Film
Nächster Halt: Fruitvale Station

Oscar Grant war 22 Jahre alt, Afroamerikaner, unbewaffnet. Er lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Bahnsteig.
Zwei weiße Polizisten über ihm, einer zog seinen Revolver und erschoss ihn. Fahrgäste filmten den Tathergang mit ihren Handys. Regisseur Ryan Coogler schildert in seiner Dokufiktion die letzten 24 Stunden aus dem Leben des Opfers. Ein erschütterndes Zeugnis von Rassismus und Gewalt.
 
Mit dieser Szene, dem tödlichen Schuss, beginnt der Film. Körnig, verwackelt, Angst, Verzweiflung und Schrecken sind als unabwendbare Realität immer präsent, verändern die Bedeutung von allem, was nun folgt. Hayward, Oakland Bay Area, 31. Dezember 2008. Als der 22-jährige Oscar Grant (Michael B. Jordan) aufwacht, spürt er, dass etwas in der Luft liegt, es scheint ihm der richtige Tag zu sein, seine guten Vorsätze endlich in die Tat umzusetzen. Zwei Haftstrafen hat er hinter sich, Dealen, Waffenbesitz. Er möchte endlich der verlässlicher Partner für seine Freundin Sophina (Melonie Diaz) werden, nach dem sie sich sehnt, ein besserer Sohn für seine Mutter Wanda (Octavia Spencer) und der perfekter Daddy für die vierjährige Tochter Tatjana (Ariana Neal).

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Die Zuneigung der Kleinen ist ihm sicher, er kann phantastisch mit Kindern umgehen, vielleicht weil er sich selbst manchmal wie ein großes Kind aufführt. Sophina will die letzte Eskapade noch nicht verzeihen, kann seinem Charme jedoch nur schwer widerstehen. Dieser Junge hat etwas unglaublich Liebenswertes und genau das erweckt bei manchen Filmkritikern tiefstes Misstrauen. Oscar geht einkaufen für die Geburtstagsparty seiner Mutter, für diesen Abend ist ein großes Krebsessen geplant. Er verspricht seiner Schwester mit der Miete zu helfen, weil das Geld mal wieder nicht langt, fährt seine Frau zur Arbeit, das Kind in die Kita. Zuviel des Guten? Der Protagonist hat durchaus seine Macken. Dass er die Stellung verloren hat, weil er oft zu spät erst auftauchte, verschweigt er wohlweislich der Freundin. Als der Chef vom Supermarkt ihm seinen Job nicht zurückgeben will, ist er kurz vor dem Ausrasten. Er neigt zum Jähzorn, verliert schnell die Kontrolle, auch im Knast gab es immer wieder Zoff. 
 
Und doch ist dieser Kerl irgendwo herrlich unneurotisch (grandios gespielt von Michael B. Jordan), warmherzig, lebendig. Klar, er nervt Wanda und Sophina mit seiner Unzuverlässigkeit. Einer der nicht wirklich kalkuliert, zuviel träumt. Jeder Andere würde noch schnell jene letzte große Plastiktüte mit Hasch zu Geld machen, der Käufer ist bereits auf dem Weg, nein er kippt sie ins Meer. Auch seine Schwester kapiert das nicht so ganz. Gute Vorsätze in Ehren. Oscar ist einfach nett, witzig, humorvoll. Manche Kritiker sprechen von Schönfärberei, im Extremfall heißt es Propagandafilm. Nur wie soll einer aussehen,ֳ der am Ende erschossen wird? Die umstrittenste Sequenz: der Protagonist spielt an der Tankstelle mit einem herumstreunenden Pitbull. Sekunden später wird der Hund überfahren.

