Kultur, Geschichte & Management
Rund 400 Gäste kamen zum „wildWECHSEL– Salon für die Kreativwirtschaft“ in das Oberhafenquartier.

Ganz genau am ersten wirklich ungemütlichen Abend dieses Novembers – wenn auch mit malerischem Vollmond – fand er statt, der ‚Wildwechsel‘ der Kreativgesellschaft.
Möchten Sie ein VIP sein? Ich nicht: zu viel Stress. An diesem Abend zog ich es trotzdem in Erwägung, denn VIPs durften dicht an Halle 3 im Oberhafenquartier parken. Wir Normalsterblichen wurden von einem (zugegebenermaßen außerordentlich freundlichen und höflichen jungen Mann, der extra zu diesem Zweck im eisigen Wind bibberte), gebeten, uns etwas weiter weg hinzustellen, wegen Parkplatzmangels.
Als ich mich mit hochgezurrtem Schal zurück zum Event gegen den Wind stemmte, war ich nicht sicher, ob ich wirklich scharf darauf bin, an einem frostigen dusteren Abend durch den Hafen zu strolchen.

Ich bekam sofort bessere Laune, als ich sah, dass die Finsternis durch große Scheinwerfer erhellt wurde, die den Besuchern, mit buntem Wechsel-Blinklicht, angenehm den Weg wiesen.
Ziemlich versöhnt war ich schon, nachdem sich herausstellte, auch zu früh Gekommene ließ man bereits in die angenehm geheizte Halle ein. Jemand drückte mir ein Glas mit heißer Kürbissuppe in die Hand, und mit leckerem Essen kann man mich sowieso jederzeit kirre machen: ich begann, den Abend zu genießen.
Übrigens war ich in doppelter Ausführung unterwegs, zum einen als Berichterstatter für kultur-port, den Kompass der Künste (und Medienpartner des Abends, zusammen mit dem Abendblatt und NDR 90,3), zum anderen als Kreative.
In der Mitte der Halle befand sich ein interessantes Stück Raumkunst, ein trutziger Turm bis zur Decke, der widersinniger- und aparterweise aus Fenstern bestand, durch und durch transparent und für meine Begriffe bildschön; so was ist ja Geschmackssache. Unterschiedliche Fenster, manchmal auch mit etwas kaputtem Glas, waren da zusammengepuzzelt, Rahmen an Rahmen, sich nach oben etwas verjüngend, märchenhaft und geheimnisvoll. Von Innen konnte man den Turm auch besichtigen. Ein Besucher murmelte beeindruckt: „Typischer Fall von ‚Komm‘ Se rein, könn‘ Se rausgucken!“
Rund um das Gebilde, außen am Boden, gab es Mauerreste, ein bisschen Unkraut und viele welke Blätter, alles unendlich echt und typisch, genauso sieht es normalerweise um wirkliche alte Türme aus. Diese Kulisse war konsequent und liebevoll bis in die Ecken fortgeführt, noch auf der Rückenlehne einer weißen Sofagruppe lag ein großer Armvoll trockener bunter Blätter.
Ich musste im Lauf des Abends immer wieder den Turm anschauen, der wahrhaftig geeignet war, Kreativität aufzurühren, weil einem dazu mühelos ganze Geschichten einfielen.
Und ich möchte mich gern bei den beiden Raumkünstlern Lena Moritzen und Jens Gottschau vom Dockville Kunstcamp für so was Schönes bedanken!

Ziemlich schnell trudelten die anderen 399 Geladenen ein, weshalb es wärmer und wärmer wurde. Und noch wärmer. Wie schon Marilyn Monroe sagte: „Wenn es kalt war, haben wir uns eng aneinander gekuschelt…“
Künstlerköpfe und schöne Frauen, neugierig Beobachtende und solche, die sich beobachten ließen und so taten, als merkten Sie’s nicht, Prominenz aus Medien und Politik schwitzten, naschten und tranken und, vor allem: redeten miteinander. Was ja schließlich der höhere Sinn der Sache sein sollte und wozu Egbert Rühl, Geschäftsführer der Hamburger Kreativgesellschaft, ausdrücklich aufgefordert hatte.

