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Axel atmete tief, wie ihm geraten worden war, lehnte sich brav an die Kirchenmauer und blickte nach oben. Das brachte ihn auf eine Idee: „Du, Yaya, können wir bitte auf den Michel steigen?“
„Das hier ist nicht der Michel!“, antwortete Jan entsetzt.
„Weiß ich. Aber Lucas Vater ist mit ihm auf den Michel. Das muss cool sein. Kann man runter gucken und alles sehen, die Alster und so…“
Jan blickte auf seine Uhr. „Dann müssen wir wieder ein Taxi nehmen. Wenn wir zu Fuß zum Michel laufen, ist es stockfinster, bis wir oben sind.“
„Macht nichts. Sieht man Lichter, oder?“
„Wahrscheinlich ist dann schon geschlossen“, antwortete Jan ergeben.
Der Aufstieg auf den Turm der Michaeliskirche kostete Geld, eine ganze Menge sogar. In Jans Kopf klickerte fortgesetzt eine Rechenmaschine, die alle Investitionen von den Sechzigtausend abzogen. Bis jetzt schien immer noch ein kleiner Gewinn dabei raus zu springen.

Axel wollte nicht mit dem Fahrstuhl nach oben: „Nach dem ganzen Eintrittsgeld, das wir bezahlt haben, müssen wir auch die Treppen ausnutzen!“ sagte er und hüpfte fröhlich voran. Für seine kleinen Füße besaßen die schmalen Stufen das richtige Maß. Jan musste vorsichtig seitwärts gehen. Immerhin konnte er so begründen, dass er immer langsamer wurde.
„Aber runter fahren wir Fahrstuhl, okay?“
„Mal sehen!“, rief Axel, weit voraus.

Irgendwann hatte Jan es geschafft. Er schnaufte diskret kleine Wölkchen in die kalte Luft. Axel rannte von hier nach da, drängelte sich durch andere Touristen nach vorn und verkündete, was er alles erblickte.
Jan litt zwar ein wenig an Höhenangst – da er jedoch seine Brille nicht trug, sah er die Stadt von oben nur sehr verschwommen, da machte es weniger aus. Deutlicher konnte er die rosa, pinkfarbenen und violetten Wolkenschlieren im Westen erkennen, über die sich alle freuten: „Nein, ist das schön!“
Axel zeigte aufgeregt: „Guck mal, Yaya, da unten ist der Weihnachtsmarkt, da hinten hab ich hinge…“
„Tatsächlich!“, bestätigte Jan. Er schlug wieder den Mantelkragen hoch und erkundigte sich: „Ist dir auch nicht kalt? Hier zieht es ganz enorm! Setz mal deine Kapuze auf, Axel…“
Zu seiner Überraschung gehorchte der Junge, bevor er zur anderen Turmseite lief. Eine ältere Frau neben ihm blickte dem Kleinen lächelnd hinterher. „Den haben Sie nett erzogen. Es geht also doch, mit Liebe, stimmt’s? Der sieht Ihnen aber auch ähnlich, obwohl er so blond ist“, bemerkte sie freundlich.
Jan nickte verlegen und spazierte steif hinter Axel her. Wenn die Tante wüsste, dass er selbst in Wirklichkeit auch blond war…

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