Film
Ein leichtes Mädchen

„Ich pfeif auf die Liebe", erklärt die 22jährige Sofia (Zahia Dehar) und stilisiert sich aus Überzeugung zum Objekt der Begierde. Für den Puritanismus der angelsächsischen #MeToo Bewegung verspürt Regisseurin Rebecca Zlotowsk wenig Sympathie, Selbstverwirklichung funktioniert bei ihr anders. Die Französin inszeniert die hinreißende Coming-of-Age-Fabel als unmoralische Sommerromanze: poetisch, sinnlich, und doch fest in der Realität verankert.
„Ein leichtes Mädchen” hat etwas Verführerisches, Flirrendes, steckt voller Verlockungen, auch wenn der Film von Macht, Ausbeutung und Abhängigkeiten erzählt. Was bleibt, ist die Sehnsucht nach Freiheit, die gesellschaftlichen Schranken zu durchbrechen oder zumindest für einen Moment zu unterlaufen. In wundervollen sonnendurchfluteten Bildern entsteht ein fein gesponnenes Netz aus Blicken, Berührungen und sanfter Ironie.

Die Schule ist vorbei, das ganze Leben liegt noch vor ihr. Doch was Naïma (exzellent Mina Farid) damit anfangen soll, weiß sie noch nicht so recht. Die 16jährige wohnt in einer eher schäbigen Neubausiedlung, es ist die Schattenseite von Cannes, vom internationalen Glamour, und doch, auch hier spürt man jene erfrischende Brise des Meeres. Die Mutter arbeitet als Zimmermädchen in einem der großen prächtigen Hotels, drängt, dass sich die Tochter um Ausbildungsplatz oder Job bemüht. Überraschend taucht an Naïmas Geburtstag ihre ältere Cousine Sofia aus Paris auf. Eine selbstbewusste junge Frau, weltgewandt, lasziv. Mit ihrem makellosen Körper genießt sie die Aufmerksamkeit älterer Männer und lässt sich für ihre Schönheit und Fähigkeiten reich belohnen. Kein Escort-Mädel im herkömmlichen Sinn, es hat sich eine neue von Art vermarktbarer Erotik entwickelt, durchaus kultiviert, nicht ohne Emotionen, aber unsentimental. Sofias Lächeln verspricht Diskretion.

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Die eigentlich besonnene, bodenständige 16jährige bewundert ihre Cousine, verkennt aber nicht hinter der perfekten Fassade die verborgene Verletzbarkeit. Vor kurzem ist Sofias Mutter gestorben und der Verlust geht ihr näher, als sie zugibt. In diesen Tagen werden die beiden unzertrennliche Freundinnen, fast Verbündete. Beide sind entschlossen glücklich zu sein. Wenn sie zu zweit losziehen, hat es etwas völlig Unbekümmertes, Natürliches, irgendwo sind sie auch noch Kids, die einfach etwas erleben wollen im Sommer, denn dafür sind Ferien doch da. Der Blick auf die Felsküste, das türkisblaue Meer, einen kleinen versteckten Strand genügt, und schon hat der Film uns gepackt wie einst Rohmers „Pauline à la plage” (1984). Die Mädchen gehen schwimmen, liegen träge in der Sonne, wehren die plumpen Flirtversuche gleichaltriger Jungen ab. Was Sofia wirklich interessiert, wird deutlich, als sie vom Strand aus eine Luxusyacht ins Auge fasst, die vor der Küste kreuzt. Dass die beiden Männer an Bord ihrerseits in Richtung Strand und Sofia starren, entgeht dem Zuschauer nicht. „Sie gehöre zu den Frauen, die nicht darauf warten, dass etwas passiert, sondern die Dinge selbst in die Hand nehmen”, lässt sie Naïma wissen.

Und so ist es kein Zufall, wenn die beiden am selben Abend durch den Hafen von Cannes bummeln, wo die Yachten der Reichen und Schönen direkt an der Promenade liegen, mit den Hinterdecks zum Kai, wo jene weniger Betuchten der High Society beim Essen oder Sonnenbaden zuschauen dürfen. Sofia entdeckt die beiden Männer, die sie nachmittags an Bord der „Winning Streak” ins Visier genommen hatten, und winkt ihnen zu. Andres, ein brasilianischer Multimillionär, und seine rechte Hand Philippe (Benoit Magimel), ein Franzose, der sich selbst als dessen Sklave bezeichnet und dem Luxusleben wenig abzugewinnen scheint. „Was hast Du nur davon, dass die Leute dir zusehen, ist doch ein bisschen wie im Zoo”, will er von Andres wissen. „Warum denn nicht,” lautet dessen Antwort. „Es macht ihnen Spaß- und mir auch ein bisschen.” Später treffen sich alle in einem Nachtclub wieder. Auf der Yacht wird weitergefeiert. Der Champagner fließt in Strömen, Sofia steigt nackt in den Whirlpool. Mit großen Augen verfolgt Naïma die Selbstverständlichkeit, mit der sich ihre Cousine in dieser ihr so fremden Umgebung bewegt. Am nächsten Morgen hat Sofia zwar nicht das Geld, um ihr Frühstückscroissant im Strandcafé zu bezahlen, aber dann schleppt sie die 16jährige in eine Edelboutique mit, kauft für sich ein Armband und für Naïma eine höllisch teure Uhr. „Geht aufs Konto von Monsieur Andres Montero”, sagt Sofia der Verkäuferin, als wäre es das Normalste der Welt.

