Literatur
Sascha Arango zu Gast beim Harbour Front Literaturfestival

Als Drehbuchautor prägt Sascha Arango seit Jahren den Kieler „Tatort“ – der internationale Durchbruch gelang aber erst jetzt mit dem Roman „Wahrheit und andere Lügen“.
Zum Gespräch über eine filmreife Erfolgsstory, Angst, Feigheit, Gewalt und das Böse an sich traf sich der Autor mit Isabelle Hofmann in Berlin. Sascha Arango ist Gast beim Harbour Front Literaturfestival in der Hansestadt.

Isabelle Hofmann (IH): Herr Arango, auf der Frühjahrs-Buchmesse in London wurde „Wahrheit und andere Lügen“ nach Amerika, Japan und Russland verkauft. Noch am ersten Abend rief Hollywood an und machte Ihnen ein Angebot auf die Filmrechte. Das hört sich ebenso phantastisch an wie die Geschichte Ihres bösartigen Helden, des Bestseller-Autors Henry Hayden.

Sascha Arango (SA): Ja, unglaublich. Diese Ähnlichkeit ist tatsächlich ein bisschen verwirrend. Wobei: Ich habe ja nie etwas anderes gemacht als geschrieben.

IH: Ihr Henry ist ein Hochstapler, er kann gar nicht schreiben. Plagen Sie derartige Ängste?

SA: Absolut! Henry ist die Verarbeitung meiner innersten und tiefsten Ängste.
Seit ich mein erstes Hörspiel geschrieben habe, denke ich immer, irgendwann kommen sie mir drauf, dass ich gar nichts kann, dass ich gar nichts weiß und das Buch gar nicht selber geschrieben habe. Das sind wohl die Ängste vieler Autoren.

IH: Henry geht über Leichen, dabei hat er durchaus sympathische Züge. Eigentlich ein ganz durchschnittlicher Typ, oder?

SA: Henry ist der klassische Mann, der mit seiner Natur zu kämpfen hat, mit seinen Wünschen und mit seiner Feigheit. Feigheit ist ein großes Problem bei Männern. Schwer einzugestehen. Deshalb lügen Männer. Henry sagt selbst: Der größte Feind des Mannes ist er selbst, der größte Feind der Frau ist eine andere“.

IH: Die andere ist Henrys Geliebte. Ihr gegenüber hält er in den entscheidenden Momenten den Mund und lässt damit jede Menge Spielraum zu Fehlinterpretationen. Wann haben Sie das letzte Mal aus Feigheit geschwiegen?

SA: Neulich.

IH: Und warum?

SA: Um unbequeme Auseinandersetzungen zu vermeiden. Der Mann fürchtet sich vor der Reaktion der Frau. Vor allem, wenn sie moralischer Natur sind.

IH: Liefen Sie auch mal Gefahr ein Verbrechen zu begehen?

SA: Ja, einmal. Da war ich so gereizt, dass ich befürchtete, der Person etwas anzutun. Ich habe selbst die Polizei gerufen, um mich vor der Straftat zu schützen. Die hat mich aber nur an den psychologischen Dienst verwiesen und dort lief der Anrufbeantworter.

IH: Sie haben immerhin die Kurve gekriegt. Henry schafft das nicht. Was unterscheidet ihn von anderen?

SA: Im Prinzip erst einmal nichts. Millionen anderer Männer waren auch in Heimen, hatten auch eine schwere Kindheit. Um eine Straftat zu begehen, muss man eine Reihe moralischer Instanzen überwinden. Und sei es nur die Angst vor der Strafe. Das ist zwar keine moralische Instanz, aber wirkungsvoll. Wir zahlen Steuern, fahren 50 Kilometer die Stunde und zögern, die Hand gegen jemanden zu erheben – alles nur aus Angst vor Strafe. Ein Psychopath hat diese Schranken nicht.

IH: Woran merkt man, ob jemand den Zaun der Moral überwindet?

