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Um den Klatsch sofort abzuhandeln: ja, die Regisseurin dieses Films, Sam Taylor-Wood, ist seit den Dreharbeiten mit Lennon-Darsteller Aaron Johnson verlobt.
Eigentlich nicht so ungeheuer erwähnenswert, doch in der Presse hoch gekocht, weil sie - um Himmels Willen!! -24 Jahre älter ist. Das beliebte Argument, die gegenteilige Paarung: Er viel älter, Sie viel jünger, sei sinnvoller, weil sich hier jedenfalls noch Nachwuchs erwarten ließe (bekanntlich der einzige Sinn und Zweck einer Mann/Frau-Beziehung), haben beide im Juli außer Kraft gesetzt, als die 43jährige Taylor-Wood vom inzwischen 20jährigen Johnson eine kleine Tochter bekam.
Ganz sicher nicht so angestrebt, verschaffen Regisseurin und Hauptdarsteller ihrem Film damit eine etwas schräge Promotion, die er nicht nötig hätte.

Der Themenschwerpunkt "Strawberry Fields" beim Filmfest Hamburg erinnert mit drei Dokumentationen und drei Spielfilmen an die Anfänge der Beatles vor 50 Jahren in der Hansestadt. Gezeigt wird jeweils mehr oder weniger der Werdegang der Liverpooler Legende.

Bei ‚Nowhere Boy’ handelt es sich um fünf Jahre im Leben von John Lennon, von seinem fünfzehnten bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr, von Schulproblemen bis zum zartesten Anfang der Karriere, in Begriff, nach Hamburg abzureisen.
Paul McCartney spielt immerhin eine Rolle und George Harrison taucht ebenfalls auf, wenn auch sehr am Rande.
Und wer in freudiger Erwartung auf viele Werke Der Beatles ins Kino stiefelt, sollte gleich wieder umdrehen und sich vielleicht lieber ‚Back Beat’ von Iain Softley, 1994, anschauen. (obwohl es in diesem Film noch so aussieht, als hätte Astrid Kirchherr die Pilzkopffrisur erfunden, was Jürgen Vollmer dann wieder den Magen umdreht.)
In ‚Nowhere Boy’ gibt es keine Beatles-Hits, weil es die Beatles selbst noch gar nicht gibt, allenfalls ihre rudimentären Vorläufer.
Vor allem wird - ziemlich gut - das Liverpooler Kleinbürgertum dargestellt, die Zeit der späten Fünfziger Jahre und, mehr als alles andere, die familiären Ursachen für Lennons lebenslange Grundverzweiflung, alles überwiegend in sehr großen Großaufnahmen: Kamera Seamus McGarvey.

Als ich Fotos des Films und den Trailer sah, war ich irritiert über die Tatsache, dass der Darsteller seinem Vorbild in keiner Weise ähnlich sieht. Aaron Johnson besitzt zwar, wie John Lennon, zwei Augen, eine Nase und einen Mund, doch das war’s auch schon. Seine Augen sind nicht schmal und dunkelbraun, sondern rund und blau, seine Nase ist nicht lang und nach unten gebogen, sondern eher kurz und nach oben strebend und sein Mund nicht schmal und eingekniffen sondern voll und aufgeworfen.
Bemerkenswerterweise ist diese Tatsache nach wenigen Minuten unerheblich; Johnson ist Lennon, egal, wie er aussieht. Sein Ausdruck, sein Gang, seine Mimik und, mehr als alles andere, seine Art zu reden überzeugen davon. Er murrt, er kaut seine Bemerkungen so rau, leicht brüchig, etwas eintönig und gelangweilt und in akkurat der Tonlage, in der man Johns Stimme aus Interviews kennt. (Es bleibt zu befürchten, dass dies in der Synchronisation kaum erhalten werden kann.)
Seine Singstimme übrigens entfernt sich wieder ziemlich weit davon.

