Literatur
Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß 04

Hintergründe, Bezüge und Wissenswertes zur Arbeitsweise und zu den Informationsquellen des Autors lesen Sie bitte am Ende jeder Folge:

Der Schamane Rauura hatte Tahitis Präsidenten Omai in sein Fare auf den Te Pari bestellt, jener unwegsamen Gebirgslandschaft im äußersten Osten Tahiti Itis, die einer zivilisierten Erschließung bis heute getrotzt hatte. Das Haus lag oberhalb einer verfallenen Tempelanlage der Arioi direkt an der Steilküste über dem Trou du Diable, dem „Teufelsloch”, aus dem sich das gurgelnde Geräusch der Brandung permanent bemerkbar machte.
Die Arioi waren ein ordensähnlich strukturierter Geheimbund der Gesellschaftsinseln, der von den Missionaren im neunzehnten Jahrhundert wegen seiner freizügigen Verhaltensweisen, die alle eng mit religiösen, aber der christlichen Lehre zuwiderlaufenden Handlungen verknüpft waren, zerschlagen worden war.
Dem Orden gehörten sowohl Männer als auch Frauen an. Seine Struktur war ein Spiegelbild der hierarchischen Gesellschaft Tahitis. Es gab mehrere Grade, in die man durch Initiation aufsteigen konnte. Der Aufstieg war allerdings mit wachsenden Anforderungen verbunden. Die oberen Ränge besetzten Priester, meist nachgeborene Söhne und Töchter der höherrangigen Adelsfamilien. Auf diese Weise waren die Arioi zu einer besonderen Stütze der absolutistisch regierenden Herrscherhäuser geworden, die es dem Orden im Gegenzug erlaubten, die weltlichen und religiösen Führer ungestraft zu kritisieren.
Im Zuge des sozio-ökologischen Wandels, der von Omai im Jahre 2022 auf Tahiti in Szene gesetzt worden war, hatten sich die Arioi neu formiert. Der Bund begriff sich als „Hüter des Wissens”, als Bewahrer der Tradition. Er sah sich ganz im Sinne der Ahnen ausschließlich dem Kriegsgott Oro verpflichtet, wobei der Orden den Begriff Krieg nicht im herkömmlichen Sinne definierte. Mit Krieg war keine bewaffnete Auseinandersetzung gemeint, unter Krieg verstanden die Arioi eine spirituelle Abwehrschlacht gegen den zersetzenden Einfluss der Moderne. Rauura war ihr Ordensoberer und Präsident Omai ein ordinäres Mitglied.
Die Tür zur Hütte des Schamanen stand offen. Rauura lag mit geschlossenen Augen auf einer Bastmatte unter dem Pandanusdach, umrahmt von Schalen voller Früchte und Blumen. Omai hockte sich mit gekreuzten Beinen auf den Boden und betrachtete das Gesicht des alten Mannes, der sichtlich nach Atem rang. Sein linkes Auge ruhte in einem schwarzen Quadrat, während das rechte unterhalb eines solchen im Licht lag. Seine ganze Gestalt war mit den geheimnisvollen Symbolen der Arioi versehen, von der Stirn bis zu den Zehen. Die kunstvollen blau-schwarzen Ornamente erzählten die Lebensgeschichte des Meisters, wirkten aber jetzt wie ein dunkles Leichentuch, das man dem hageren Körper übergeworfen hatte. Rauura klopfte mit der Hand sanft auf den Boden und bedeutete Omai, ein wenig näher zu rücken.
„Mein lieber Freund”, sagte er mit brüchiger Stimme, „danke, dass du gekommen bist.” Er öffnete die Augen, während gleichzeitig ein Lächeln um seine Lippen spielte. „Meine Reise ist zu Ende, ich werde diesen herrlichen Ort demnächst verlassen und ins Reich unserer Ahnen zurückkehren.” Er versuchte, sich aufzurichten. Omai stützte ihn an den Schultern und legte ihm ein Kissen unter den Kopf.
