Film
Boyhood

Chronik einer Kindheit oder der Zauber des Alltäglichen.
2002 begann der texanische Regisseur Richard Linklater mit seinem waghalsig genialen Filmprojekt. Bis 2013 drehte er jedes Jahr an drei oder vier Tagen das fiktive Porträt eines Jungen namens Mason (Ellar Coltrane) vom ersten Schuljahr bis zum Eintritt ins College. Die Rolle des Vaters, Mason Senior, übernahm Ethan Hawke, Patricia Arquette spielt Olivia, eine ambitionierte Mutter, Lorelei Linklater die anfangs noch etwas intrigante Tochter Samantha. Eine Familiengeschichte eigentlich wie viele andere: Streitigkeiten, zerbrechende Ehen, Umzüge, fremde Umgebung, neue Jobs, neue Freunde, neue Väter (ziemliche scheußliche), enttäuschte Hoffnungen, der erste Joint, die erste große Liebe, Angst, Staunen und viele, viele Gespräche.

Aus dem verträumten Kind mit den großen Augen wird am Ende ein ernster, nachdenklicher junger Künstler. Zwölf Jahre sind vergangen, 39 Drehtage, Erwachsenwerden in Echtzeit. 164 Minuten dauert der Film, manchen ist er zu lang, anderen zu kurz. Der Abschied fällt dem Zuschauer schwer, er wird den Protagonisten vermissen.

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„Boyhood” hat seine ganz eigene Art der Magie. Der kleine Mason fragt, ob es denn irgendwo auf dieser Welt Elfen gibt, der Vater erklärt diplomatisch, dass es überall ungewöhnliche Dinge gäbe: „Denk nur mal an die Wale.” Während Mason Sen. seinem Sohn von den riesigen Säugetieren erzählt tief unten im Meer, die sich mit rätselhaften Gesängen verständigen, erinnert Linklater uns daran, dass nichts verblüffender oder zauberhafter sein kann als das Leben selbst. Elfen, damit muss sich Mason Junior abfinden, weilen aller Wahrscheinlichkeit nicht unter uns. Ein Film, der nichts verklärt, fast nie dramatisiert, eigentlich gegen jede Regel des amerikanischen Showbiz verstößt. Er fasziniert Kritiker wie Zuschauer, sie entdecken das Universum des Alltäglichen neu. „Boyhood” funktioniert ein wenig wie das schwer kalkulierbare System unserer Erinnerungen: Ereignisse reihen sich scheinbar zufällig aneinander, einschneidende Veränderungen werden nur kurz gestreift, wechseln mit kuriosen, schönen, schrecklichen oder amüsant unwichtigen Momenten. Das Profane als solches existiert nicht, alles hat seinen Stellenwert. Fast buddhistischen Gleichmut vermeinen einige Rezensenten zu verspüren. Olivia, die Mutter plant, ermahnt, revoltiert, allein das Schicksal entscheidet. Das Glück lässt sich nicht erzwingen. Was die Erwachsenen so an perfekten Lösungen für die Zukunft und ihre Kinder parat haben, entlarvt sich oft als Versuch am untauglichen Objekt. Olivias Männer halten nicht, was sie versprechen, Mason Sen., der verkrachte Musiker, glänzte durch Abwesenheit, aber zumindest hat er unsere Sympathie trotz seiner fehlender Qualifikation zum idealen Gatten. Verantwortung ist nicht sein Ding, doch er kapiert, wenn auch mit leichter Verspätung, was es braucht um ein passabler Dad zu werden. Die sogenannten Stiefväter dagegen lassen zu wünschen übrig, der wohlhabende Uniprofessor entpuppt sich als neurotischer Tyrann, ein Alkoholiker, dessen blinde Wut in Gewalt eskaliert. Sein Nachfolger ist Irak-Veteran, auch er ein psychisches Wrack und Alkoholiker.