Wir erleben also zunächst den etwa fünfzehnjährigen John, der von seiner Tante Mimi im netten Spießerhäuschen in der Menlove Avenue aufgezogen wird.
Noch gibt es erfreulicherweise auch deren Ehemann, Onkel George (David Threlfall), dessen zweiter Vorname ‚Toogood’ lautete und der wirklich ein Guter gewesen sein muss, warmherzig, humorvoll, zärtlich. Er bringt John in seinem Zimmer einen Radiolautsprecher an und kichert mit ihm, während Mimi im Erdgeschoss grämlich Kette raucht und Tschaikowski hört. Dann steht der Onkel auf, geht ein paar Schritte in den Flur und fällt um. Als seine Witwe einige Stunden später aus der Klinik nach Hause kommt und John sie weinend umarmen will, klopft sie ihm kurz auf die Schulter und empfiehlt ihm, jetzt nicht albern zu sein, sondern ins Bett zu gehen.
Kristin Scott Thomas spielt diese Tante, die ihre Liebe nur in Strenge ausdrücken konnte, mit ihrem herben Mund und den nachdenklichen, traurigen Augen so wunderbar, dass sie nicht einmal übertrieben unsympathisch wirkt.
Zur Beerdigung des Onkels erscheint kurz eine aparte Frau mit kastanienbraunen Locken auf dem Friedhof: Julia, Johns Mutter (Anne-Marie Duff).

Er findet heraus, dass sie gar nicht weit weg wohnt und obwohl er undeutlich weiß, dass er Grund hat, böse mit ihr zu sein, nimmt er doch den Kontakt mit ihr auf und ist bald über alle Maßen fasziniert von seiner verrückten, temperamentvollen Mutter. Sie bringt ihn mit ihrer Art von Musik in Berührung – keineswegs Tschaikowski – sie tanzt ausgelassen mit ihm und erklärt, was das eigentlich ist, Rock’n’ Roll: Sex! Sie verklickert ihm die Grundbegriffe des Banjospielens und sie flirtet mit ihm. Nicht immer zu seinem Behagen ist diese Beziehung ohne Zweifel irgendwie erotisch, vielleicht, weil Julia Lennon zu keinem männlichen Wesen eine andere Art von Beziehung haben konnte.

Julia ist vollkommen anders als Mimi. (Das dürfte ja auch der Hauptgrund gewesen sein, warum Mimi sich so bemühte, dem Sprössling ihrer wilden kleinen Schwester auf Biegen und Brechen Disziplin und bürgerliche Tugenden einzupauken.)
Bald lungert John mehr in Julias Haus herum als in der Menlove Avenue. Julia wohnt übrigens keineswegs allein, sie führt eine Art Ehe mit einem schweigsamen Menschen namens Bobby (David Morrissey) mit dem sie zwei kleine Töchter hat.
Bobby ist nur mäßig erfreut über Johns Anwesenheit in seinem Haus, Mimi absolut erbost über den neuen Zustand.
John steht in den nächsten Jahren zwischen der strengen, humorlosen, jeden Spaß als böse beargwöhnenden Mimi und der frivolen, sinnlichen, unzuverlässigen Julia wie zwischen einer Ehefrau und einer Geliebten.
Dass ihn beide lieben steht außer Frage. Und auch er hat beide, auf unterschiedliche Art, lieb. Trotzdem spielt er sie gegeneinander aus: als er sich mit Julia verkracht hat, stürzt er ‚nach Hause’, um Mimi mitzuteilen, er werde eine Band gründen. Voller Glück über seine vermeintlich endgültige Wiederkehr kauft seine Tante ihm eine Gitarre. Die verramscht sie allerdings zur Strafe wieder, als seine Schulleistungen sie entsetzen. Und John zeigt ihr kurze Zeit später triumphierend, dass Julia ihm das Instrument zurück gekauft hat…

