich und Cording bewogen…”
„Verwende in meiner Gegenwart nie wieder seinen Namen, Omai!”
„Er wollte ja gar nicht mitmachen”, fügte er leise hinzu, dabei schaute er sie mit gesenktem Kopf an, wie er es als Kind gemacht hatte, wenn er in einem Streit mit ihr das letzte Wort haben wollte.
„Nie wieder, Omai!”
Oha, was Cording betraf, war mit ihr nicht zu spaßen. Liebesgeschichten haben eben ihre eigenen Gesetze. Omai reichte Maeva das Empfehlungsschreiben, welches Rauura für die Ratsmitglieder der Arioi aufgesetzt hatte. Während sie die Zeilen wieder und wieder überflog, hatte er genügend Zeit, sich zu sammeln.
„Das ist ein Scherz, oder?”, bemerkte Maeva schließlich, ohne die Augen von dem Papier zu nehmen. „Rauura hat mich bekämpft, wo er nur konnte, er hat mich diffamiert, beschimpft und aus dem Präsidentenamt gejagt. Warum sollte er so etwas wollen?”
„Der Rat der Arioi hat bereits zugestimmt”, bemerkte Omai. „Jetzt liegt es allein an dir…”
„Wie erklärst du dir diesen plötzlichen Sinneswandel?”, fragte Maeva, ohne darauf einzugehen. Sie faltete das Schreiben zusammen, als sei die Angelegenheit damit für sie erledigt.
„Mit seiner Krankheit. Ich erklär mir das mit seiner Krankheit. Nur wenige von uns wussten davon. Rauura war die letzten zwölf Monate nicht mehr in der Lage, sein Haus auf dem Te Pari zu verlassen. Er konnte weder seine politischen Ämter noch seine Rolle innerhalb der Arioi wahrnehmen. Er hat sich auf seinen Tod vorbereitet. Er wollte mit sich im Reinen sein. Das war er nicht, nicht solange es dieses Zerwürfnis zwischen euch gab. Also fing er an, sich intensiver mit deiner Person zu beschäftigen. Und offensichtlich entdeckte er dabei, dass du über eine gewisse Herzensbildung verfügst, Schwesterherz. Es war daher sein ausdrücklicher Wunsch, dass ich dich in seinem Namen um Verzeihung bitte, was ich hiermit gerne tue. Wenn ich daran denke, wie häufig er aus deiner Antrittsrede in Sydney zitiert hat, er kannte sie auswendig, er war ein richtiger Fan von dir geworden. Und er war sich sicher, dass du die ideale Nachfolgerin für ihn wärst. Der Rat der Arioi hat seinem Vorschlag schon zugestimmt…”, wiederholte Omai.

Die Geschwister waren gleichermaßen benommen und erschöpft von der Anstrengung, sich der Last eines jahrelangen Zwistes zu entledigen. Daran änderte auch die Freude nichts, die sie darüber im Herzen trugen. Omai wusste nicht, wie sich Maeva entscheiden würde, er wusste nur, dass Rauuras Vorschlag der einzige Weg war, das Potenzial seiner Schwester wieder zum Erblühen zu bringen. Er blickte zu ihr hinüber. Ihre Augen waren nicht auf diese Welt gerichtet. Auch nicht auf den hinkenden Hund, der am Waldrand hin und her lief. Die Sekunden wirkten wie angenagelt, sie verrannen so qualvoll langsam, dass es ihn geradezu drängte, der Situation ein Ende zu bereiten. Er begab sich auf die Knie. Es war eine Geste, über die er keinerlei Kontrolle besaß. „Es tut mir alles sehr leid…”, flüsterte er und legte den Kopf in den Schoß seiner Schwester.
Maeva wusste, dass ihr Bruder noch nie vor einem anderen Menschen auf die Knie gefallen war und sie vermutete, dass er das auch nie wieder tun würde. Sie streichelte ihm zärtlich übers Haar. „Ich bin einverstanden”, sagte sie und half ihm auf.

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Die nächste Folge (Feuer am Fuß 04) erscheint am Montag, 9. November 2015.
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Lesen Sie die Einführung von Hans-Juergen Fink: Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß - Reality Fiction pur vom 28.10.2015 (Literatur)


Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer "Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.