Jetzt legte auch Alexander Bommes mit seiner Moderation los und kündigte alsbald den ersten Bürgermeister an. Olav Scholz, schon mit einem Fuß im Flieger nach China, aber trotzdem ganz präsent, erklärte, Hamburg wäre nach wie vor hinsichtlich der Wirtschaftskraft der Kreativstandort in Deutschland. Für einen guten Teil des Hamburger Wohlstandes, der Hamburger Lebensqualität, sei die Kreativwirtschaft verantwortlich und damit ein wesentlicher Motor der Innovation. Er lobte die ‚Pioniere‘ in den kleinen Agenturen oder Ateliers, die Neues ausprobierten, bevor es sich breitenwirksam durchsetzte.
Dieses Neue zu fördern und sichtbar zu machen sei eine der zentralen Aufgaben der Kreativgesellschaft. Sie könne den vielen Einzelkämpfern dabei helfen, Kontakte und Netzwerke zu knüpfen, geeignete Immobilien zu finden, das richtige Coaching zu bekommen - oder sogar einen Finanzier.
Denn gute Ideen allein reichten nicht. Daraus müssten Produkte oder Dienstleistungen werden: Geschäftsmodelle!
Wir lebten inzwischen in einer ‚Aufmerksamkeitsökonomie‘, in der es darauf ankäme, eine attraktive Geschichte zum kreativen Potential der Stadt zu erzählen.
Im Übrigen schien Scholz optimistisch und behauptete vergnügt, wo viele Bürgerinnen und Bürger zusammen kämen, entstünden nicht nur Probleme, sondern auch Lösungen, man hecke gemeinsam etwas aus, und genau das bewirke die Faszination großer Städte. Deshalb, fuhr er fort, träfe man sich heute hier im Hafen, in alter Architektur, um wieder etwas Neues auszuhecken und unsere schöne Stadt ein wenig weiter nach vorn zu denken.
Das alles sagte der erste Bürgermeister klar und knapp, gefolgt von herzlichem Beifall.

Ihm folgte als Redner Wolf Lotter, der Autor des Buchs ‚Die kreative Revolution‘ und Co-Gründer von ‚brand eins‘, der die Kreativwirtschaft zum Fundament unserer heutigen Wissensgesellschaft erklärte und zum neuen Leitbild der Wirtschaft.
Lotter entwickelte seine Idee von den Kreativen als ‚Gestörte‘ – denen nämlich, die durch die eigene Sensibilität und die geringere Latenzhemmung gegenüber allen Irritationen immer wieder stutzen und aus dem Tritt gebracht werden können – im Gegensatz zu den ‚Gehemmten‘ den zielgerichteten, dickfelligen Pragmatikern, die über gute Ideen hinwegtrampeln, durch Scheuklappen an ihrer Wahrnehmung verhindert.
Die ‚Gestörten‘ müssten begreifen, dass sie zu bescheiden wären, denn die reine Güterwirtschaft der ‚Gehemmten‘ sei bereits ein überholtes Konzept.

Trotz dieses hohen Anspruchs ist sie ja noch sehr jung, die Kreativwirtschaft. Und da fragt man sich vielleicht, was aus dem kleinen Fratz noch werden wird. Gibt es die Idee in zehn Jahren so vielleicht schon nicht mehr? Ob sie zerfranst und verbleicht und anderen Projekten Platz macht? Oder haben wir es hier tatsächlich mit den Anfängen eines mächtigen Konzepts zu tun, das in einigen Jahren selbstverständlich sein wird?
Wolf Lotter fällt dazu sein Lieblingszitat von Clint Eastwood ein:
„Ich reite in die Stadt, der Rest ergibt sich…“ - und fügt mit einem kleinen Grinsen hinzu: „Ich weiß auch schon, in welche Stadt!“

