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Tom Seidmann-Freud: „Buch der Hasengeschichten“

Im Deutschland der 1920er Jahre kannte jedes Kind ihre Bücher: Tom Seidmann-Freud, eigentlich Martha-Gertrud Freud (1892-1930), gehörte zu den innovativsten Kinderbuchillustratoren der Weimarer Republik.
Die Nazis haben ihre Bücher verboten, so dass die jüdische Künstlerin nach dem Zweiten Weltkrieg für Jahrzehnte in Vergessenheit geriet – ihr Werk zu zerstören, das schafften sie jedoch nicht. In Israel gehören die Geschichten der Nichte des berühmten Psychoanalytikers Sigmund Freud (1856-1939) heute zum Nationalgut und in Hamburg hat es sich nun ein Sammler und Liebhaber bibliophiler Schätze zur Aufgabe gemacht, ihr Andenken zu bewahren: Werner Bokelberg hat Tom Seidmann-Freuds „Buch der Hasengeschichten“ neu aufgelegt.

Das „Buch der Hasengeschichten“ aus dem Jahr 1924 ist fraglos eines der faszinierendsten und wundersamsten Kinderbücher der Literaturgeschichte. Wobei der Begriff „Kinderbuch“ im Grunde zu kurz greift: Die Märchen und Fabeln, die Tom Seidmann-Freud hier aus aller Welt zusammengetragen und in zarten Pastellfarben bemerkenswert klar und ornamental illustriert hat, sind beseelt von einer ungeheuren Kraft und zum Teil dunkler Symbolik, die Leser aller Altersstufen in ihren Bann zieht.
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Der Hase, seit Menschengedenken Sinnbild der Fruchtbarkeit und sexueller Begierde, gilt in vielen Kulturen als magisches Krafttier, das mit den Göttern in Verbindung steht und das weibliche Prinzip verkörpert. Seine ausgezeichneten Sinnesorgane, seine Intuition und Anpassungsfähigkeit haben ihn zu einem wahren Überlebenskünstler gemacht, der auf allen Kontinenten zu Hause ist – und dementsprechend auch in der Mythen- und Sagenwelt aller Kulturkreise seinen festen Platz hat.

Tom Seidmann-Freud hat in ihrem Buch zwölf archaische Märchen und Fabeln von Meister Lampe versammelt, die meisten davon afrikanischen Ursprungs. Gleich die erste Sage stammt aus dem Sudan und handelt davon „Wie der Verstand unter die Tiere ausgeteilt wurde“: In einem großen Sack nämlich, der eines Tages unter einem Baum steht. Das Wiesel entdeckt ihn und gibt nur dem Hasen ein wenig Verstand ab. Deshalb sind Wiesel und Hase (zumindest in der afrikanischen Mythologie) so klug und so schwer zu fangen. In vielen der Sagen, die unter anderem in Indien, den USA, Kanada, aber auch in Norwegen, Estland und Deutschland spielen, geht es um die List dieses Tieres. Nur die „Fabel von den Hasen und den Fröschen“ des griechischen Dichters Äsop (6. Jh. v. Chr.) handelt von des Hasen Angst – und der Erkenntnis, dass es immer noch Ängstlichere gibt und man sich deshalb nicht gleich ersäufen muss.

Den ganz besonderen Charme dieses Buches macht die eigenartige Formensprache der hinreißenden Illustrationen aus: Mit spitzer Feder scharf umrandet, hat Tom Seidmann-Freud ein fast holzschnittartiges Figurenrepertoire geschaffen, halb expressiv, halb der Neuen Sachlichkeit verbunden. Das zarte Farbspektrum hingegen – vorherrschend Rosé, Türkis, Lindgrün und Himmelblau – verleiht den „wunderbar apokalyptischen“ Hasengeschichten, wie ein Rezensent 1924 schrieb, eine fröhliche Leichtigkeit und Unbeschwertheit. Dabei enthalten die meisten Aquarelle typische Merkmale des Kulturkreises, aus dem die Märchen kommen: So stammt beispielsweise die kurze Geschichte vom Hasen, der allein wohnt, weil er als Kind schlecht behandelt wurde, von den kanadischen Eskimos – und ist in einer Eis- und Schneelandschaft verortet. Somit regte dieses hinreißende Buch zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur die Fantasie an, sondern vermittelte auch Einblicke in fremde, exotische Kulturen, die nicht nur den Kindern der Weimarer Republik neue Horizonte öffnete.