Die Musik und sein ‚kleiner Freund’ Paul (überaus glaubwürdig dargestellt von Thomas ‚Brodie’ Sangster) geben John ein wenig Halt in diesem Gefühlswirrwarr. Zwar fühlt sich dieser höfliche und ausgeglichene Teenager – „Ich bin fünfzehn – seit einem Monat…“ – bedeutend wohler in seiner Haut und auf der Welt, weil er einen liebevollen Vater hat, der immer für ihn da ist. Aber Pauls Mutter ließ ihn gewissermaßen auch im Stich, sie starb vor einem Jahr.
Was John veranlasst, Julia anzuschnauzen: „Seine Mutter hatte Krebs – was ist deine Entschuldigung?!“
Denn immer noch ist für ihn ungeklärt, wieso eigentlich seine lebendige, gesunde Mutter eine andere Familie hat und ihn in seiner frühen Kindheit bei Mimi und George abstellte. Und wo, zum Teufel, ist sein ebenfalls noch lebendiger und immer noch mit Julia verheirateter Vater? Und wieso beschuldigen sich Mimi und Julia gegenseitig, John ‚gestohlen’ zu haben?
In einem verbalen Showdown klären die Schwestern in Johns Gegenwart, wie das damals war, als er, fünf Jahre alt, von seinen Eltern vor die Entscheidung gestellt wurde, bei wem von beiden er ein für alle Mal bleiben wollte… Worauf er sich zuerst für den Vater entschied und dann, laut weinend, der Mutter hinterher lief. Die ihn jedoch gleich darauf Mimi überließ.
Trotz allem wirkt dieses Gespräch letztendlich klärend und bereinigend. Es sieht für einen Moment so aus, als könnten alle sich miteinander einigen, sich entspannen und eine liebevolle Beziehung finden. Praktisch genau in diesem Augenblick stirbt Julia bei einem Verkehrsunfall.

"Mother, you had me, but I never had you, Father, you left me, but I never left you, Mama, don't go, Daddy come home!“ klagt John Lennons Stimme über dem Abspann. Vielleicht fühlte sein Vater Alfred Lennon sich ebenfalls von seinen Eltern im Stich gelassen, denn er kam im Alter von fünf Jahren in ein Waisenhaus.
Auf jeden Fall war Johns kleiner Sohn Julian genau fünf, als sein Vater verschwand. Manchmal ist so etwas zwanghaft.

Der Grund für Johns damaliges Verschwinden, der Mensch, der den Film durch das Ermöglichen von Dreharbeiten an Originalschauplätzen unterstützt hat, stand bei der New Yorker Premiere auch auf der Bühne, schwarz gekleidet, mit Hut: Yoko Ono.
Es heißt, sie sei mit ‚Nowhere Boy’ sehr zufrieden.
Vielleicht erklärt es sich daher, dass John Lennons Jugendliebe und erste Frau, Cynthia, in diesem Film so ganz und gar nicht statt findet. Sie ist weder das namenlose ‚Teddy Girl’, eine Art Ur-Groupie (Ellie Jeffreys), mit der John in einem Park spätpupertäre sexuelle Handgreiflichkeiten tauscht, ohne groß mit ihr zu reden, noch die kulleräugige Blondine, die mit ihm aus der Toilette kommt. Es gibt sie überhaupt nicht. Dabei war sie eine sehr wichtige Bezugsperson für John in dieser Zeit.
Mir kommt es so vor, als hätte Ono ihr Geld und ihren Einfluss diesbezüglich genutzt. Was unwillkürlich an die Gewohnheit mancher Pharaonen erinnert, die Namen verhasster Vorgänger aus allen Monumenten meißeln und aus der Geschichte tilgen zu lassen, als hätten sie nie existiert.
So was zeugt nicht unbedingt von Größe. Aber Yoko ist ja auch eher zierlich.


Nowhere Boy, UK, 2009, 98 Min.
R: Sam Taylor-Wood
Mit: With: Aaron Johnson, Anne-Marie Duff, David Morrissey, David Threlfall, Kristin Scott Thomas, Thomas Sangster
Ab Dezember in den Kinos
Foto: © Central Film Verleih GmbH