Film
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Edward Norton inszeniert „Motherless Brooklyn” als schwermütig poetischen Neo-Noir von trotziger Eindringlichkeit. Er verlegte die Handlung des gleichnamigen viel gerühmten Romans von Jonathan Lethem aus den Neunzigern zurück in das New York der Fünfziger Jahre: Ein schwer dechiffrierbares Puzzle aus Machtgier, Rassismus und Leidenschaft, es ist die Geburtsstunde der Gentrifizierung.
Der Regisseur spielt auch die Hauptrolle: Lionel Essrog, einen Detektiv mit Tourette-Syndrom. Dessen Stimme aus dem Off zwingt uns, Zorn, Erniedrigung, Schmach und Einsamkeit mit ihm zu teilen. So verletzlich und verwirrt er scheinen mag, Lionel ist ein Protagonist in der Tradition von Chandler und Hammett, entschlossen den Mörder seines Mentors und einzigen Freundes aufzuspüren.


„Passt auf. Mit mir stimmt was nicht, das ist das Erste, was man wissen muss. Ich zucke und schreie viel, dadurch sehe ich aus wie ein verdammter Freak”, erklärt uns Lionel gleich zu Anfang des Films. Es sei, als würde „ein Anarchist” in seinem Gehirn hausen. Immer wieder versucht er diesen Mechanismus, der ihn, den Hochintelligenten, vor Anderen zum lächerlichen Spinner degradiert, so treffend wie möglich zu definieren. Als könnte die Benennung der Symptome ihn befreien davon, aber grade die permanente Selbstanalyse verstärkt den Zwang. Sinnlose Worte und Laute dringen aus seinem Mund, formieren sich zu seltsamen Reimen oder Kalauern. Unser Titelheld kann nicht aufhören an Fäden zu ziehen, Sachen zu verdrehen, vor allem Wörter und Geräusche. „Ich muss so lange mit ihnen spielen, bis sie sich richtig anhören.” Doch dann begann er für Frank zu arbeiten. Frank Minna (wundervoll Bruce Willis), der Privatdetektiv, brachte dem Jungen aus dem Waisenhaus bei, seinen Kopf zu benutzen, ihn zu seiner Stärke zu machen. Lionel verfügt über ein fotographisches Gedächtnis und außerordentliche Beobachtungsgabe, ihm entgeht kein Wort, er lässt nie ab von einer Spur. Doch nun ist Frank tot. Erschossen in einem engen Hinterhof. Vor unseren Augen. Der Täter, nur ein verschwommener Umriss, entkommt unerkannt.

 

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Lionel und sein Kollege sollten draußen auf der Straße warten, notfalls Rückendeckung geben. Worum es bei dem Observierungsauftrag ging, ihr Boss hatte darüber geschwiegen. Ganz sauber waren seine Geschäfte manchmal nicht, offensichtlich ist er den falschen Leuten in die Quere gekommen. Blutüberströmt flüstert er etwas von einem farbigen Mädchen und das Wort „Formosa”. Für Lionel war Frank nicht nur Art Vaterersatz und einzige Bezugsperson, sondern der Mensch, der ihm „in dieser Scheißwelt” einen Platz gab, bis dahin schien er unsichtbar. Ein Moment genügt und das verschwörerisch liebevolle Grinsen von Bruce Willis, um die tiefe Freundschaft zu begreifen zwischen diesen beiden Männern, die gegensätzlicher kaum sein könnten. „Brooklyn”, der Name haftet Lionel noch aus dem Waisenhaus an, wenn der breitschultrige Mentor ihn so nennt, klingt es aber wie eine Auszeichnung, fast zärtlich. Die Kollegen rufen ihn „Freakshow”, gehässig meinen sie es nicht unbedingt, in den Fünfzigern ist political correctness keine Selbstverständlichkeit. An der Aufklärung des Falls scheint selbst die Freundin des Toten nicht interessiert, sie würde aus der Detektei gern wieder einen Limousinen-Service machen. Also ist unser Held auf sich allein gestellt.