„Bevor ich jedoch gehe”, fuhr Rauura fort, „möchte ich sicher sein, dass du mit Maeva Frieden schließt. Auch um meinetwillen. Ich habe viel und lange darüber nachgedacht, ob es richtig war, was wir getan haben. Und ja, ich stehe immer noch dazu. Ich bin sicher, dass deine Schwester auf dem Schlachtfeld der Politik gestorben wäre, wenn wir sie nicht entführt und für tot erklärt hätten.
Andererseits verstehe ich ihre Verbitterung sehr gut. Ich habe mir ihre Antrittsrede als frisch gewählte Vorsitzende der URP in der Oper von Sydney wieder und wieder durchgelesen, ich kann sie inzwischen auswendig. Und jedes Mal, wenn ich mir den Text vor Augen führe, drängt es mich, Abbitte zu leisten.
Du weißt, dass ich meine Schwierigkeiten damit hatte, unser Tahiti-Projekt ins Schaufenster der Welt zu stellen, wie es Maevas Anliegen war. Ich befürchtete, dass die zarten Pflänzchen eines neuen Bewusstseins, das sich vor dreizehn Jahren auf Tahiti zu regen begann, von der Neugier einer defizitären Welt zertrampelt werden könnten. Ich wollte verhindern, dass wir wieder als exotische Wesen betrachtet werden, die den Schlüssel zur Glückseligkeit in Händen halten.
Wir hielten noch gar nichts in Händen, Omai, wir waren wie die Menschen dort draußen: orientierungslos und schwer geschädigt durch falsche Wertvorstellungen und jahrzehntelangen Konsumrausch. Zwar hatte der konsequente Einsatz umweltschonender Technik, hatten Land- und Bodenreform, die Grundversorgung jedes Einzelnen, das neue Geld- und Steuersystem, die Umstrukturierung des Parlaments, die Investitionen in Bildung und Gesundheit, das neue Verkehrswesen, die nachhaltige Landwirtschaft und die konsequent befolgten Gesetze der Baubiologie bereits zu einer erheblichen Verbesserung unserer Lebensqualität beigetragen, aber bessere Lebensverhältnisse bedeuten nicht unbedingt eine bessere Lebensführung, wie du weißt.
Aber um genau die geht es, wenn wir wirklichen Fortschritt erzielen wollen. Es reicht nicht, einen Reva Tae auf die Magnetschienen zu setzen, Energie aus künstlichen Seeschlangen zu gewinnen, die vor unseren Küsten in der Dünung schaukeln oder auf fruchtbarer Terra Preta Nahrungsmittel anzubauen – wir müssen wieder Zugang finden zu den Wurzeln unserer Kultur. Um an unser verschüttetes Wissen zu gelangen, brauchen wir ein Vehikel, eine Piroge. Diese Piroge ist unsere spirituelle Praxis. Jeder Einzelne von uns muss erkennen, dass er selbst die Saat des Friedens in sich trägt.
Um diese Saat zum Erblühen zu bringen, müssen wir uns gegenseitig nähren. Wir müssen miteinander lachen, beten und tanzen. Der Rhythmus unserer Tänze und der Klang unserer Gesänge – das allein öffnet die Pforte in eine neue Dimension und bringt unsere Herzen in Ordnung. Die Umwandlung der Herzen ist ein subtiler Vorgang. Er braucht Zeit. Menschen werden sehr leicht rückfällig. Der alte hungrige Geist, der nichts anderes kennt als MEHR oder WENIGER, als DEIN und MEIN, gibt nicht so einfach auf. Erst wenn wir gelernt haben, jeden Moment in seiner Ganzheit zu sehen, stellen wir eine Schwingung her, die weit über Tahiti hinausgeht. Das war meine Position, deshalb habe ich Maevas Politik nicht gut heißen können …”
Omai gab Rauura von dem Wasser zu trinken, das an dessen Kopfende in einem Krug bereitstand. Seine heiseren, fast geflüsterten Worte hatten den Schamanen sichtlich angestrengt. Für eine Weile lag er mit über der Brust verschränkten Armen regungslos da, als habe er seine endgültige Position gefunden. In Wirklichkeit tankte er seinen Energievorrat mit jedem flachen Atemzug auf.