Bis hierhin haben viele der Gehemmten und Gestörten gutwillig zugehört. Aber allmählich wird deutlich, dass die Temperatur in ungeahnte Höhen steigt.
Man legt ab, so gut es geht – eine junge Dame legt über alle Maßen ab, Stück für Stück, bis sie zur Enttäuschung der Umstehenden eins der Oberteile wieder anzieht.
Eine andere sinniert drüber, dieser Abend müsse sich unter allen Umständen für die Veranstalter lohnen, da die derart viel ‚Energie jeder Art‘ investierten, von den bunten, blinkenden Riesenscheinwerfern auf dem Hinweg, draußen, bis zur Tropentemperatur drinnen.

Außerdem gibt es bemerkenswert wenig Sitzplätze: die besagte, blattgekrönte Sofagruppe im Hintergrund ist in fester Hand (um keine anderen Körperteile zu erwähnen) und selbst, falls es einem gelingt, sich mit verbindlichem Lächeln dazwischen zu klemmen, ist man dort vom Ton praktisch abgeschnitten.
Ansonsten sind einige Stehtische aufgepflanzt, die sich dafür eignen, ein Glas oder ein leeres Grünkohlschälchen abzustellen, nicht jedoch, daran Halt zu finden. Mir tun die Mädels auf ihren modischen Superabsätzen leid, die nur hin und her trippeln können. Das muss wehtun.

Wieder haben die VIPs einen Vorteil, zumindest zwei von ihnen: Birgit Gebhardt (Leiterin des Trendbüros, Autorin des Buchs ‚2037 – unser Alltag in der Zukunft‘) und die Schauspielerin Pheline Roggan dürfen auf Geheiß von Alexander Bommes auf einen der Bühnen-Barhocker klettern um eine Weile ihre Füße auszuruhen. In erster Linie sollen sie allerdings, nacheinander, beim ‚Schlagabtausch‘ der Podiumsdiskussion mitmachen, Frau Gebhardt gegen Medienunternehmer (und Gestörten) Frank Otto, Frau Roggan gegen Manager Steffen Stäuber.
Eigentlich hätte ich gern gehört, was die Podiumsdiskutierer so zu sagen hatten, doch es gelang mir nicht, mehr als jedes fünfte Wort zu verstehen. Nein, nicht, weil ich die ganze Zeit auf dem weißen Sofa saß! Ich stand, im Gegenteil, direkt vor der Bühne, wich den hochgehaltenen Mikrophonen aus und entrollte meine Ohren zu ganzer Länge; vergeblich.
Inzwischen plauschten nämlich die Gestörten völlig ungestört und ungehemmt mit den Gehemmten.
Vielleicht ist es sehr sinnvoll, an Stühlen zu sparen, wenn man möchte, dass die Besucher einer Veranstaltung rumrennen und miteinander quatschen; wenn man jedoch beabsichtigt, sie einer Podiumsdiskussion lauschen zu lassen, sollte man sie hinsetzen.

Dazu kommt noch etwas, und ich gebe das all denen zu Bedenken, die dem Aufruf von Egbert Rühl folgend beabsichtigen, die Halle im Oberhafenquartier als Kreativstandort zu nutzen: die Akustik in diesem Gebäude ist, zart angedeutet, nicht die einer gotischen Kathedrale. Alles, was man hier zeigen kann, wird sich prachtvoll ausnehmen. Vom Sich-hören-lassen sollte man absehen.

Als ein kopfrasierter junger Mann auf etwas Grünkohl ausrutschte und sich nur durch energisches Rudern mit beiden Armen fing, spazierte ich in den angenehm frischen Abend hinaus und fuhr nach Hause, sehr zufrieden mit den Einblicken in eine neue, viel versprechende Idee.

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