Der Vorwurf lautet, der Regisseur manipuliere seine Zuschauer. Sind gelegentliches Drogendealen mit Tierliebe unvereinbar? Haben Soziopathen auf Leinwand und im Fernsehen für alle Zeit die Maßstäbe gesetzt, wie das Böse auszuschauen hat? Tragisch vielmehr, dass in ֳ„Fruitvale Station” gerade Fürsorge, Zuneigung, Liebe, Freundlichkeit zum Verlust führen. Vielleicht können Gefühle oder Gesten wenig verändern, wo das Gesellschaftssystem selbst marode ist. Die Mutter überredet den Sohn am Silvesterabend nicht den eigenen Wagen zu nehmen, sondern lieber die Bahn. Wie konnte sie ahnen, was geschehen würde, und doch wird sie sich immer schuldig fühlen. Der Film wurde auf vielen Festivals wie auch in Sundance mit Preisen ausgezeichnet, aber besonders die Hilfsbereitschaft Oscars trifft immer wieder auf Befremden bei Journalisten. Liegt es an zu kleinbürgerlichen oder zu großbürgerlichen Wohnvierteln, wo wir aufwuchsen, dass so viel Gemeinschaftsgefühl unvorstellbar wird? In richtig miesen Gegenden ist dergleichen nicht so absonderlich. Es war nie Cooglers Intention zu demonstrieren, dass es sich bei diesem 22Jährigen um einen außergewöhnlichen Menschen handelt, im Gegenteil. Bei seinen Recherchen erfuhr der Filmemacher, dass Oscar davon geträumt haben soll, ein eigenes Haus zu besitzen, einer der Gründe war, endlich einen Hund halten zu dürfen. Oscar hatte nur in Apartments gelebt, wo das unmöglich war. Und er wollte einen Pitbull, was dem Regisseur gefiel „Über die liest man nie etwas Positives in den Medien. Sie haben ein Stigma. Wie junge Afroamerikaner,“ sagt Coogler in einem Interview. Wann immer sie in den News auftauchen, geht es ums Töten oder getötet werden. Ein Stereotyp, was er bekämpft. Neben seiner Arbeit ist er seit Jahren Berater an der Juvenile Hall, dem Jugendgefängnis in San Francisco. Und während er noch an dem Drehbuch schrieb, kam sein kleiner Bruder aufgelöst heim, ein herrenloser Hund, mit dem er eben noch gespielt hatte, wurde neben der Tankstelle überfahren. Niemand hielt an.
 
Nachwuchsregisseur Ryan Coogler geht es in seinem Debütfilm weniger um die Rekonstruktion der Tat als um Oscar Grant. „Mir wurde ziemlich schnell klar, dass das genauso gut ich hätte sein können. Wir hatten das gleiche Alter. Seine Freunde sahen aus wie meine Freunde. Dieselbe Hautfarbe. Ich war verletzt, wütend, frustriert und verwirrt über das, was geschehen war. Das gleiche Gefühl wie die Menschen auf den Demonstrationen und Protestkundgebungen.” Während des Gerichtsverfahrens eskalierte die Situation politisch. Oscar wurde zum Heiligen stilisiert, zum Symbol des Kampfes gegen Rassismus oder dämonisiert als monströser Krimineller, ein Gangster, der endlich die Strafe bekommen hatte, die er verdiente. “Was völlig verloren ging, war Oscars Menschlichkeit,” erklärt der Regisseur. Hier in „ֳFruitvale Station” wird er wieder zu dem was er war, ein 22-jähriger Junge, der es nicht geschafft hat, heil nach Hause zu kommen.

„Menschlichkeit ist das wichtigste Werkzeug eines Filmemachers”, so Coogler. Er weiß, dass Gangmitglieder vergessen, dass die Kids der rivalisierenden Gang menschliche Wesen sind genau wie ihre eigenen Freunde und Familien. Er sieht ihr Potenzial, wo die Gesellschaft sie längst abgeschrieben hat.  Grade wer über das Leben von afroamerikanischen Männern entscheidet, hat selber oft nie engeren Kontakt mit ihnen gehabt. „Sie aber sitzen in den Jurys”, sagt der Regisseur, „entscheiden sich für den Beruf des Cops”. Die Angst erschossen zu werden ist nicht abstrakt, sondern die tägliche Realität. Oscar hat Cooglers Ideale, er begreift am Ende, dass es die Pflicht des Stärkeren ist den Schwächeren zu beschützen, das kann er nicht im Gefängnis, nicht wenn er sich selbst in Gefahr bringt.
 