„Deine Schwester ist eine bemerkenswerte Frau”, ließ er sich nach einer Weile vernehmen. „Gleich zu Beginn ihrer Sydneyrede sagt sie, dass es in erster Linie unsere Herzen sind, die in Ordnung gebracht werden müssen, dass die Gestaltung einer besseren Welt nicht davon abhängt, wie viel umweltschonende Technik wir einsetzen und wie nachhaltig wir wirtschaften. ›Eine bessere Welt ist nur möglich, wenn wir zu einer grundsätzlich anderen Lebens- und Weltanschauung finden.‹ Das genau waren ihre Worte.
Ich habe mit Maeva darüber nie gesprochen, sie war meines Wissens auch nie bei den Zusammenkünften der Arioi dabei, wo wir uns diese Einsicht immer wieder ins Gedächtnis gerufen haben. Sie ist von alleine darauf gekommen, sie besitzt eine natürliche Herzensbildung, die mir Respekt abnötigt. Leider habe ich das erst sehr spät entdeckt, zu spät vielleicht. Deshalb möchte ich dich bitten, sie in meinem Namen um Verzeihung zu bitten. Das ist mir wichtig, hörst du?
An anderer Stelle sagt sie: „Wir fühlen uns angesichts der Wahrheiten, die es heute zu konfrontieren gilt, so klein und zerbrechlich, dass wir glauben, es würde uns in Stücke reißen, sobald wir uns erlaubten, unsere Gefühle über den Zustand der Welt zuzulassen. Aber unser Schmerz um den Zustand der Welt und unsere Liebe für die Welt sind untrennbar miteinander verbunden, sie sind zwei Seiten derselben Medaille.“ Das ist großartig, Omai, das ist beseelt.
Den Plünderern des Planeten ruft sie zu: „Man kann nur etwas beherrschen wollen, von dem man sich grundsätzlich getrennt weiß!“ Besser kann man es doch nicht ausdrücken!
Und als Konsequenz formuliert sie, was ich bedingungslos unterschreibe: ›Wir sind angetreten, um für ein neues Bewusstsein zu werben. Unser Ziel muss es sein, dass sich wieder alle Menschen der Schöpfung verbunden fühlen. Nur so ist ein dauerhafter Frieden auf und mit der Erde möglich.‹”
Rauura reagierte auf die von ihm selbst vorgetragenen Zitate Maevas mit einer Kraftanstrengung, die ihm Omai nicht mehr zugetraut hätte, jedenfalls saß er plötzlich aufrecht auf der Matte und blickte ihn aus wachen Augen durchdringend an.
„Ich möchte, dass du dem inneren Zirkel der Arioi folgenden Vorschlag unterbreitest. Sag den erlauchten Mitgliedern, dass es mein ausdrücklicher Wunsch ist, dass Maeva meine Nachfolge antritt.” Er kramte nach einem Blatt Papier, das unter der Matte versteckt lag. „Falls sie dir nicht glauben, hier hast du es schriftlich. Sie werden sich wundern, aber sie werden zustimmen. Danach ist es an dir, was du daraus machst. Geh zu deiner Schwester und überzeuge sie. Mach ihr klar, dass sie ihre politische Arbeit wieder aufnehmen kann, unter dem Schutz der Arioi und vermutlich wirkungsvoller als zuvor. Sie soll unser Netzwerk zu den Schamanen der Welt nutzen. Sie soll die Schamanen nach Tahiti einladen und sich ihnen gegenüber zu erkennen geben. Sie soll um ihre Unterstützung bitten. Sag ihr das alles, sie wird sich nicht verweigern, denn die Möglichkeiten, die sich aus so einer Allianz ergeben, sind sehr verlockend. Aber achtet darauf, dass die ordinäre Welt über ihr Schicksal im Unklaren bleibt. Das ist wichtig, lasst den Mythos arbeiten, der sich um ihre Person entwickelt hat. Und jetzt, mein Freund, jetzt lass mich sterben. Ich bin müde…”
Omai wusste, dass der Schamane von jetzt an nichts mehr sagen, nichts mehr essen und nichts mehr trinken würde. Sein Geist würde sich in der feinstofflichen Sphäre seiner Ahnen schon einmal umsehen und noch solange auf dem Te Pari verweilen, bis der ausgedörrte Körper ihn endgültig freigab. Er küsste Rauura auf die Stirn und schlich auf Zehenspitzen aus dem Haus.