SA: Der Kanadier Robert D. Hare hat dazu eine Checkliste entwickelt. Charakteristisch sind zum Beispiel die totale Distanz zu den Taten und die völlige Gleichgültigkeit mit den Opfern. Das reicht bis zu Aussagen: „Der wird mir noch dankbar sein, dass ich ihn getötet habe“.


IH: Sie haben sich auf psychisch Kranke spezialisiert, das wurde auch bei ihren jüngsten drei Kieler „Tatorten“ deutlich. Ich habe zu Ihrer Vorliebe eine Vermutung: Sie hatten 1998 einen Unfall, Ihnen ist ein Ast auf den Kopf gefallen. Danach litten Sie zwei Jahre lang unter epileptischen Anfällen. Verarbeiten Sie in den Geschichten Ihre eigene Nervenkrankheit?

SA: Figuren mit dunkler, destruktiver Kraft haben mich schon als kleiner Junge fasziniert. Der Unfall hat jedoch meine Sicht auf diese Figuren geändert. Ich habe begriffen: Man kann den Menschen am besten aus seiner Schwäche heraus begreifen. Auch die Hirnforschung lernt am besten aus defekten Gehirnen, wie unser Gehirn funktioniert.

IH: Sie haben Borowskys Partnerin, Sarah Brandt, als Epileptikerin angelegt – um etwas Persönliches in die Figur hineingeben?

SA: Ich habe ihr die Epilepsie gegeben, weil ich nach einem Grund suchte, warum sie Polizistin geworden ist. Sie hat den Beruf gewählt, um gegen ihre eigene Schwäche anzukämpfen.

IH: War ihnen klar, dass Sie mit der Figur auch öffentlich Aufklärung leisten?

SA: Nein, das ist mir erst später bewusst geworden. Ich bin aus allen Wolken gefallen, als ich hörte, dass Epilepsie ein Tabuthema ist. Viele Epileptiker schämen sich für ihre Krankheit und verheimlichen sie. Dass plötzlich acht Millionen Menschen das Problem im „Tatort“ sahen, war unbeabsichtigt beste Öffentlichkeitsarbeit.

IH: Ihre „Tatorte“ sind vielmehr Psychodramen als Krimis. Die Frage „wer ist der Mörder?“ spielt keine Rolle. Und das Motiv…

SA: …erklärt sich en passant. Nein, die entscheidende Frage ist „was wird der Täter als nächstes tun?“ Hier stecken die großen Überraschungen.

IH: Und meistens keine guten. Woher kommt das Böse Ihrer Meinung nach?

SA: Das Böse ist ein Potential in uns allen. Ob es befreit wird oder nicht kommt auf die Umstände an.

IH: Hirnforscher vermuten das Böse auch in einem Defekt des vorderen Stirnlappens, welcher die Fähigkeit zum Mitleid abschaltet. Danach hätte allerdings halb Nazi-Deutschland diesen Defekt gehabt und heute sämtliche Terrorgruppen im Nahen Osten.

SA: Ja, das stimmt. Man kann Mitleid auch mit anderen Mitteln unterdrücken, siehe „Hitlers Helferinnen“ von Wendy Lower. Auch Frauen haben im Dritten Reich reihenweise Kinder getötet und glaubten, etwas Gutes zu tun.

IH: Das glauben die Terroristen in Syrien und Nord-Irak offenbar auch.

SA: Da ist das Böse komplett entfesselt. Eine Katastrophe für die islamische Welt mit dem Terror gleichgesetzt zu werden. Die meisten sind friedlich und entsetzt wie wir. Wir müssen eine Antwort auf den Terror finden. Gerade in Deutschland.

IH: Warum gerade hier?

SA: Weil die Deutschen nach der kollektiven Schuldabarbeitung so vorsichtig darauf bedacht sind, sich nicht in Konflikte hineinziehen zu lassen. Wir können uns aber nicht mehr heraushalten mit der Begründung, wir haben schlechte Erfahrungen gemacht.