Ein Streichholzheftchen führt nach Harlem, zu einem Jazz Club, er gehört dem Vater einer jungen farbigen Frau. Laura Rose (Gugu Mbatha-Raw) ist Anwältin und kämpft gegen die Vertreibung der ärmeren New Yorker aus ihren Vierteln. Bald schon wird klar, dass der Mord in Zusammenhang mit den korrupten Strukturen der Stadtplanung steht. Schlüsselfigur ist Moses Randolph, Alec Baldwin spielt den machtgierigen High Society Schurken, geschickt ohne Übertreibung als selbstgefälligen Autokraten mit einer Vorliebe für philosophische Duelle und Verachtung für die Unterschicht. Er ähnelt jenem legendär berüchtigten Robert Moses (1888-1981), der als Stadtentwickler das Gesicht New Yorks prägte. Er verstand sich darauf, Finanzmittel und Fördergelder zu ergattern, saß in den entscheidenden Ausschüssen. Hunderte Kilometer von Straßen, Brücken und Highways entstanden,150.000 Wohneinheiten, das Lincoln Centre und UN Hauptquartier. Moses ließ Parks anlegen, Spielplätze, Schwimmbäder. Hinter den Kulissen war er der uneingeschränkte Herrscher, bestimmte die Infrastruktur und konnte sich ungestraft bereichern. Wenn es um die Verwirklichung seiner Ziele ging, kannte er keine Skrupel. Eine halbe Millionen Menschen mit niedrigem Einkommen verloren ihre Wohnungen, wurden zwangsgeräumt (slum clearance). Bulldozer walzten ganze Stadtviertel nieder. Die Vision einer elitären Metropole verschärfte aufs Grausamste Armut und Klassenunterschiede.

Moses befahl den Ingenieuren, die Brücken über den Southern State Parkway auf Long Island so niedrig zu bauen, dass Busse nicht zu den Stränden und Erholungsgebieten gelangen konnten. Wer also weniger Geld besaß und auf öffentliche Verkehrmittel angewiesen war, blieb dieser Teil der Welt verwehrt. Der master builder, wie man ihn nannte, veranlasste 1963 auch den Abriss der Penn Station, prachtvolles Wahrzeichen der Stadt. Norton: „Die Fünfziger gelten als die Blütezeit der amerikanischen Demokratie, doch der institutionalisierte Rassismus wurde hier zementiert.” Lionel weiß um Armut und Bedrängnis, doch konfrontiert von Angesicht zu Angesicht mit dem Ausmaß systematischer Korruption, macht ihn fassungslos. Er gibt sich bei seinen Nachforschungen als Journalist aus, die Tics sind zuweilen auch eine praktische Tarnung. Ob auf der Versammlung im Rathaus oder im exklusiven Saunaklub, der schmächtige Mann in dem schweren Wintermantel, der einst Frank Minna gehörte, erregt anfangs nirgendwo Misstrauen. Und wer ist nicht scharf auf eine gute Story über sich. Lionel Essrog ist kein Don Quichotte, der gegen Windmühlenräder kämpft, er ist sich bewusst, das System kann nicht ein Einzelner hier und jetzt aushebeln, aber er will seinen Mentor rächen um jeden Preis. Noch immer ist er das traurige einsame Waisenkind, selbst seine Katze erschrickt sich vor ihm. Und doch diese Ermittlung verändert ihn, unser melancholischer Held beginnt die eigene Exzentrik zu akzeptieren, entdeckt sich selbst, er weiß, um seine Qualitäten als Detektiv, aber nun erwacht auch der Wunsch nach Nähe, er will helfen, beschützen.