Zwei Tage nach Omais Besuch war Rauura tot. Acht Arioi-Krieger hielten eine dreitätige Totenwache, anschließend wurde der Leichnam gesalbt und mit mehreren Schichten bunter Stoffbahnen umwickelt, die mit den klassischen Blumenmustern (Hibiskus- und Tiareblüten) bedruckt waren. Ein schlichtes Leinentuch umschloss den Körper, den man für die zügig anberaumte Totenfeier ins Freie gebracht hatte, wo er während der Zeremonie mit dem Rücken an einem hoch aufragenden Findling lehnte.
Neben den vierundzwanzig auserwählten Arioi, die vier Mal im Jahr von Tahiti nach Raiatea aufbrachen, um dort auf der heiligsten aller Stätten, dem Marae Taputapuatea, den geistigen Schutzschirm zu erneuern, den der Bund über Tahiti und seine Inseln gespannt hatte, war auch der Ordensobere von Raiatea selbst anwesend. Die Männer waren bis auf ihre Pareos, die sie sich um die Hüften gewickelt hatten, vollständig nackt. Sie nahmen in einem Abstand von vier, fünf Metern im Halbkreis vor dem Verstorbenen Platz.
Auch Steve, der erst vor einer Woche aus London zurückgekehrt war, durfte der Bestattung auf Einladung Omais beiwohnen, allerdings war er gebeten worden, sich im Hintergrund aufzuhalten. Gespannt beobachtete er den Aufmarsch der Haka-Tänzer, die sich Rauuras Haus aus den Ruinen der Tempelanlage näherten und sich in breiter Phalanx hinter dem Findling aufbauten, als wollten sie der Seele des Verstorbenen Rückendeckung geben.
Nachdem sie dort mehrere Minuten regungslos und still verharrt hatten, schlugen sie sich wie auf Kommando auf die Oberschenkel und schlossen sich in Viererreihen zu einer quadratischen Formation zusammen, die sich unter stakkatoartigem Gesang stampfend nach links und rechts, nach vorne und hinten bewegte. Sie tanzten den Manawa Wera-Haka, der ohne Waffen aufgeführt wurde und ausschließlich dem Tod gewidmet war. Ähnlich den Kriegstänzen, die in erster Linie der Einschüchterung des Gegners galten, handelte es sich auch hier um ein furchterregendes Schauspiel.
Steve, der eine solche Darbietung nie zuvor gesehen hatte, spürte, wie ihm die Vibration des Bodens in die Glieder fuhr. Die Tänzer agierten als ein Körper, der tausend Arme, Beine, Füße, Augen und Zungen zu haben schien, die mit bestechender Synchronizität die ganze Bandbreite der Gefühle darzustellen wussten, die der Tod in uns auslöste. Der Manawa Wera-Haka krempelte unser Innerstes nach außen. Es war eine Sinfonie aus Trauer und Zuversicht, in der dem Verstorbenen zum Schluss Mut und Glück gewünscht wurde, für die Reise ins Reich der Ahnen.