IH: Hannah Arendt sprach von der Banalität des Bösen…

SA: Ja. Gleichgültigkeit, das wissende Wegschauen ist eine eklatante Form des Bösen. Menschen, die einem Hund nichts zuleide täten, sind imstande, Frauen und Kinder zu töten, wenn sie den Befehl dazu erhalten. Durch den Befehl gibt ein Mensch, der gelernt hat, Befehlen zu folgen, seine innere moralische Abwehr auf. Das bewies ja auch das Milgram-Experiment: Eine Testperson sollte eine andere befragen und bei falscher Antwort mit einem Stromschlag bestrafen. Bei jedem Fehler erhöhte sich die Intensität – bis zum tödlichen Schlag.

IH: Alle Probanden haben brav mitgemacht.

SA: Genau. Nur, weil eine Autorität ihnen sagte, es sei wichtig für ein wissenschaftliches Experiment. Die Testperson wusste natürlich nicht, dass der „Schüler“, den er da gerade folterte, nur ein Schauspieler war.

IH: Das Experiment wurde 1961 in den USA durchgeführt. Dieses Phänomen ist also nicht spezifisch deutsch.

SA: Nein. Deutschland war besonders anfällig, hier gehörte das Befehlen traditionell zum guten Ton. Aber die Asiaten sind dafür noch empfänglicher. Nach dem katastrophalen Schiffsunglück in Südkorea steht die Befehlskultur dort gerade zur Debatte. Die Kinder auf der sinkenden Fähre hatten den Befehl, auf ihren Plätzen zu bleiben. Wären sie losgerannt, wären sie vielleicht noch am Leben.

IH: Daran mag man gar nicht denken. Wie gut, dass unsere Kinder mittlerweile den Mut zum Ungehorsam aufbringen.

SA: Wir müssen unsere Kinder so erziehen, dass sie den Mut haben, sich ihres eigenen Verstandes zu bedienen. Nur so können wir sie auch gegen das Böse immunisieren. Fairness und Toleranz sind erlernbar.

IH: In den „Tatorten“ geht das nicht ohne Leichen. Haben Sie eine Erklärung, warum Krimis und Horrorfilme bei uns so ungemein beliebt sind?

SA: Ja, definitiv. Horror und Verbrechen als Unterhaltung ist das Kennzeichen einer vollversicherten Gesellschaft, die genug Zeit und Muße hat, sich die hässlichen Dinge anzuschauen. Die Franzosen schauen übrigens nicht so viele Krimis. Eine gewisse Tendenz zur Gewalt ist schon in der deutschen Gesellschaft vorhanden. Der „Tatort“ vereint alle Generationen. Mord und Totschlag als Familienprogramm am Sonntagabend – da kann sich jeder seinen eigenen Reim darauf machen. Und ich bin einer der Profiteure dieses voyeuristischen Zuschauerverhaltens.

IH: Es ist aber auffallend, dass Sie in Ihren Geschichten weitgehend auf die Ausschmückung von Gewalt verzichten. Ganz bewusst?

SA: Ich habe überhaupt keine Lust auf blutige Details. Es geht mir um etwas anderes: Um die Auswirkung von Schuld. Den entscheidenden Augenblick überlasse ich am liebsten dem Leser. Spannung entsteht durch Informationsentzug. Das wichtigste am Schreiben ist das Weglassen.

IH: Sie leben in einem kleinen Dorf in Brandenburg. Recht einsam, vor allem nachts. Das Käuzchen ruft, der Hund schlägt an. Haben Sie keine Furcht?

SA: Manchmal schon. Deshalb liegt die Machete neben dem Bett.


Sascha Arango liest „Die Wahrheit und andere Lügen" am 20.9. beim Harbour Front Literaturfestival Hamburg - Moderation: Max Moor
in der Kühne Logistics University, Großer Grasbrook 17, Hamburg HafenCity
Beginn: 20 Uhr
Das ganze Programm des Harbour Front Literatur Festival


Abbildungsnachweis:
Header: Sascha Arango. © C. Bertelsmann