Wie im Zeitraffer sieht der Zuschauer die beiden Kinder heranwachsen, während die Welt um sie herum eine andere wird. Irakkrieg, Facebook, Obamas Wahlkampf. Der Regisseur macht das Verrinnen der Zeit sichtbar. Zeit, sie ist im Grund der wirkliche Protagonist des Films, immer wiederkehrendes zentrales Thema bei Richard Linklater. In seiner Trilogie „Before Sunrise”(1995), „Before Sunset” (2004), „Before Midnight”(2013) erzählt er im Abstand von neun Jahren Kapitel aus der Liebesgeschichte zwischen dem Amerikaner Jesse (Ethan Hawke) und der Französin Celine (Julie Deply). Linklater versucht den Rhythmus des Lebens zu imitieren, der Reiz jenes Langzeitprojekts: Zu beobachten, wie die Protagonisten/Akteure sich im Verlauf der Jahre verändern. Und wir mit ihnen. Wenn „Boyhood” beginnt, ist Mason sechs, Ellar Coltrane noch ein ungelenker Junge mit einem wahrscheinlich leichten Unbehagen vor der Kamera, doch er entwickelt von Jahr zu Jahr ein besseres Gespür für seine Rolle, wird zu einem eigenwilligen Schauspieler, perfekter Gegenpart zu Ethan Hawke. Die beiläufige Leichtigkeit der anrührenden Coming of Age-Story kann nicht über das ungeheure Risiko und die Schwierigkeiten eines solchen cineastischen Experiments hinwegtäuschen. Für diese Form langfristiger Zusammenarbeit gab es keinen Präzedenzfall, 12-Jahresverträge existieren in dieser Branche nicht. Was wenn ein Schauspieler während der 144 Monate ernsthaft krank würde oder sich entschied auszusteigen? Ein Problem wurde allein Linklaters eigene Tochter Lorelei. Als Neunjährige war sie in einem Alter, „wo sie ständig sang, tanzte und sehr extrovertiert war. Deswegen wollte sie unbedingt in dem Film mitmachen”, erinnert sich der Regisseur. „Für mich war das natürlich auch eine praktische Entscheidung, zumindest hatte ich so ein bisschen Kontrolle über ihre Verfügbarkeit.” Aber Eltern täuschen sich nur zu oft, das illustriert „Boyhood” in vielen Variationen. Linklater hatte keine Vorstellung davon, wie sehr seine Tochter später ihre Meinung und Einstellung zum Projekt ändern würde. „Nach ein paar Jahren interessierte sie sich statt für die Schauspielerei immer mehr für bildende Künste, in denen sie auch unglaublich talentiert ist,” so der stolze Vater, „Irgendwann, als sie sich fürchterlich dagegen sträubte ein bestimmtes Kostüm anzuziehen, fragte sie mich sogar, ob ihre Figur nicht einfach sterben könnte”.

Das Gelingen des Projekts hing davon ab, den richtigen Jungen zu finden. „Ich stand also vor dieser völlig verrückten Aufgabe,” erklärt Linklater, „lauter Kinder vor mir zu haben, bei denen ich mich fragte, wer sie wohl sein würden, wenn sie heranwachsen, und wie ihr Leben einmal aussehen wird.” Bei Ellar Coltrane war sich der Regisseur sofort sicher, er würde Künstler, vielleicht weil auch seine Eltern es waren. Der Filmemacher hatte ihn sich zwar eigentlich als Musiker vorgestellt, aber Fotographie wurde Coltranes Leidenschaft und damit die von Mason. An die Anfänge der Produktion erinnert sich der junge Schauspieler kaum noch, außer wie viel er auswendig lernen musste und wie stark ihn Linklater anleitete. Doch je älter er wurde, desto offener gestaltete sich der kreative Prozess: „Rick und ich begannen gewöhnlich jedes Jahr damit, dass wir uns darüber unterhielten, an welchem Punkt ich mich gerade in meinem Leben befand, und ließen davon einiges in die Rolle mit einfließen,” erklärt er. Das Filmteam wurde eine Art zweiter Familie. Zu Lorelei hatte Coltrane zunächst ein eher distanziertes Verhältnis, fast eine Art Rivalität. Heute weiß er ihre Beziehung zu schätzen, da sie als Einzige die gleichen seltsamen Erfahrung durchgemacht hat wie er. So wie sich bei den Akteuren Leben und Film überschneiden, passiert es auch dem Zuschauer. Wir reagieren unwillkürlich, die Fiktion vermischt sich mit den eigenen Erinnerungen, Erfahrungen, die oft so ganz anders sind oder frappierend ähnlich. Als sich der sechsjährige Mason und seine Schwester auf einer Autofahrt unaufhörlich streiten, und Olivia genervt ein Machtwort sprechen muss, seufzt die Kollegin, Mutter von drei Kindern, neben mir: „Jetzt geht das hier auch noch weiter”.

