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Leonardo da Vinci zur Vieldeutigkeit des menschlichen Ausdrucks

Das Gesicht ist das Wichtigste: In seinem Buch „Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks“ beleuchtet Stefan Diebitz die Erkenntnisse des Malers zur Porträtmalerei und knüpft daran seine Gedanken zur Moralphilologie an.
Was sagt uns das menschliche Gesicht? Was sagt es über das Wesen eines Menschen, wie lässt es uns ein Gegenüber wahrnehmen und beurteilen? Diese grundlegenden Fragen, die wir täglich in unserer Alltagspraxis des menschlichen Miteinanders bewältigen, sind, so die These von Stefan Diebitz, von der Philosophie bisher sträflich vernachlässigt worden. Mit seinem populärwissenschaftlichen Werk „Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks“ möchte der Autor diesem blinden Fleck der Forschung Abhilfe schaffen.

Immerhin sei der Ausdruck „buchstäblich ein elementares Phänomen – er spielt bei praktisch Allem, was wir tun und lassen, eine wesentliche Rolle, und diese Rolle ist umso wichtiger, je weniger bewusst wir diesen Ausdruck wahrnehmen“, so Diebitz. Bei seinen Überlegungen zum Verständnis und Interpretieren des menschlichen Ausdrucks findet er unter anderem Inspiration beim Universalgelehrten Leonardo da Vinci.

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„Lasse niemals zu, daß der Kopf auf dieselbe Seite gedreht ist wie die Brust, und den Arm wende nie in dieselbe Richtung wie das Bein; und wenn der Kopf zur rechten Schulter gewendet ist, laß ihn auf der linken Seite tiefer stehen als auf der rechten; und wenn du die Brust nach vorne gewölbt machst, dann lasse, wenn der Kopf nach links gewendet ist, die Körperteile auf der rechten Seite höher liegen als die auf der linken“, so hat es Leonardo da Vinci es als Anweisung an die Porträtmalerei formuliert. Damit, so glaubt es Stefan Diebitz, hat der italienische Malerei eine ganz elementare Erkenntnis zur metaphysischen Philosophie des Ausdrucks formuliert: Nämlich dass die Lebendigkeit und Intensität des menschlichen Ausdrucks erst durch eine grundsätzliche Gegenläufigkeit entsteht, aus zwei zueinander entgegengesetzten Bewegungen. Die Einsicht Leonardo da Vincis markiert für den Autor so einen entscheidenden Wendepunkt hin zur Erfassung des menschlichen Wesens an sich: Die beiden gegenläufigen Bewegungen repräsentieren die Zurückdrängung bzw. Zähmung des animalischen Triebs zugunsten des selbstreflexiven, selbstbezogenen und Ich-formenden Willens. Die Gegenläufigkeit des Ausdrucks entdeckt Diebitz vor allem in da Vincis Bild „Dame mit dem Hermelin“ von 1489/90, die nicht mehr im Stil der maskenhaften Unbeweglichkeit vorhergehender Porträtkünstler gemalt ist, sondern durch ihre angedeutete Bewegung fast „unheimliche Lebendigkeit“ gewinnt, so der Autor. Ähnliches beobachtet er beim „Bildnis des Oswald Krel“, 1499 von Albrecht Dürer, und Michelangelos „Kreuzigung des Apostels Petrus“, das zwischen 1545 bis 1550 entstanden ist.

Aber auch wenn Stefan Diebitz das Bild Leonardos als ein solches bezeichnet, „dessen Bedeutung überhaupt nicht überschätzt werden kann“: Dem Leser erschließt sich die Sensationshaftigkeit der Erkenntnis nicht zwingend. Das mag schon daran liegen, dass der Autor von seinen 265 Seiten starken philosophischen Überlegungen rund 170 Seiten braucht, bis er überhaupt ausführlich auf Leonardo da Vinci zu sprechen kommt, und sich dann nur erstaunlich knapp mit dem Altmeister auseinandersetzt. Das Zitat zum menschlichen Ausdruck aus den Schriften Leonardos, das Diebitz als Aufhänger seiner Thesen dient, wird zwar gleich mehrfach wiedergegeben, verstärkt sich dadurch aber nicht wirklich in seiner Aussagekraft. Weitere verbürgte Lehranweisungen Leonardo da Vincis, zum Beispiel, dass zum gelungenen Erfassen des menschlichen Ausdruck auch das Decorum zu wahren sei, sprich der Gesamtzusammenhang alles Gezeigten wie Gebärden, Kleidung und Ort, scheinen der Argumentation ebenfalls keine wirklich überraschenden Erkenntnisse hinzuzufügen.