Nach der Veröffentlichung 1999 sicherte sich Schauspieler Edward Norton („American History X“, „Zwielicht“) sofort die Rechte an Lethams Roman. Der Schriftsteller („The Fortress of Solitude“) war begeistert von der Idee, die epische Crime-Story in die Fünfziger Jahre vorzuziehen. Er liebt Neo-Noirs und seine leicht surrealen Figuren sprechen, agieren wie außerhalb ihrer Zeit, passen sich jener Ära besser an. 1957, das Jahr, in dem „Motherless Brooklyn” spielt, war der Noir von seinem B-Movie Status längst aufgestiegen zur ikonischen Kunstform Hollywoods, geschätzt und imitiert rund um den Globus. Das ästhetische Fundament: Dunkle regennass glänzende Straßen, grüblerische Rebellen und Sonderlingen, die ihr geheimnisvolles Doppelspiel trieben in kontraststarken urbanen Schattenlandschaften. Entstanden aus den Trümmern der Nachkriegszeit, dem Ende der Unschuld, waren die stoischen innerlich gebrochenen Helden des Noirs, in denen sich jene unverwechselbare Mischung aus Melancholie, Schuld und Zorn spiegelte. Es ist aber auch die Ära des Umbruchs, wo sich die Geschlechter Rollen ändern und Rassismus als solcher nicht mehr kampflos akzeptiert wird. Das Genre registriert die wachsende Angst und Unsicherheit, wenn der Außenseiter par excellence die Verlogenheit einer Gesellschaft entlarvt, welche auf Verbrechen aufgebaut ist. Norton vermischt Noirs der verschiedenen Jahrzehnte, das düstre Chiraoscuro der Vierziger und Fünfziger und die späteren schillernden Neo-Noirs, oft bildgewaltige Allegorien wie „Feuerwerk am helllichten Tag“ von dem chinesischen Regisseur Diao Yinan.

Was ausgespart wird in „Motherless Brooklyn” ist die obligatorische Femme Fatale. Laura Rose ist genau das Gegenteil davon. Die mysteriöse Schöne, die über dem Jazz Club wohnt, ist mehr politische Aktivistin als betörende Verführerin. Sie fühlt sich verfolgt, aber von wem? Anfangs sieht die junge Frau in dem Protagonisten nur einen skurrilen selbstironischen Reporter, der ihr im Kampf gegen die Diskriminierung der Schwarzen nützlich sein kann. Doch Einsamkeit verbindet. Die Annäherung erfolgt behutsam. Laura und Lionel sind ein seltsames Paar. Keiner von beiden passt in die Welt des Anderen, aber sie sind wie für einander geschaffen. Für uns ist es einfacher den ungewöhnlichen Detektiv zu verstehen als für die Menschen, denen er begegnet. Wenn Lionel die vierte Wand durchbricht, sich als Erzähler aus dem Off an uns wendet, geht es um seine Erinnerungen, Schuldgefühle, Obsessionen: „Es ist als, wäre Glas in meinem Gehirn”, die Tics selbst aber manifestieren sich nur bei den Leinwand-Auftritten. Und auch da nicht zu aufdringlich. Nortons Stärke sind eigenwillige, in sich gebrochene Charaktere wie Aaron Stampler in „Primal Fear”, der Schauspieler drehte mit Regisseuren wie Wes Anderson, Spike Lee, Ridley Scott und Alejandro Iñárritu zusammen. Ihm gelingt in dem Neo-Noir das diffizile Spannungsfeld von Emotion und Selbstreflexion. Dies ist kein „Forrest Gump” oder „Rain Main”, hier fehlt jene Sentimentalität, es gibt keine mit amüsanter Lebensphilosophie gefüllten Pralinenkästen. Als „Sprachkunstwerk eines Sprachgestörten” priesen die Feuilletonisten damals den Roman. Eigentlich unverfilmbar. Norton fand einen Weg, arbeitete zehn Jahre an dem Drehbuch.