Ethan Hawke reizte die Rolle der Teilzeitvaterschaft, er weiß um die Problematik, ist selbst als Scheidungskind aufgewachsen. 2005 wurde er von Uma Thurman geschieden, sie haben zusammen eine Tochter und einen Sohn. Mason Sen. hat bei Oliva keine Chance, die beruflich erfolgreiche, aber überforderte alleinerziehende Mutter will von ihrem Feindbild nicht lassen. Auf der Suche nach dem zuverlässigen Idealmann, gerät sie an die übelsten Typen. Sie kann nicht begreifen, dass ihr Ex inzwischen ein phantastischer Vater ist, der im Gegensatz zu ihr, mit den Kids oft den richtigen Ton trifft, warmherzig, witzig, energisch. Irgendwann wird aus dem Pontiac fahrenden durchgeknallten Künstler, der kaum genug zum Leben verdient, ein braver Bürger, Ehemann und Versicherungsvertreter. Sein Sohn ist zwar unendlich enttäuscht, dass er zum 16. Geburtstag nicht den versprochenen GCO bekommt, den hat der Vater der neuen Frau zuliebe gegen einen Minivan eingetauscht. Aber innerlich bleibt Mason Sen. der Spieler und Abenteurer von einst, die Episoden mit ihm und dem Jungen sind die originellsten wie einfühlsamsten. „Nichts in diesem Film ist dokumentarisch,” erklärt Ethan Hawke, „doch er bringt einen dazu zu glauben, dass diese Figuren real sind”. Die Zeitsprünge zwischen den Szenen sind ganz unterschiedlich groß, verstärken die Illusion, alles wäre wie zufällig entstanden. Die Kamera drängt sich nicht auf, die verschiedenen Rocksongs werden zum Soundtrack von Masons Leben. Popkultur und ihre Technologien verraten uns in welchem Jahr wir sind. Harry Potter darf nicht fehlen. Vergleichbare Langzeitprojekte gab es nur in serieller Form, als Dokumentarfilm wie Barbara und Winfried Junges „Die Kinder von Golzow” oder die britische „Up Series” von Michael Apted. Zuweilen erinnert die fragmentarische adoleszente Selbstfindung an den legendären Filmzyklus um Antoine Doinel, den Francois Truffaut über 20 Jahre hinweg mit Jean-Pierre Léaud als seinem Alter Ego drehte. Auch dies vielleicht kein Zufall: Die Vorbilder Linklaters sind Bergmann, Bresson, Fassbinder. Ganz ohne Sentimentalität oder Pathos grade am Schluss geht es nicht, aber die Szene ist überaus gelungen, hat etwas Trauriges wie Tröstliches.

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Originaltitel: Boyhood
Regie/Drehbuch: Richard Linklater
Darsteller: Ethan Hawke, Patricia, Arquette, Ellar Coltrane, Lorelei Linklater
Produktionsland: USA, 2013
Länge: 164 Min
Verleih UPI Germany
Kinostart: 5. Juni 2014

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