Tom Seidmann-Freuds Leben war ebenso ungewöhnlich wie ihre Kunst. Als Nichte von Sigmund Freud – ihre Mutter Maria (Mitzi) Freud ist eine Schwester des Psychoanalytikers – 1892 in Wien geboren, wuchs sie ab 1898 in Berlin auf und gab sich bereits mit 15 Jahren den Männernamen Tom. Warum genau, bleibt unklar. Eine Quelle besagt, dass sie zu Hause einfach so genannt wurde, eine andere, nach der sie die Überzeugung vertrat, als Mann in der Kunstwelt größere Chancen zu haben. Jedenfalls ging sie nach ihrem Schulabschluss nach London an eine Kunstschule, wo sie sich intensiv der Gestaltung von Kinderbüchern widmete. 1914 erschien ihr Erstlingswerk, das noch ganz dem Jugendstil verhaftete „Baby-Liederbuch“. Bis 1930 erscheinen zahlreiche Bücher und machten sie zu einer der bekanntesten Illustratorin und Autorin von Kinderbüchern ihrer Zeit. Zu den erfolgreichsten Werken zählen „Das neue Bilderbuch“ (1918), „Die Fischreise“ (1923), in der sie poetisch den Tod des geliebten jüngeren Bruders verarbeitet, die Verwandlungsbücher „Das Wunderhaus (1927), „Das Zauberboot“. Ihre Fibeln „Hurra, wir lesen!“ und „Hurra, wir schreiben!“ (1930), die im Berliner Herbert Stuffer Verlag auch noch nach ihrem Tod erschienen, waren eine Art Standartwerke und wurden von Walter Benjamin als „seltene Vereinigung gründlichsten Geistes mit der leichtesten Hand“ gelobt.

Dennoch war Tom Seidmann-Freud eine ausgesprochen tragische Figur, deren Glück nur von kurzer Dauer war. In München, wo sie 1919 und 1920 lebte, geriet sie in einen Kreis junger jüdischer Intellektueller, zu dem auch der bekannte jüdische Religionswissenschaftler Gershom Scholem (1897-1982) gehörte. In seinen Memoiren erinnert sich Scholem später: „Sie ernährte sich von Zigaretten und ihr Zimmer war immer voller Rauch – a real bohemian woman.“

Mit der Liebe zu dem Schriftsteller und Verleger Jakob Seidmann, den Tom 1921 heiratet, beginnt die wohl glücklichste und produktivste Zeit. 1922 wird Tochter Angela (nach Immigration nach Israel nannte sie sich Aviva) geboren, die später bei Toms Schwester, der Schauspielerin Lily Freud, aufwächst. Etwa zeitgleich gründet das junge Paar den Peregrin-Verlag, in dem „Die Fischreise“ und das „Buch der Hasengeschichte“ erscheinen. Nach Aussage ihres Enkels führt dann die Zusammenarbeit mit dem hebräischen Dichter Chaim Nachman Bialik (1873-1934) in die Katastrophe. Ein gemeinsamer Verlag gerät zum wirtschaftlichen Fiasko, Bialik lässt die beiden hängen. Als während der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 auch der Peregrin-Verlag vor dem Bankrott steht, nimmt sich Jakob Seidmann das Leben. Seine Frau stirbt wenig später, schwer depressiv und völlig abgemagert an einer Überdosis Schlaftabletten. Sie ist neben ihrem Mann auf dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee begraben.

Dank der Neuauflagen ihrer Bücher bleibt sie der Nachwelt so erhalten, wie sie Gershom Scholem in seinen Erinnerungen beschreibt: Als „eine ans Geniale grenzende Illustratorin von Kinderbüchern“.

Tom Seidmann-Freud: „Buch der Hasengeschichten“
ist für 26 Euro zu erhalten im Buchhandel, sowie über Bokelberg.com, Kleiner Kielort 4, in 20144 Hamburg.

Weitere Informationen zu Tom Seidmann-Freud
Das Originalbuch ist gescannt zu sehen im Publikations-Server der Technischen Universität Braunschweig


Abbildungsnachweis:
Header: Abb. Die Kalabasse (letzes Kapitel)
Galerie:
01. Umschlag Buch der Hasengeschichten
02. Abb. Wie der Verstand unter die Tiere aufgeteilt wurde
03. Abb. Der Hase
04. Abb. Der Hase und der Brunnen
05. Abb. Der Furchtmacher
06. Abb. Die Flinte mit dem Monde
07. Abb. Der Hase lacht, bis seoine Lippe platzt
08. Abb. Fabel von den Hasen und den Fröschen
09. Textblatt Warum der Hase keinen Schwanz hat
10. Abb.
Warum der Hase keinen Schwanz hat.

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