Wundervoll die Bilder von Kameramann Dick Pope („The Illusionist”, „Mr. Turner”): Auf Hochglanz polierte Straßenkreuzer funkeln, alles ist leicht überhöht, die Mean Streets zum ersten Mal nicht verdreckt aber um so gefährlicher. In diesem Neo-Noir geht es auch um ästhetische Scheinwelten als Demonstration von Macht. Lionel entdeckt immer neue Abgründe. Seine Suche nach Gerechtigkeit wird zur epischen Odyssee. Chaos in seinem Kopf, Chaos um ihn herum. Er trifft auf den in Ungnade gefallenen Bruder und erbitterten Gegner des Stadtplaners Randolph (William Dafoe). Ein bärtiger Mann in schäbigen Klamotten, verschlossen, enttäuscht. Jeden einzelnen Charakter müssen wir dechiffrieren, Herkunft, Gefühle, niemand ist das, was er auf den ersten Blick scheint. Der Whistleblower ist innerlich zerrissen, hofft insgeheim noch auf eine Versöhnung mit dem Bruder. Die Grenzen zwischen Gut und Böse sind fließend. „Motherless Brooklyn” steckt voller verschlungener Rätsel, irreführender Spuren, ist genüsslich überfrachtet mit unvorhersehbarem Twists und mittendrin unser rastloser oft ratloser Held. Das Ostküsten-Pendant zu Polanskis „Chinatown?” Das vielleicht nicht, aber vielschichtiger, ambitionierter, ein magischer, ästhetisch virtuoser Film von berührender Weltsicht, grade in diesem Moment während der Corona Krise, wo Begriffe wie Nähe und Distanz eine ungewohnte und befremdende Bedeutung erlangten. Lionel verkörpert das Paradox menschlichen Daseins, er ist eine Kunstfigur, aber zugleich auch Projektionsfläche unserer Ängste, des Nicht-Verstanden-Werdens als stärkste Form der Einsamkeit. Unser Bemühen um Sensibilität, wie oft misslingt es.

Jazz ist hier mehr als ein Soundtrack, er bestimmt die Atmosphäre, ist Thema, Lebensgefühl, Orientierung, Zuflucht. Norton sagt: „Wenn es eine musikalische Ausdrucksform gibt für die improvisierte, wilde, herrliche Sprache, die durch das Tourette-Syndrom entsteht, dann ist es Jazz, insbesondere der Hard Bop. Lionel wird befreit durch diese Musik, die wie sein Gehirn, anarchistisch und chaotisch ist, aber auch von unglaublicher Schönheit.” Thom Yorke, der britische Sänger der Rockgruppe Radiohead und Flea, Bassist der amerikanischen Rockband Red Hot Chili Peppers schrieben den Song „Daily Battles”, ein Poem voller Sehnsucht, Hoffnungslosigkeit, das Dunkel und Dissonanz einfängt, die Ohnmacht des Einzelnen. Der Song steht für Lionel, ist die Stimme, die er vermisst, die sein Innerstes widerspiegelt, eine Ballade, melancholisch, fragil, zerbrechlich wie der Protagonist selbst.

Erklärter Gegner von Robert Moses war übrigens James Rouse, Stadtplaner und Großvater von Edward Norton. Er vertrat die Auffassung, dass Wohnanlagen nach humanistischen Prinzipien entstehen sollten und nicht nach rein ökonomischen Gesichtspunkten. Rouse gründete Mitte der Sechziger Columbia Maryland, eine Community als Model seiner Theorien von Stadtentwicklung. Er prophezeite den urbanen Verfall, setzte sich ein für die kreative Nutzung baufälliger, ehemaliger Industrieanlagen. James Rouse starb 1996, der Enkel ist weiterhin engagiert beim Kampf um Wohnraum zu erschwinglichen Mieten.

 

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„Motherless Brooklyn”

Regie + Drehbuch: Edward Norton, nach dem Roman von Jonathan Lethem
Darsteller: Edward Norton, Alec Baldwin, Willem Dafoe, Gugu Mbatha-Raw, Bobby Cannavale, Bruce Willis
Produktionsland: USA, 2019
Länge: 144 Minuten
Kinostart: 12. Dezember 2019, als Download erhältlich und ab ab 28. Mai auf Blu-ray und DVD
Verleih: Warner Bros. Pictures

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Warner Bros. Pictures

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