Rebecca Zlotowski („Grand Central”, „Belle Épine”) ist eine grandiose Beobachterin, wenn sie Machtstrukturen und zwischenmenschlichen Abhängigkeiten seziert. Auch unter den Männern herrschen klare Abgrenzungen, allein die kapitalistische Wertordnung entscheidet letztendlich über Anerkennung und Respekt. Sofia unterläuft das gesellschaftliche Klassensystem geschickt. Die 39jährige Regisseurin zeigt ihre Protagonistin voller Witz, mutig, unabhängig, sinnlich. Natürlich ist die Freiheit von Sofia auch eine Illusion, das weiß Naïmas Mutter nur zu gut: „Für die Freiheit muss man hart arbeiten”. Doch eins ist unsere Mini-Bardot nicht: Opfer, die sogenannte freie Liebe der Sechziger Jahre hat sich den ökonomischen Bedingungen angepasst, darin liegt die eigentliche Ironie oder Tragik. Das Doppelporträt lässt nie den algerischen Migrationshintergrund der beiden Heldinnen außer Acht, prangert an, wie hart geschuftet wird, um das schillernde Sehnsuchtsziel Cannes in seinem Glanz erstrahlen zu lassen. Die Kamera ist immer auch ein Blick hinter die Kulisse. Sie zeigt die Verachtung, die Eifersucht der jungen Crew-Mitglieder auf der Yacht für die Begleiterin ihres Bosses. Und wenn Sofia der Cousine die Geheimnisse des Schminkens verrät, profitieren wir von ihrem Knowhow. Gespannt beobachtet der Zuschauer, wie sich bei dem Besuch einer phantastischen Villa mit Park, die Hausherrin über Sofia mokiert, weil die ihren Körper schon heute chirurgisch aufpeppt. Die 22jährige weiß sich zu wehren, provoziert, schlägt gekonnt zurück. Nach ihren Lieblingsautoren gefragt, antwortet sie Marguerite Duras. Die überhebliche Kunstsammlerin insistiert, will sie blamieren mit literarischer Unkenntnis, aber Zlotoski lässt ihre Mädel nicht in Stich.

Die Exemplare des männlichen Geschlechts, auf die Sofia trifft, sind durchaus attraktiv. Verlieben ist natürlich out of question, dieses Privileg bleibt den Damen aus der Oberschicht vorbehalten. Teuerster Schmuck, Marken-Handtaschen und phantastische Kleider, die Attribute der High Society, sollen die Mädchen dafür entschädigen, dass sie nie länger im gesellschaftlichen VIP-Bereich verweilen dürfen oder gar Teil davon werden. Die Regisseurin spielt Klischees und Vorurteile, geschickt gegeneinander aus. Berührend, wenn Naïma versucht, es Sofia gleichzutun, aber Philippe sich strikt verweigert, abgesehen vom Alter, weiß er, dieses Mädchen ist keine Abenteurerin, nicht für derlei Affären geschaffen. Auch wenn die Kleine in diesem Moment enttäuscht ist, wir sehen sie am Ende des Films in einer Hotelküche glücklich vor sich hin werkeln. Das Drehbuch schrieb Zlotoski zusammen mit Teddy Lussi-Modeste und Zahia Dehar. Dehar kam mit 10 Jahren aus Algerien nach Frankreich, war nie interessiert an Jungen ihres Alters, mit 17 hoch bezahltes Escort und in einen Sexskandal mit dem Nationalspieler Franck Ribéry verwickelt. Plötzlich landete sie in den Schlagzeilen, es war unendlich demütigend an den Pranger gestellt zu werden, aber sie hielt durch, hatte Erfolg als Model, wurde Designerin und Muse von Karl Lagerfeld.