Lieber Frank Schirrmacher!
Frank SchirrmacherEs war schon erstaunlich, wie schnell und schonungslos wir uns über die dramatische Situation verständigen konnten, in die sich die Menschheit manövriert hat und der sie nun hilf- und hoffnungslos gegenübersteht. Sie sprachen von der Ratlosigkeit unserer Eliten - in der Politik, im Finanzwesen, auf dem Energiesektor und anderswo. Und Sie sprachen davon, dass sich die Einsicht, auf allen Feldern gnadenlos überfordert zu sein, in der Gesellschaft inzwischen flächendeckend manifestiert habe. Besonders beeindruckt hat mich das Bild, das Sie von den handelnden Politikern entwarfen: „Sie sind Roboter in einem System, das de facto längst kaputt ist. Aber diese Leute handeln wie Elektriker, die in einem völlig herunter gekommenen Haus noch schnell eine Leitung reparieren - ohne jegliche Vision.“
Es ist dieser Mangel an Visionen, der mich erschreckt. Er ist die Unterschrift unter dem Armutszeugnis, das sich unsere Gesellschaft gerade ausstellt. Denn eine Gesellschaft, die keine Visionen entwickelt, ist nicht zukunftsfähig.
„Wir kriegen eine apokalyptische Meldung nach der anderen reingereicht und wenn man es ausspricht, gilt man als Apokalyptiker“, konstatierten Sie nüchtern. Die große Koalition der Beschwichtiger und „Klimaskeptiker“ (was für ein Wort!) hat Hochkonjunktur. In den USA haben die republikanischen Präsidentschaftsbewerber gerade unisono angekündigt, im Falle ihrer Wahl sämtliche Umwelt- und Klimaschutzgesetze unverzüglich aufzuheben. Auch bei uns werden die Freifahrtscheine in die Sorglosigkeit wieder verteilt und wir geplagten Bürger nehmen sie nur zu gerne entgegen. Die Medien spielen dieses Spiel aus ihrer „neutralen“ Position gerne mit, jedenfalls zu einem sehr großen Teil. Es war ziemlich ernüchternd zu hören, wie Sie die Rolle der Medien inzwischen einschätzen: „Nehmen wir mal an“, so sagten Sie, „der Ökozid wäre heute schon eingetreten. Dann würde es die Tagesschau morgen schon als Normalität behandeln. Es gibt diesen einen Moment gar nicht, wo man sich fragt, Haltstopp, was ist hier geschehen? Die Medien schaffen es, aus den größten Brüchen immer wieder eine Scheinnormalität zu konstruieren.“
Normalerweise reicht der zeitlich beschränkte Blick des Menschen auf die historischen Abläufe nicht aus, um ein Phänomen wie den Klimawandel erfassen zu können. In unserem Fall ist es anders: der Klimawandel ist schon längst keine Prognose mehr, wir erleben ihn quasi im Maßstab eins zu eins. Und das macht es so gefährlich, ihn politisch zu kommunizieren, weil man damit Gefahr läuft (auch darin waren wir uns einig), dass überhaupt nichts mehr passiert.
Was können, was müssten die Medien an diesem historischen Wendepunkt leisten? Ist es möglich, die Aufregung und das Aufregende unserer Zeit neu zu gewichten? Oder sind den Medien auf ewig die Hände gebunden in der gnadenlosen Gewinn- und Verlustrechnung unserer Tage?
Aber auch die Begriffe Gewinn und Verlust lassen sich neu definieren. Genau das ist es, was in den Köpfen und Herzen vieler Menschen gerade passiert. Das macht mir Mut, das lässt mich wieder träumen.
Herzlichst
Ihr
Dirk C. Fleck
Hamburg, den 9. März 2012
Auszüge aus einem Brief an den verstorbenen Herausgeber der FAZ, ). Der Brief ist in dem Buch "Die vierte Macht" (Hoffmann und Campe Verlag) enthalten

Foto: Frank Schirrmacher. Quelle: Wickipedia CC BY-SA 3.0

YouTube-Video: Holger Strohm: Friedlich in die Katastrophe

Der Speigel: Ex-Premier Kan über Fukushima-Katastrophe: "Die Frage war, ob Japan untergeht" (Ein Interview von Wieland Wagner) vom 9.10.2015

Günter Grass, 2006„Wenn wir nicht verzichten lernen, geben wir uns auf - was für diesen Erdball in letzter Konsequenz vielleicht nicht allzu viel bedeutet, weil die Spezies Mensch erst relativ kurze Zeit existiert. Es hat schon Leben vorher gegeben, und es wird nach einer Erholungspause, die diese Welt dann sicher braucht, auch wieder Leben geben. Das ist aber nicht, was wir wollen. Es wäre eigentlich ganz schön, wenn es noch gelingen könnte, mit ein paar neuen Erkenntnissen und Konsequenzen daraus neue Chancen für unsere Zukunft zu eröffnen.Ich glaube, daß Zukunft nur dann möglich sein wird, wenn wir lernen, auf Dinge, die machbar wären, zu verzichten, weil wir sie nicht brauchen. Alles andere führt uns in einen Verschleiß hinein, den am Ende auch wir, das heißt, die Industrienationen, nicht aushalten. Die Staaten der Dritten Welt gehen schon heute daran kaputt."
GÜNTER GRASS (1927 - 2015) war ein deutscher Schriftsteller, Bildhauer, Maler und Grafiker. Im Jahr 1999 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Foto: Günter Grass. Beim Häuten der ZwiebelBuchpremiere; Lesung und Gespräch Moderation: Wolfgang Herles am 4. September 2006, 20 Uhr, auf dem Blauen Sofa im Berliner Ensemble. Quelle: Wickipedia CC BY 2.0

PRESSESTIMME:
Geschickt verwebt Dirk Fleck Realität und Fiktion und lässt so einen spannungsgeladenen Ökothriller entstehen, der auch noch lehrreich ist.
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