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2. Die Annahme, dass aus der unmittelbaren Anschauung (im Minutentakt) gewonnene und als Privatperson gefällte ästhtische Urteile als Entscheidungsgrundlage ausreichend sind und keiner weiteren intellektuellen Befragung und Begründung bedürfen, sollte aufgegeben werden. Stattdessen käme es darauf an, für die jeweilige Ausschreibung die spezifische Prozedur einer öffentlichen und argumentativen Verhandlung der auszuwählenden künstlerischen Projekte zu konzipieren und zu erproben.


3. Die Teilnehmerinnen an Auswahlverfahren verfügen über wenige Informationen und keinerlei Rechte, was ihnen einen schlechteren Status als jedem Lotterieteilnehmer gibt. Dies wäre durch den transparenten Charakter der Ausschreibungsbedingungen und des Entscheidungsverfahrens zu verbessern. Ausschreibungen sollten nicht nur in Bezug auf die Höhe der finanziellen Zuwendung, sondern vor allem hinsichtlich des Auswahlmodus und der inhaltlichen Zielsetzung untereinander um die Beteiligung an ihnen konkurrieren. Dazu gehörte auch eine Supervision des Verlaufs der selbst gesteuerten Selektionsprozesse.


4. Voraussetzung jeglicher Verbesserung ist die Verwirklichung folgender zentraler Forderung: Während die Künstlerinnen wie ihre Werke bislang lediglich als Objekte in den Auswahlverfahren präsent sind, sollte ihnen ermöglicht werden, auch als Subjekte der Beurteilung zu fungieren. Dazu sollte ihnen im Verfahren Gehör gewährt werden, sodass sie sich etwa zu den Kriterien äußern können, die sie auf sich und ihre Arbeit angewendet sehen möchten. Darüber hinaus wäre ihnen auch die Gelegenheit zu geben, auf kritische Einwände zu reagieren.


Vor allem aber wäre es unerlässlich, dass auch die Bewerberinnen ihren Sachverstand in das Verfahren einbringen und über die Auswahl selbst mitentscheiden können. Die dabei möglichen Interessenkonflikte und das Problem Richter in eigener Sache zu sein, lassen sich zweifellos durch ein geeignetes intelligentes Setting (eine Art Prozessordnung) neutralisieren und durch die Vernunft der Beteiligten minimieren. Um den Entscheidungsprozess sowie das Ergebnis zu optimieren, sollte zusätzlich eine bestimmte Anzahl von Fachleuten, die sich für das jeweilige Förderziel besonders qualifiziert und engagiert haben, ebenfalls mitbestimmen können. Anstelle der bisherigen alleinigen Entscheidungsgewalt einer nach Proporz- und/oder Opportunitätsgesichtspunkten zusammengesetzten Jury, sollten die ausgewiesenen Expertinnen vor allem auch eine fundierende und moderierende Funktion bei der Auseinandersetzung mit den eingereichten Projekten wahrnehmen.
Die allen derartigen Überlegungen zugrunde liegende vermeintlich utopische Zielvorstellung besteht darin, im jeweiligen Verfahren die persönlichen und gesellschaftlichen Voraussetzungen für ein derartiges Maß an Wahrhaftigkeit zu schaffen, dass Selektionsentscheidungen möglichst auf der Basis von Prozessen der Selbstauswahl getroffen werden können. Diese ist letztlich das einzig legitime, wirklich akzeptable und wahrscheinlich auch verlässlichste Auswahlverfahren, das so weit als möglich berücksichtigt werden sollte, wenn die Konzeption und Realisierung selbst bestimmter Auswahlverfahren zum Kernbestandteil der künstlerischen Praxis selbst erhoben würde. Um solche künstlerischen Forschungsvorhaben zu fördern, müssten die Verfügungsberechtigten der Kunstpreise, -Stipendien und -Wettbewerbe lediglich andere Prioritäten setzen; die erforderlichen finanziellen Mittel besitzen sie ja bereits.



Anmerkungen:
1 https://www.artinvestzoo6.de/investitionsmarkt-kunst.php

 
2 Vgl. etwa Lingner, Michael: GEWINNWARNUNG. Über den Artist Pension Trust, Texte zur Kunst, Heft Nr. 61, 16.Jg., März 2oo6.
3 Siehe: Lingner, Michael / Walther, Rainer: Paradoxien künstlerischer Praxis. Die Aufhebung der Autonomie des Ästhetischen durch die Finalisierung der Kunst, Kunstforum International, 76/1984.
4 Gegen ein Authentizitätsideal, das Individualisierung als Optionenvielfalt begreift, stellt Rahel Jaeggi handlungstheoretisch fest: »Man ist überhaupt nur jemand, indem man etwas Bestimmtes und damit anderes nicht tut.« C. Geyer: Beim Tun und Machen. Über die neue Entschlossenheit, Persönlichkeit zu denken. In: FAZ 09.05.2007
5 Kosuth, Joseph: Lehrendes Lernen (ein Gespräch über das
WieWarum<). In ders.: A Room with 23 Qualities. Hamburg/Stuttgart 1992. S.10
6 Kosuth, a.a.O. S.11
7 Kosuth, a.a.O. S.11
8 Lingner, Michael: Analyse der Preisgabe künstlerischer Autonomie und eine Perspektive ihrer Wiedergewinnung. Ein demokratisiertes Jury-Modell
Elm, Ralf (Hg.): »Kunst im Abseits?«. Schriftenreihe der Universität Dortmund, Projekt-Verlag, 2004, Zur Verantwortbarkeit von Eingriffen in die Kulturelle Evolution am Beispiel der Kunstförderung.
9 Groys, Boris: Das Werk ist Aussage. Die Rettung der Kunst liegt im Diskurs. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1.8.2002. Groys bezieht
sich dabei auf Artikel von E. Beaucamp zur Förderpolitik der Bundeskulturstiftung in der FAZ vom 22. und 23.7.2002.
10 di Fabio, Udo: Ein großes Wort. Verantwortung als Verfassungsprinzip. In: FAZ vom 2.5.02



Michael Lingner (1950-2020) war Medientheoretiker, Künstler und Professor für Kunst-Wissenschaften an der Hochschule für bildende Künste Hamburg.
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