Nachdem der Tanz beendet war, trat ein Tänzer nach dem anderen vor den Leichnam, wischte sich ein paar Tropfen Schweiß von der Haut und bespritzte den Verstorbenen damit. Danach blieben die Arioi eine Weile stumm sitzen. Während Steve sich noch wunderte, auf welch unspektakuläre Weise die Zeremonie zu Ende ging, entdeckte er zwischen den Mauern der Tempelanlage eine schwarz gewandete Gestalt, die ihr Gesicht unter einem Schleier verborgen hielt. Auch Omai hatte die Gestalt entdeckt, die sich seinen Blicken noch einige Sekunden stellte, um dann den Rückzug anzutreten. Für einen kurzen Moment war er versucht, ihr zu folgen, aber dafür blieb keine Zeit.
Rauuras Körper musste in die Steilwand verbracht werden, ein kompliziertes Manöver, das unter seiner Anleitung stattfinden sollte. Sechs Krieger hatten sich bereits zwanzig Meter abgeseilt und warteten in halsbrecherischer Position auf den Leichnam, um ihn in einer der zahlreichen Nischen zur endgültigen Ruhe zu betten. Die Steilwand an der Westküste des Te Pari diente seit jeher als Grabstätte für die Ordens-Oberen. Man erkannte die Gruften an den kleinen Löchern in den Gräberwänden, die es der Seele des Toten ermöglichen sollten, sich vor bösen Geistern zu retten.
Rauuras Körper, der an sechs Tauen behutsam in die Tiefe gesenkt worden war, befand sich bereits in der Höhle. Die Arioi auf der Plattform rührten Lehm an, der den Kriegern in der Wand in Eimern zugeführt wurde. Nach drei Stunden war die Nische versiegelt und das Seelenloch freigeschlagen. Jetzt war es an dem warmen Westwind und der Sonne, das Grab für Jahrhunderte festzubacken.

Der hundertzwanzig Kilometer lange Rundkurs des Reva Tae war um einen entscheidenden Streckenabschnitt erweitert worden. Die gläsernen, auf einer Magnetspur dahin schwebenden Kabinen verkehrten jetzt auch zwischen dem an der Taille Tahitis gelegenem Taravao die Nordküste Itis entlang über Nutae, Pueu bis nach Tautira im äußersten Westen.
Bevor Steve sich von der Endstation ins Vaiami-Tal zum ehemaligen Gästehaus der Regierung aufmachte, in dem Maeva wohnte, hockte er sich auf den schwarzen Lavastrand und blickte hinaus in die malerische Bucht, in der einst die Bounty ankerte. In der Strömung des gurgelnden Flusses, der sich fünfzig Meter weiter ins Meer ergoss, ritten die jungen Dorfbewohner ihre Kanus in den Ozean. Es war faszinierend zu sehen, wie sie die bockenden Boote in dem wilden Wasser immer wieder gekonnt ausrichteten. Ihre begeisterten Schreie wirbelten wie akustische Flocken durch die Luft. Steve, der seiner Begegnung mit Maeva mit einiger Nervosität entgegen sah, saugte die fröhliche Atmosphäre in sich auf, bis er sich entspannt genug fühlte, um den Weg durch das Tal anzutreten.
Nach einem einstündigen Fußmarsch hatte er sein Ziel erreicht. Er watete durch den flachen Fluss ans andere Ufer und näherte sich behutsam dem weißen Haus, das viel größer war, als er es in Erinnerung hatte. Die Terrassentür stand offen, der aus Pandanus geflochtene Liegestuhl war mit bunten Kissen bestückt und auf dem Tisch lag ein aufgeschlagenes Buch.