Ist man gewillt, über diesen Aspekt hinwegzusehen und sich stattdessen auf das Gedankenspiel zum menschlichen Ausdruck einzulassen, so muss Diebitz eine umfassende Einarbeitung in den philosophischen Grundkanon zugute gehalten werden, der von Nietzsche, Kant, Cassirer über Descartes zu Heidegger, Husserl und vielen weiteren bekannten Namen aufgespannt wird. „Wahrscheinlich“, so mutmaßt der Autor eingangs, „sind es zwei Gründe, die es verhindern, daß die heutige Philosophie dem Ausdruck gerecht werden kann. Zunächst sind alle Ausdrucksphänomene wesenhaft uneindeutig, sie sind schillernd, changierend und oft sogar widersprüchlich […]. Dazu kommt eine empiristische Grundeinstellung, die von atomistischen Sinneseindrücken ausgeht, aus denen sich unsere sinnliche Erkenntnis zusammensetzt“ (S. 19f.). Will sagen: Statt den menschlichen Ausdruck als Vielfalt lebendiger sinnlicher Wahrnehmung zu begreifen, haben vorhergehende Philosophen das Erleben und Erfahren des Gegenübers auf den bloßen Austausch von einzelnen Informationen degradiert. Wiederholt weißt Stefan Diebitz dagegen auf den mehrschichtigen Prozess der Wahrnehmung und der gleichzeitig stattfindenden – emotionalen wie kognitiven – Interpretation des Gegenübers nach optischem Erscheinungsbild und seines Wesens hin, ein Vorgang, der durch komplex ineinander verflochtene Sinneseindrücke gekennzeichnet ist. Dies als validen Ausgangspunkt seiner Überlegungen nehmend, bleiben die im Ansatz durchaus vielversprechenden Überlegungen des Autors jedoch fast durchweg oberflächlich und streifen den zugrundeliegenden philosophischen Wissensschatz nur flüchtig. Stattdessen wird das Geschilderte in fast schmerzhafter Sprunghaftigkeit mit einem bunten Sammelsurium aus Werk-Zitaten der Literatur und Kunst (und weiteren Quellen) angereichert, die den je angeführten Thesen gefügig gemacht werden, wobei der Autor auch vor persönlichen Anekdoten und Allgemeinplatz-Behauptungen nicht zurückschreckt. Was hier möglicherweise der Leserfreundlichkeit dienen soll, hinterlässt ein eher unbefriedigendes Leseerlebnis: Für den Laien wird die Lektüre durch die Dichte der angeführten Primär- und Sekundärquellen zur Herausforderung, für den fachkundigen Leser zur fast banalen Aneinanderreihung von Wissensfragmenten, die einen roten Faden der Argumentation über weite Strecken des Buchs vermissen lässt.

Stefan Diebitz: Leonardos Entdeckung. Eine Philosophie des Ausdrucks. Zug (Schweiz): Die Graue Edition, 2012. ISBN: 978-3-906336-60-2. Preis: 26 Euro.


Abbildungsnachweis:
Header: Detail aus Leonardo da Vinci „Dame mit dem Hermelin“, 1489/1490 Öl und Tempera auf Holz, 54,7x40,3 cm. Czartoryski-Museum, Krakau
Galerie:
01. Buchcover
02. Albrecht Dürer „Bildnis des Oswald Krell“, 1499, 71x50 cm Alte Pinakothek München
03. Leonardo da Vinci „Dame mit dem Hermelin“, 1489/1490 Öl und Tempera auf Holz, 54,7x40,3 cm. Czartoryski-Museum, Krakau