Schauspieler Michael B. Jordan („Chronicle- Wozu bist Du fähig”,„Friday Nights Lights”) wurde berühmt durch seine Rolle als jugendlicher Drogendealer in der TV-Serie „The Wire”. Er sagt fast wortwörtlich das Gleiche wie der Regisseur: „Ich könnte es gewesen sein, mein Bruder, einer meiner Freunde...” Silvester 2008 war eigentlich ein Moment großer Hoffnungen, Barack Obama hatte die Wahl gewonnen, nur die vierjährigen Tatjana schaut unglücklich drein. Sie hat Angst vor den „Schüssen” draußen, Oscar beruhigt sie, „nur Feuerwerk”, hier drinnen sei sie sicher. Aber die Kleine sorgt sich um Daddy, denn der geht raus. Was kitschig klingen mag, scheint im Film authentisch, wirklich anrührend. Die große Familie, der Zusammenhalt, die tiefe Gläubigkeit der Mutter, die Unbekümmertheit der Jugend. Wie in „The Butler” besteht zwischen den Generationen eine Kluft, aber die Loyalität verbindet. Der Zuschauer spürt die Sympathie des Regisseurs für den Protagonisten, er bezieht Partei und macht daraus auch kein Geheimnis. Die letzte halbe Stunde des Films ist die Stärkste, hier zeigt sich das furiose Talent des jungen Regisseurs. Er vermeidet alles Glatte, zu Raffinierte, doch wie er jene schicksalhaften Minuten im Zug und auf dem Bahnsteig inszeniert, ist nicht nur erschütternd, beklemmend, sondern auch handwerklich beeindruckend. Zumal bei einem Budget von weniger als einer Millionen Dollar.

Auf der Rückfahrt von San Francisco wird Oscar im Rapid Transit von einem schwergewichtigen Exhäftling angegriffen, er versucht sich zu verteidigen. Eigentlich war die Auseinandersetzung längst vorbei, als die Polizei einschreitet, den 22-jährigen Afroamerikaner und seine Freunde aus dem Zug zerrt. Der Angreifer ist nicht dabei. Die aufgeheizte, fiebrig brodelnde Atmosphäre wirkt beängstigend. Die Gewalt der Polizisten erschreckend, man heult vor Zorn, ohnmächtiger Wut und unterdrückter Angst. Die auf dem Boden sitzenden jungen Afroamerikaner halten ihre Handys wie ein Schutzschild vor sich. Aus dem offenen Zug filmen die Fahrgäste, dieses Mal nicht aus Sensationslust sondern aus Verzweiflung, Hilflosigkeit. Hier wird die Kamera des Mobiltelefons die letzte Instanz der Gerechtigkeit. Ohne sie wäre der Täter wohl nie vor Gericht gestellt worden. So sahen Millionen die Aufnahmen im Internet. Oscar stammelt immer wieder wie eine magische Formel: „Ich habe eine Tochter... Ich habe eine Tochter....”
 
Die wirklichen Namen der Polizisten werden nie erwähnt, im Film heißen sie Officer Caruso (Kevin Durand) und Officer Ingram (Chad Michael Murry). Johannes Mehserle wurde wegen Mordes angeklagt, aber von der Jury nur wegen fahrlässiger Tötung für schuldig befunden. Er wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt und nach elf Monaten entlassen. Der Officer gab an, den Revolver mit seinem Elektrotaser verwechselt zu haben. Schauspieler und Regisseur Forest Whitaker („Der Last King of Scottland”, „The Butler”) produzierte den Film.
 

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Originaltitel: Fruitvale Station 
Regie/Drehbuch: Ryan Coogler
Darsteller: Michael B. Jordan, Melonie Diaz, Octavia Spencer, Ariana Neal , Anna O’Reilly, Kevin Durand, Chad Michael Murray 
Produktionsland: USA 2013 Länge: 85 Min.   
Verleih: DCM Filmverleih   
Kinostart: 1. Mai 2014
 
Fotos & Video: Copyright DCM Filmverleih