Steve verließ die Terrasse und ging ums Haus. Er fand Maeva im rückwärtigen Garten, sie stand auf einer Leiter unter einem Brotfruchtbaum, den sie gerade aberntete. „Iaorana!”, rief er. Maeva drückte die Zweige beiseite, stieß einen spitzen Schrei aus und ließ sich in Steves ausgebreitete Arme fallen. Ihre Lippen betupften sein Gesicht, sie tanzten von der Stirn bis zum Hals und wieder zurück, während ihr Haar ihm über die Haut fuhr. Es fühlte sich an, als würde er mit Schmetterlingsflügeln gepeitscht. Schließlich zog sie ihn ins hohe Gras, wo sie sich wie übermütige Kinder eng umschlungen zur Seite rollten. Dann sprang Maeva auf, griff sich den Korb mit den reifen Früchten und eilte ins Haus. Steve war von der zärtlichen Attacke sichtlich benommen und so setzte er sich auf die Terrasse und harrte der Dinge, die da kommen sollten.
Maeva ließ nicht lange auf sich warten. Sie hatte sich nur kurz umgezogen, trug statt der Shorts jetzt einen rot-weißen Pareo. Über dem linken Ohr steckte eine Hibiskusblüte im Haar. An ihr tätowiertes Gesicht hatte sich Steve inzwischen gewöhnt, schließlich waren Rudolf und er auf Rapa Iti vor fünf Jahren ja Zeugen dieser merkwürdigen Verwandlung geworden, mit der sie sich eine neue Identität geschaffen hatte.
„Warst du auf Rauuras Beerdigung?”, fragte er, um das aufgeladene Schweigen zu beenden.
„Du hast mich doch dort gesehen”, antwortete sie.
„Ja”, sagte er, „Omai hat dich übrigens auch gesehen.”
Was redete er da? Durch die Erwähnung ihres Bruders nahm das Gespräch eine Richtung, die ihr nicht gefallen konnte. Also legte er die makellose schwarze Perle auf den Tisch, die er morgen der Maeva-Gedenkstätte überreichen würde, welche sich im rekonstruierten Palast der Königin Pomare IV. befand, wo sämtliche Zeugnisse von Maevas Wirken dokumentiert waren. Unter anderem war dort die Perlenkette zu besichtigen, die Maeva erstmals auf einer Kundgebung im deutschen Dithmarschen trug und die fortlaufend Auskunft darüber gab, wie viele Regionen sich der URP angeschlossen hatten. Diese hier symbolisierte die uruguayische Region Artigas, die der Organisation als tausendstes Mitglied beigetreten war. Das teilte er ihr mit, ohne übermäßig zu triumphieren.
„Die Ernte Maevas” – unter diesem Motto wurde die Kette in Papeete ausgestellt. Steve wurde mit einem Mal bewusst, wie unerträglich dieser Frau der Gedanke sein musste, von aller Welt als historische Person betrachtet zu werden. Besonders schmerzhaft muss die Tatsache gewesen sein, dass ihre Landsleute, deren Präsidentin sie einmal war, sie ebenfalls im Reich der Toten wähnten, während sie quicklebendig unter ihnen lebte. Die Plakate, auf denen sie zitiert wurde und die man in der Hauptstadt Papeete, entlang der Straßen und in vielen anderen Dörfern rund um die Insel fand, mussten auf sie ebenso gespenstisch wirken wie die großflächigen Fotos, auf denen sie zur Ikone stilisiert worden war.
Maeva nahm die Perle vom Tisch und schloss sie in ihrer Faust ein, mit der sie gedankenverloren an die Lippen stieß. Dabei füllten sich ihre Augen mit Tränen, die auf dem Weg durch die tätowierte Landschaft ihres Gesichts zwei glitzernde Spuren hinterließen. Steve schnürte es die Kehle zu, er drückte seine Stirn an ihre und streichelte ihr Haar. „Tausend Mitglieder”, sagte Maeva leise, „das ist schön …”
„Bekommst du eigentlich mit, was in der Welt passiert?”, fragte Steve und ärgerte sich erneut über die Plumpheit seiner Frage.