Nicht die Affäre Weinstein war der auslösende Faktor für das Thema des Films, sondern ein Artikel, den Rebecca Zlotowski vor Jahren aus einer Zeitschrift ausgeschnitten hatte. Er erzählte in Ich-Form den Sommer, den zwei junge Frauen an der Côte d’Azur erlebten. „Sie berichteten,” so die Regisseurin, „von den verheirateten Männern, die sie kennenlernten, von dem Tauschhandel, der sich in Folge entwickelte: Geschenke, Einladungen, Abendessen gegen die einvernehmliche Präsenz der jungen Frauen, ihrer Körper, ihrer Nächte voller Partys und Sex. Aber der Artikel überraschte mich, denn obwohl ich das Ganze beinahe gegen meinen Willen unter moralischen Gesichtspunkten sehen wollte, beschrieb die junge Frau einen zauberhaften Sommer, der sich angefühlt habe wie eine einzige Streicheleinheit, sehr zivilisiert und romantisch, und das, obwohl die Beziehungen zu diesen Männern ja durchaus verlogen und heuchlerisch waren. Der Artikel berührte mich damals sehr, weil er so kraftvoll und sanft zugleich war.”

Was die Filmemacherin an Zahia Dehar faszinierte, war die Art, wie sie ihre Weiblichkeit betont, „und zwar auf sehr übertriebene, klischeehafte Art -Unterwürfigkeit, Schweigsamkeit, Künstlichkeit, wie eine Geisha. Sie trägt in jeder Hinsicht zu dick auf, ist sich dessen aber sehr wohl bewusst. Das war der Stand der Dinge, als sie sich via Instagram bei mir meldete. Ich war total überrascht, dass sie überhaupt meinen Namen kannte. Ich schaute mir ihre Videos an und staunte nicht schlecht, als ich ihre Stimme hörte. (Wie viele Frauen sind heutzutage in der Öffentlichkeit omnipräsent, von denen wir noch nie die Stimme gehört haben?) Ich entdeckte, dass sie sich außergewöhnlich elegant ausdrückte, fast schon literarisch und anachronistisch, sie benutzte keinen Slang, wirkte zurückhaltend, ja reserviert. Sie hatte den fast unmerklichen Akzent einer libanesischen, syrischen oder italienischen Bardot, jedenfalls war er für mich überhaupt nicht einzuordnen, im Gegensatz zu all diesen jungen Frauen, die sich zum Reality-TV hingezogen fühlten. Zahia sprach wie eine Figur aus einem Éric-Rohmer-Film und das nahm sie für mich ein.

Ich musste sofort an „Die Sammlerin” denken, einen meiner Lieblingsfilme von Rohmer – für mich ist es sein sinnlichstes, erotischstes, ja, ein verstörendes Werk. Dieser wahnsinnig schnell gedrehte Film kam 1967 in die Kinos und beschäftigte sich auf brillante Weise mit der sexuellen Befreiung. In einer Szene sagt Daniel Pommereulle zu Haydee Politof: „Du stehst auf der untersten Stufe der menschlichen Leiter”, und das entspricht exakt dem, was die Öffentlichkeit lange Zeit von Zahia Dehar dachte, vermutlich sogar heute noch. Für mein Projekt ergab sich daraus die Frage: Wie sähe „Die Sammlerin” aus, wenn man 2019 drehte? Wie würde diese moralische Erzählung ausfallen, wenn man sie auf die gleiche Weise erzählt, also mit den Werkzeugen des Kinos und der Literatur, sanft, lustvoll, sinnlich?“ Aber die Regisseurin wollte kein Remake drehen, „weder originalgetreu noch eigenständig, mir schwebte eine Art Dialog zwischen „Ein leichtes Mädchen” und Rohmers Film vor- und dabei sollte ein ganz und gar zeitgenössisches Werk entstehen, leicht, schnell, lebendig.” Hier geht es eher um Abenteuer als um die Liebe. Nicht um Gefühle, sondern um Empfindungen. Zlotowskis Ansicht nach ist es sehr zeitgemäß, Sofia NICHT als gerissene junge Frau zu zeigen, die auf Grund ihrer gefühlsmäßigen Unreife nach Liebe giert, weil tief im Inneren Verletzungen mit sich herumträgt, was sie ja wiederum zu einem Opfer machen würde.

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Originaltitel: Une fille facile

Regie: Rebecca Zlotowski
Drehbuch: Rebecca Zlotowski, Zahia Dehar, Teddy Lussi-Modeste
Darsteller: Zahia Dehar, Mina Farid, Benoit Magimel,
Länge: 92 Minuten
Produktionsland: Frankreich 2019
Kinostart: 12. September 2019
Verleih: Alamode/Wild Bunch

Fotos, Pressematerial & Trailer: Copyright Julian TORRES Les Films Velvet / WILD BUNCH GERMANY

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