Maeva lächelte. „Stell dir vor”, sagte sie, „letzte Woche bekam ich Besuch von zwei Technikern, die mir einen Computer installiert haben. Sie meinten, sie kämen im Auftrag des Präsidenten, dies sei schließlich das Gästehaus der Regierung und das gehöre nun einmal ans Internet angeschlossen. Reizend, findest du nicht? Aber ich muss gestehen, dass ich bisher noch keinen Gebrauch davon gemacht habe. Auch nicht von dem G-Com, das sie mir hier gelassen haben und auf dem alle wichtigen Nummern gespeichert sind, einschließlich der von Steve Parker …”
Auf der Ablage unter dem Tisch entdeckte Steve zwei Ausgaben des EMERGENCY-Magazins, er gab sich jedoch alle Mühe, seine Entdeckung zu verbergen. Aber sein Gehirn spielte ihm einen Streich. Plötzlich hörte er sich von seiner Begegnung mit den Verlagsmanagern des Matlock-Konzerns erzählen, die einer Fortsetzung von „Maevas Reise” auf „EMERGENCY TV“ eher skeptisch gegenüberstanden.
„Übrigens”, schloss er, „habe ich in London erfahren, dass Cording wieder aufgetaucht ist. Die Polizei hatte ihn in Moskau aufgegriffen, sein Zustand muss ziemlich jämmerlich gewesen sein. Bei meiner Abreise soll er sich im Ferienhaus von Mike Kühling in Tirol befunden haben.”
Jetzt war es raus. Endlich. Maeva, die ihm in Ruhe zugehört hatte, kommentierte die Nachricht mit keinem Wort. Stattdessen fragte sie ihn, ob er nicht Lust hätte, über Nacht zu bleiben. Sie würde ihnen ein köstliches Popoi-Essen bereiten. „Du könntest mir dabei helfen”, sagte sie, „die Brotfrucht muss mit Feuer in Berührung kommen. Am einfachsten ist es, sie direkt in die Glut zu legen. Nach fünfzehn Minuten wird die Schale braun und platzt. Dann gewinnt man das weiche, weiße Popoi in seiner reinsten Form. Wenn es so gegessen wird, hat es ein mildes und angenehmes Aroma.”
Den Namen Cording, das war Steve während dieser kurzen Kochanleitung klar geworden, sollte er besser nicht mehr in den Mund nehmen. Maeva nahm seine Hand und führte ihn ins Haus. Aber nicht etwa in die Küche, sondern ins Schlafzimmer. Sie streifte den Pareo von den Hüften und legte sich aufs Bett. „Komm…”, sagte sie und breitete die Arme nach ihm aus. Steve entledigte sich nun ebenfalls seiner Kleider.
Maeva benahm sich wie eine in ihrer Liebe verletzte Tigerin, katzenhaft und wie niedergestreckt. Sie führte ihn in das Reich der Goldmünder, der rauschenden Wasserfälle, deren glitzernde Kaskaden dem Besinnungslosen fortwährend neue Leuchtbilder produzierten, von denen sich keines wichtiger nahm als das andere. Die Ewigkeit gab ein Gastspiel im Theater der Vergänglichkeit und er saß im Parkett, erste Reihe, Mitte. Auf der Bühne das gezeichnete Mädchen… Und dann endlich geschah, was geschehen musste. Da war es, das zarte, androgyne Gesicht, das Gesicht der reinen Ekstase, die in den Himmel der Wollust blickenden Augen. Steve wusste, dass dieses Geschenk ein Racheakt an Cording war, aber nun war es geschehen. Dampfend und schweigend schliefen sie ein.

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Die nächste Folge (Feuer am Fuß 03) erscheint am Freitag, 6. November 2015.
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Lesen Sie die Einführung von Hans-Juergen Fink: Dirk C. Fleck: Feuer am Fuß - Reality Fiction pur vom 28.10.2015 (Literatur)

Hintergründe - Bezüge - Wissen

KulturPort.De bietet den Lesern zu jeder Folge Hintergrundwissen in einer "Fact Box" an, die jeweils gemeinsam mit der Autor zusammengestellt wurde. Damit soll Einblick gegeben werden in die Arbeitsweise Dirk C. Flecks sowie seine historischen und aktuellen Bezüge sichtbar gemacht werden, um den realen Kontext besser zu verorten.

Dirk C. Fleck wurde 1943 in Hamburg geboren. Nach dem Studium an der Journalistenschule in München volontierte er beim Spandauer Volksblatt in Berlin und war Lokalchef der Hamburger Morgenpost. Er war Redakteur bei Tempo und Merian, seit 1995 ist er als freier Autor für die Magazine Spiegel, Stern und Geo tätig und schreibt für die Welt und die Berliner Morgenpost. Er ist Autor des Öko-Thrillers Palmers Krieg (1992) sowie des Zukunftsromans GO! Die Ökodiktatur (1996), für den er bereits schon einmal den deutschen Science-Fiction-Preis erhielt. Dirk C. Fleck lebt und arbeitet in Hamburg.


YouTube-Video zu einer Welt im Gleichgewicht: Dirk C. Fleck über den Equilibrismus

Die Arioi waren eine ordensähnlich strukturierte Geheimgesellschaft der Gesellschaftsinseln, insbesondere der Insel Tahiti, mit hierarchischer Gliederung, esoterischer Heilslehre und kultischen und kulturellen Funktionen. Ihr gehörten sowohl Männer als auch Frauen aller gesellschaftlichen Schichten an, wenn auch die Zahl der Männer überwog. Die besondere Verehrung der Arioi galt dem Kriegsgott Oro, den sie als Begründer ihres Ordens ansahen.
In den Bund konnten Angehörige aller Gesellschaftsschichten aufgenommen werden. Betrachteten die Arioi den Kandidaten als passend, war er aufgenommen. Ausschlaggebend waren dabei vor allem körperliche Schönheit, Kenntnis religiöser Texte und Geschicklichkeit in der Rezitation, im Tanz und der Pantomime.
Mit der Initiation erwarb das Neumitglied das Recht, Tätowierungen zu tragen, beginnend mit einem ringförmigen kleinen Muster um den Fußknöchel. Mit dem Aufstieg in höhere Ränge wurden die Tätowierungen immer kunstvoller und umfangreicher.
Die Arioi lebten, solange sie nicht verheiratet waren, in geschlechtlicher Ungebundenheit, ein Verhalten, das den prüden Missionaren des 19. Jahrhunderts besonders anrüchig erscheinen musste. Nach Begründung einer ehelichen Gemeinschaft endete die Promiskuität. Die Verbindungen der Arioi mussten kinderlos bleiben, in einer Gesellschaft, deren Religion wesentlich von Fruchtbarkeitskulten geprägt war, eher ein Widerspruch. Wurde ein Kind erwartet, wurde es abgetrieben oder sofort nach der Geburt getötet. Der hauptsächliche Grund für Kindstötungen war das Bestreben, Nachkommen von höhergestellten Personen mit solchen niedrigeren Standes zu verhindern, um die Herrscherlinien „rein“ zu erhalten.
Quelle: Wikipedia

CC BY-SA 2.0 fr„Der Mensch ist die dümmste Spezies. Er verehrt einen unsichtbaren Gott und tötet eine sichtbare Natur, ohne zu wissen, dass diese Natur, die er vernichtet, dieser unsichtbare Gott ist, den er verehrt.“
HUBERT REEVES (*1932) ist ein kanadischer Atom- und Astrophysiker

Foto: Hubert Reeves performing in Mozart et les Étoiles in Lausanne. Photograph made possible by the kind authorisation of Art-en-Ciel. Quelle: Wikipedia CC BY-SA 2.0 fr



PRESSESTIMME
"Maeva!" ist kein folkloristisches Klimarührstück, sondern ein Steinbruch der Inspiration. Fleck positioniert sich mit dem Buch auf der Seite jener, die nicht an eine praktisch-technologische Lösung glauben, sondern die Lösung nur in radikalem Mentalitätswandel und Konsumverzicht sehen.
taz